Die kapitalistische Produktionsweise hat sich – wieder einmal – als außerordentlich anpassungsfähig erwiesen. Dies zeigt sich aktuell vor allem an den Verschiebungen der Wachstumspole des Weltkapitalismus in einem Milieu insgesamt rasch expandierender Produktion und am Auftreten neuer kapitalistischer Konkurrenten.[1] Die Mächte der ‚Triade’ (USA/EU/Japan) sind nicht länger unter sich.
Strukturwandel und Prosperität
Die Weltwirtschaft befindet sich im Aufschwung. Derzeit wächst die Produktion von Gütern und Dienstleistungen weltweit um rund fünf Prozent jährlich, was sowohl konjunkturellen – die entwickelten Länder befinden sich in der expansiven Phase des Konjunkturzyklus – als auch strukturellen Faktoren – dem Aufstieg Asiens – zu verdanken ist. Sieht man von konjunkturellen Momenten ab, so bleibt festzuhalten, dass das überzyklische Wachstumstempo global selbst die außerordentliche Wachstumsdynamik der 50er und 60er Jahre eingeholt und möglicherweise übertroffen hat.
Tabelle 1 zeigt den relativen Rückfall der sieben großen kapitalistischen Industrieländer, die – gemessen zu Kaufkraftparitäten – noch 1980 gut 55 Prozent der Weltproduktion bestritten hatten. Ihr Anteil ist auf weniger als 40 Prozent gesunken, obwohl auch die G7-Staaten beachtliche wirtschaftliche Wachstumsraten verzeichnen. Die Wachstumsdynamik aber ging und geht von Asien aus, wobei China im Mittelpunkt steht: Das Land ist, gemessen zu Kaufkraftparitäten, schon heute die größte nationale Ökonomie hinter den USA (19,3 Prozent). Es ist absehbar, wann China die USA gemessen am Umfang der Güterproduktion überholt haben wird. Misst man die Weltproduktion allerdings, wie meist üblich, zu laufenden Dollarpreisen und Wechselkursen, dann ist die Verschiebung weniger deutlich. Gemessen zu laufenden Dollarpreisen ist China erst dabei, Deutschland als drittgrößte Wirtschaftsmacht zu überholen. Die vielfach beklagte Unterbewertung der chinesischen Währung führt in der Statistik zu einer entsprechenden Unterbewertung des Inlandsprodukts. Will man aber die Wirtschaftskraft vergleichen, ist die Bewertung zu in Kaufkraftparitäten gemessenen Preisen und Wechselkursen sinnvoller, auch wenn die Berechnung dieser fiktiven Größe mit Problemen verbunden ist.
Wachstum des BIP in Prozent,
Jahresdurchschnitte*
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Quelle: Internationaler Währungsfonds, Datenbasis des World Economic Outlook, April 2007
Die leichte überzyklische Abschwächung des Wachstumstempos in den entwickelten Industrieländern seit 1980 – zu denen der IWF auch die asiatischen ‚Tigerstaaten’ Südkorea, Taiwan, Hongkong und Singapur zählt – geht einher mit dem Rückgang der Investitionsquote (Anteil der Investitionen am BIP): Diese sank von 22,9 Prozent in den 1980er Jahren auf 20,8 Prozent in den 2000ern. Bemerkenswert ist zudem, dass der aktuelle konjunkturelle Aufschwung der Industrieländer mit einer nur schwachen Erhöhung der Investitionen verbunden ist (von 19,9 Prozent in 2003 auf 21,1 Prozent in 2007). Dies könnte mit zwei Faktoren zusammenhängen: Einmal einer geringeren Kapitalintensität (fixes Kapital) der technologisch fortgeschrittensten Produktionsverfahren und/oder der Verlagerung von kapitalintensiven Produktionen in Entwicklungs- und Schwellenländer. Da aber das „offshoring“ von Produktionen aus den entwickelten Industrieländern entgegen der landläufigen Darstellung nach wie vor begrenzt ist,[2] spricht doch vieles dafür, dass der technologische Wandel und die damit verbundene relative Verbilligung der Investitionsgüter[3] der dominierende Einflussfaktor ist. Das Phänomen der auf die Finanzmärkte drängenden Kapitalüberschüsse reflektiert eine niedrigere Investitions- und Kapitalintensität der Produktion in den Industrieländern und damit eine Verbesserung der Verwertungsbedingungen in der Produktion.
Dagegen ist die Investitionsquote in den Entwicklungs- und Schwellenländern mit 26 Prozent (2000er Jahre) hoch und steigt (2007: 28 Prozent) weiter an. Das hängt vor allem mit den Investitionen in den asiatischen Entwicklungsländern zusammen, deren Anteil am BIP von rund 30 Prozent in den 1980ern auf inzwischen 38 Prozent angestiegen ist. Dies gilt vor allem für China, wo die Investitionsquote zeitweilig (2004) bei 45 Prozent lag. Dahinter verbirgt sich u. a. die Tatsache, dass dort kapitalintensive Infrastrukturen aufgebaut werden müssen, die in den entwickelten Industrieländern bereits vorhanden sind.
Insgesamt bleibt für die gegenwärtige Wachstumsperiode auffallend, dass wir es zwar mit einem weltweit beschleunigten Wirtschaftswachstum zu tun haben, dass aber die globale Investitionsquote von knapp 24 Prozent in den 80er auf 22 Prozent in den 2000ern zurückgegangen ist. Der Rückgang der Investitionsquote wird in fast allen Weltteilen (außer Lateinamerika) von einer beschleunigten Zunahme der Arbeitsproduktivität begleitet. Auch der Anstieg der Produktivität wird – ähnlich wie die niedrige Investitionsquote – auf das Zusammenwirken von technischen Faktoren vor dem Hintergrund der neuen Kommunikationstechnologien und auf die vertiefte internationale Arbeitsteilung zurückgeführt.
Zur gleichen Zeit bleiben die Arbeitskosten niedrig: Vor allem infolge der Globalisierung der Arbeitsmärkte – wozu lohnkostenbedingte Produktionsverlagerungen, intensivere Außenhandelsverflechtungen und verstärkte Migration beitragen[4] – haben die Anteile der Arbeitseinkommen an den Nationaleinkommen stark abgenommen. Laut Daten des IWF beläuft sich der Rückgang seit den 1980er Jahren in den entwickelten Industrieländern auf etwa zehn Prozentpunkte – von knapp 70 auf gut 60 Prozent. Er war mit drei bis vier Prozentpunkten in den angelsächsischen Ländern (vor allem in den USA) schwächer – dort waren die Lohnkosten aber schon vorher niedriger gewesen als in Europa (IMF 2007, S.168).
Betrachtet man alle diese Faktoren zusammengenommen, so kann der nachhaltige Aufschwung des Kapitalismus nach Überwindung der tiefen Krise der 1970er Jahre nicht überraschen. Denn alle für die Profitabilität des Kapitals relevanten Faktoren haben sich seither durchgreifend verbessert:
· Der Einsatz der neuen Technologien hat den Anstieg der organischen Zusammensetzung des Kapitals weltweit verlangsamt, wenn nicht sogar umgekehrt. Dafür spricht die anhaltend niedrige Investitionsquote bei beschleunigtem Wachstum.
· Gleichzeitig steigt die Arbeitsproduktivität beschleunigt an, d.h. die Wertschöpfung je eingesetzte Arbeitskraft wächst rascher als zuvor.
· Schließlich geht der Anteil der Arbeitseinkommen an der Wertschöpfung zurück, die Mehrwertrate steigt, was die Profitraten zusätzlich erhöht.
Diese Faktoren begründen eine globale Erhöhung der Profitraten in der Produktion, wofür es reichlich empirische Belege gibt. Die halbjährlichen Wirtschaftsausblicke des IWF verweisen regelmäßig auf hohe Unternehmensprofite und beklagen die Tatsache, dass die Investitionen dem nicht folgen. Der IWF hat dieses Phänomen so beschrieben: „…der steigende Überschuss im Unternehmenssektor der Industrieländer ist besonders auffallend. Gemessen als Anteile am Inlandsprodukt sind die Unternehmensprofite auf einem historischen Hoch, während die Unternehmensinvestitionen ungewöhnlich niedrig sind…“ (IMF 2005, S. 6). Er geht in dieser Analyse sogar so weit, die hohen Profite besorgniserregend zu finden und eine Rückkehr der „corporate profitability … to more normal levels“ (ebd., S. 7) zu empfehlen. An anderer Stelle wird das als „Investitionsstreik“ beschrieben, als, „zu geringe Ex-ante-Anlageinvestitionen bei einer hohen Ex-ante-Ersparnis.“ (BIZ 2007, S. 13). Die „strong corporate profitability“ (IMF 2007, S. 49) erklärt im Übrigen die Tatsache, dass der starke Anstieg der Energie- und Rohstoffpreise bislang ohne nennenswerten Inflationsdruck verkraftet werden konnte.
Die Grundlagen der gegenwärtigen Prosperität
Derart günstige Bedingungen der Kapitalakkumulation müssten unter kapitalistischen Bedingungen normalerweise immer wieder in Phasen der Überakkumulation und Überproduktion, also in zyklische Krisen, führen. Denn je günstiger die Bedingungen der Profitproduktion sind, desto schärfer stellt sich das Problem der Profitrealisierung auf den Absatzmärkten. Dies ist aber nicht der Fall. Verstärkter Luxuskonsum der Oberschichten ist zwar festzustellen, kann aber das Problem der Überproduktion nicht lösen. Aktuell wird die nachfrageseitige Schranke der kapitalistischen Akkumulation, d.h. das Realisierungsproblem des Profits, durch zwei Faktoren hinausgeschoben:
· Der Aufschwung in den asiatischen Entwicklungsländern hat die globale Aufnahmefähigkeit der Weltmärkte für Waren und Kapital vergrößert. Die kapitalistische Durchdringung der Welt und die Umwälzung der Produktivkräfte der bisherigen Peripherie schaffen gewaltige Spielräume für die Aufnahme der Überschüsse an Waren und Kapital. Günstig wirkt dabei die Tatsache, dass die Wirtschaft dort bislang ohne zyklische Schwankungen nahezu ungebremst expandiert.
· Eine Besonderheit stellen die USA dar, die dank ihrer Vormachtstellung (und der damit verbundenen Sonderrolle des Dollar) dauerhaft mehr verbrauchen als produzieren und einen Teil der weltweiten Überproduktion absorbieren. Dabei spielt der Konsum der amerikanischen Verbraucher eine wichtige Rolle: Die Sparquote der US-Konsumenten ist seit einigen Jahren negativ. Außerdem verzeichnen die USA ein hohes – wenn auch zuletzt reduziertes – Defizit im Staatshaushalt; die Kosten der diversen Kriege und Militäraktionen stellen einen globalen Absatzmarkt und eine Anlagesphäre für überschüssiges Kapital und Waren dar.
Die hohen produzierten und realisierten Profite bei vergleichsweise verhaltenem Tempo der Akkumulation von fixem Kapital führen auf den Finanzmärkten zu einem Überangebot an anlagesuchendem Geldkapital, was sich u. a. in anhaltend niedrigen realen Zinsen ausdrückt. Dies führt zur oftmals beklagten „Volatilität“ der internationalen Finanzmärkte. Während die Inflation im Bereich der Waren und Dienstleistungen niedrig bleibt, steigen die Preise der Finanzprodukte. Der Anstieg der „Vermögenspreise“ (BIZ 2007, S. 10) – von Immobilien über Aktien bis zu Kunstgegenständen und Weinen[5] – ist das Spiegelbild der relativen Überakkumulation in der realen Produktion und drückt einen allgemeinen Überschuss an Liquidität aus. Dieser „savings glut“ (IMF 2005, S. 6) ist ein weltwirtschaftlicher Risikofaktor, da die Anleger selbst auf unbedeutende Krisenanzeichen an den Finanzmärkten – wie z.B. die Insolvenz einiger Hedge-Fonds im Juli 2007 – herdenmäßig reagieren; der Einbruch der Weltbörsen im Frühjahr 2006 war ein Warnzeichen.
Allerdings ist unklar, wie und ob ein Fall der Vermögenspreise auf die Realwirtschaft wirkt. Derzeit, d.h. im Sommer 2007, wird vor allem darüber diskutiert, ob der Rückgang der Preise für Wohnimmobilien in den USA eine Rezession auslösen könnte. Dies wäre dann der Fall, wenn der Rückgang der Vermögensposition der amerikanischen Haushalte deren Verschuldungsbereitschaft und Konsumneigung beinträchtigen würde. Andererseits provoziert die Volatilität der Finanzmärkte eine Verlängerung der Kreditketten und ein zunehmendes Angebot von Finanzprodukten, die der Absicherung finanzieller Risiken dienen. Die Expansion bei den finanziellen Dienstleistungen, die ein Teil der Realwirtschaft sind, spiegelt diese Entwicklung wider.
Obwohl diese Dynamiken die Gefahr von Finanzkrisen erhöhen, gibt es keinen Grund, Katastrophenszenarien zu entwerfen. Denn die Finanzmärkte prosperieren, wie oben gezeigt, vor dem Hintergrund der ebenfalls prosperierenden Realwirtschaft:
· Die Profitraten in der Produktion sind hoch und steigen weiter an.
· Die boomenden Ökonomien Asiens stellen nahezu unersättliche Anlagesphären für Kapital dar.
· Dies gilt in geringerem Umfang auch für die Rohstoffproduzenten Lateinamerikas und Afrikas, die vor dem Hintergrund steigender Rohstoffpreise hohe liquide Überschüsse verzeichnen.
· Die Expansion und Differenzierung der Finanzmärkte und die Entwicklung innovativer Finanzprodukte hat auch eine ‚reale’ Komponente in Form der Produktion von Finanzdienstleistungen.
Insgesamt scheint es, als ob die gegenwärtige Prosperitätskonstellation des Kapitalismus in der Produktion solide begründet und alles andere als eine Spekulationsblase ist. Dass der Siegeszug des Kapitalismus und seine globale Prosperität mit der massenhaften Vernichtung von Existenzen, scharfen sozialen Gegensätzen und Massenelend verbunden ist – wie viele Analysen vor allem der aufstrebenden Länder Asiens zeigen – sollte nicht überraschen.
Die aktuelle Weltkonjunktur und die Lage der Regionen
Die Produktion in den entwickelten kapitalistischen Ländern unterliegt einem Zyklus von konjunktureller Überproduktion und folgenden Rezessionen. Diese konjunkturellen Schwankungen sind nicht verschwunden, sie haben im Zuge der intensiveren internationalen Arbeitsteilung aber einen globalen Charakter angenommen. Es ist festzustellen, „dass der internationale Konjunkturzusammenhang in den letzten Jahren nachweislich an Intensität zugenommen hat.“ (Heuchemer 2003, Vorwort) Allerdings sind die Rezessionen in den letzten Jahrzehnten schwächer ausgeprägt gewesen, was in einem Milieu verstärkter globaler Wachstumsdynamik nicht überrascht. In den letzten Rezessionen ist es nur vereinzelt und auch nur kurzfristig zu Produktionsrückgängen gekommen, es handelte sich meist nur um deutliche Rückgänge der Wachstumsraten. In den letzten drei Jahrzehnten lassen sich solche Konjunkturkrisen in den Jahren 1982, 1991-93 und 2001-2003 identifizieren. Direkt betroffen waren die entwickelten kapitalistischen Industrieländer und – unter dem Einfluss der USA – Lateinamerika. In anderen Weltteilen ist bislang keine ausgeprägte Zyklizität der Entwicklung festzustellen, was im Übrigen für die Selbständigkeit des Aufschwungs in Asien spricht.
Der internationale Konjunkturzusammenhang blieb eng, wobei in den vergangenen beiden Krisen die USA einen gewissen Vorlauf hatten: Die Tiefpunkte der letzten Rezessionen lagen im NAFTA-Raum jeweils 1991 und 2001, während es in Europa die Jahre 1993 und 2002/2003 waren. Dies spricht dafür, dass die Entwicklung in den USA die Konjunktur auch in den anderen Industrieländern beeinflusst. Im Sommer 2007 wird viel darüber spekuliert, ob eine zyklische Abschwächung in den USA der Auslöser einer neuen Rezession sein könnte. Obwohl sich das Wachstum in den USA 2007 abgeschwächt hat und die Auswirkungen der Krise im Bereich der Wohnimmobilien unklar sind, spricht doch vieles dafür, dass es sich dabei nur um eine ‚Zwischenkrise’ wie 1986 und 1995 handelt.
Im Vergleich zu früheren Perioden fällt eine gewisse Verlängerung der Zyklen auf, was mit der Einführung der neuen Technologien zusammenhängen dürfte. Vergleicht man die Aufschwungsjahre 2003/2006 mit denen von 1994/97, so ist der gegenwärtige Boom nicht nur kräftiger, er ist auch stärker durch den privaten Konsum und weniger durch Unternehmensinvestitionen gestützt. Ursache der rascheren Aufschwungsdynamik ist aber wesentlich der wachsende Anteil der aufstrebenden Entwicklungsländer. Dies spricht dafür, dass die Verlagerung der kapitalistischen Entwicklungsdynamik nach Asien der wichtigste Faktor auch für die entwickelten Industrieländer ist.
Zwar wird die globale Wachstumsdynamik derzeit vor allem von der raschen nachholenden Industrialisierung in China und Indien angetrieben, trotzdem stellen die entwickelten Industrieländer nach wie vor das Zentrum des Weltkapitalismus dar. Obwohl verschiedentlich darüber spekuliert wird, dass sich wegen der geringeren Handelsverflechtung zwischen den USA einerseits und den übrigen OECD-Staaten Europas und Japan andererseits der Konjunkturzusammenhang gelockert haben könnte, muss festgehalten werden, dass wegen der in den USA angelegten Vermögenswerte der Übertragungsmechanismus von Konjunktur und Krise zwischen den USA und der übrigen entwickelten Welt nach wie vor funktioniert.
In diesem Zusammenhang wurde in der Vergangenheit immer wieder das Handels- und Leistungsbilanzdefizit der USA gegenüber dem Rest der Welt als Krisenfaktor diskutiert. Erstmals seit Beginn der 2000er Jahre hat sich dieser bei etwa 6,5 Prozent des amerikanischen Inlandsprodukts liegende Fehlbetrag 2007 nicht weiter vergrößert. Bei seit dem Frühjahr 2007 erneut ansteigenden Ölpreisen hat die Abwertung des US-Dollars in Verbindung mit einem Ausgleich des Wachstumsgefälles zwischen den USA einerseits und den übrigen entwickelten Industrieländern andererseits insofern gewirkt, als die US-Exporte von Industriewaren angestiegen sind. Wenn es – wofür im Sommer 2007 viel spricht – in den USA zu keiner Rezession kommt, dann dürfte die Finanzierung des US-Defizits, die Achillesferse der Weltkonjunktur, weiterhin funktionieren. Der Hunger der USA nach fremdem Geldkapital zur Finanzierung des über der Produktion liegenden Verbrauchs (einschließlich der Kosten der Militäroperationen) ist vor dem Hintergrund überbordender internationaler Liquidität eine willkommene Anlagesphäre für Kapitalüberschüsse.
Zu Unrecht wenig beachtet wird die Situation in Japan. Man hatte sich in den letzten Jahren angewöhnt, die japanische Wirtschaft als kränkelnd anzusehen. Nach einer Krise, die vor allem durch das Platzen einer Spekulationsblase im Immobilienbereich und anschließende Probleme der Banken verursacht wurde, hatte Japan in den 1990er Jahren mit anhaltender Stagnation und deflationären Erscheinungen – rückläufige Industrie- und Verbraucherpreise, Notenbankzinsen von null Prozent – zu kämpfen. Diese Probleme scheinen nun überwunden. Die japanische Ökonomie, gemessen zu Kaufkraftparitäten immerhin die drittgrößte der Welt (nach USA und China, vor Indien), befindet sich wieder auf einem stabilen Wachstumspfad. Dies, obwohl der japanische Kapitalismus weiter eigene Wege geht: Nach wie vor herrschen in Japan feste vertragliche Beziehungen, Querverbindungen zwischen den großen Konzernen und ein erhebliches Maß an Arbeitsplatzsicherheit und Senioritätsprinzipien in den Arbeitsbeziehungen.
In Europa hat sich das Wachstum beschleunigt und liegt jetzt über dem der USA. Das Gerede der Marktradikalen von der „Eurosklerose“, demzufolge Europa nachhaltig hinter die USA zurückfalle und daher endlich amerikanische Wirtschaftsfreiheit einzuführen sei, hat ohnehin niemals einer seriösen Prüfung standgehalten: In den 2000er Jahren ist die Wirtschaft der EU etwas rascher gewachsen als die der USA. Zudem ist in Rechnung zu stellen, dass die Bevölkerung in den USA nach wie vor zunimmt: Während die Bevölkerungszahlen in Europa und Japan stagnieren bzw. leicht zurückgehen, wächst die Bevölkerung der USA um jährlich 1 Prozent. Die Pro-Kopf-Einkommen in Europa und Japan dürften also schon seit den 1980er Jahren mindestens so rasch zunehmen wie in den USA. Getrieben wird die Belebung in Europa vor allem durch die Exporte. Dabei hat sich die Handelsverflechtung mit China intensiviert – seit 2000 haben sich die Exporte der EU nach China verdreifacht.
Die wirtschaftliche Expansion in Asien, getrieben durch eine massive nachholende Industrialisierung basiert auf der hohen Investitionsdynamik vor allem Chinas. Dabei hat sich in der jüngsten Vergangenheit die Handelsverflechtung mit den USA etwas verringert, vor allem zugunsten der inner-asiatischen Integration. Es ist derzeit nicht absehbar, dass diese rasche kapitalistische Expansion sich wesentlich abschwächen wird – wobei eine zunehmende Labilität der neuen asiatischen Finanzmärkte in Rechnung zu stellen ist. In China wird versucht, durch die klassischen Mittel der Notenbankpolitik – Zinserhöhungen und Kreditverknappungen – das ausufernde Wachstum der Investitionen in den Zentren zu bremsen und eine regional etwas ausgeglichenere Entwicklung zu erreichen. Diese Versuche waren in den letzten Jahren vergeblich; es ist nicht ausgeschlossen, dass die Bremsmaßnahmen intensiviert werden und dass dies zu Unruhen an den boomenden Finanzmärkten Asiens führt.
In den entwickelten Ländern wird China zunehmend als Konkurrent wahrgenommen, wobei die wachsenden Ungleichgewichte im Außenhandel im Mittelpunkt stehen. Gegenüber der EU wird der chinesische Überschuss 2007 auf 230 Mrd. Dollar geschätzt, gegenüber den USA auf 260 Mrd. Dollar. Vielfach wird von „unfairen Vorteilen“ (NZZ v. 19.7.07) gesprochen, wobei insbesondere auf die politisch gesteuerte Unterbewertung des Yuan (angeblich um etwa 40 Prozent gegenüber dem Dollar) verwiesen wird. Sieht man davon ab, dass die USA immer noch technologieintensive Exporte nach China verbieten, ist darauf hinzuweisen, dass noch vor wenigen Jahrzehnten die Errichtung von chinesischen Sonderwirtschaftszonen genutzt wurde, um billige Lohnveredelung in China vornehmen zu können – mit der Folge von (gewollten) Handelsbilanzdefiziten der entwickelten Länder. China hat diese Etappe der abhängigen Industrialisierung inzwischen hinter sich gelassen und nutzt seine Konkurrenzvorteile.
Zudem spielt China als Inhaber der Welt größter Devisenreserven eine wichtige Rolle bei der Finanzierung des amerikanischen Leistungsbilanzdefizits. Die überzogene Kritik an der chinesischen Wirtschaftspolitik spiegelt im Wesentlichen die Tatsache wider, dass China die Phase der abhängigen Entwicklung überwunden hat und ein ernsthafter ‚player’ im globalen Wettbewerb um Ressourcen, Absatzmärkte und Kapitalanlagefelder geworden ist.
Lateinamerika stand lange Zeit im Schatten der weltwirtschaftlichen Entwicklung. Tatsächlich hatten mehrere südamerikanische Länder wie Argentinien und Brasilien in der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts einen hohen Entwicklungsstand erreicht, waren dann aber wieder zurückgefallen. Die orthodoxen Fassungen der Dependenztheorie, welche die Unterentwicklung der Peripherie zum notwendigen Element der Entwicklung des Zentrums erklärten, bezogen sich vor allem auf Erfahrungen aus Lateinamerika; hier schien sich zu bestätigen, dass es abhängigen Ländern kaum möglich ist, sich aus dem Zustand der Abhängigkeit und der Unterentwicklung zu befreien. Obwohl sich diese Schlussfolgerung inzwischen als falsch erwiesen hat, kann gezeigt werden, dass wichtige Kernelemente der Dependenztheorie trotzdem Gültigkeit haben.
Heute scheint es, als habe Lateinamerika einen neuen Anlauf genommen. Der Zeitraum 2004-2007 war durch das stärkste Wirtschaftswachstum seit den 1970er Jahren gekennzeichnet, Länder wie Argentinien, dessen Ökonomie noch vor wenigen Jahren am Boden lag, verzeichnen Wachstumsraten von an die zehn Prozent. Auch für die Zukunft scheinen die Wachstumsaussichten günstig, wobei allerdings noch nicht ausgemacht ist, dass der Aufschwung nachhaltig sein wird. Denn er beruht in den meisten Fällen sehr einseitig auf der Rolle dieser Länder als Rohstoffproduzenten. Chile, Ecuador, Peru und Venezuela profitieren von den hohen Öl- und Metallpreisen. Argentinien und Brasilien werden als Agrarexporteure von der starken Nachfrage nach Getreide und anderen Agrarprodukten begünstigt. Mexiko und Mittelamerika sind nach wie vor abhängig von der Nachfrage aus den USA. Es gibt zwei Indikatoren die darauf hindeuten, dass es den meisten Ländern Lateinamerikas bislang nicht gelungen ist, ihre strukturelle Abhängigkeit von den entwickelten kapitalistischen Ländern zu überwinden: Einmal fällt auf, dass das verstärkte Wirtschaftswachstum mit einer im Verhältnis zu Asien und zu den entwickelten Industrieländern rückläufigen Produktivitätszunahme einher geht. Zum anderen verzeichnen die meisten Länder trotz der guten Exportpositionen im Rohstoffbereich sinkende Handelsbilanzüberschüsse bzw. zunehmende Defizite. Die meisten Staaten Lateinamerikas sind entweder Rohstoffökonomien (Argentinien, Venezuela) geblieben oder hängen wie Mexiko am Tropf der USA.
Die Länder der ehemaligen Sowjetunion und Osteuropas habenden Einbruch nach 1989 erst zum Jahrtausendwechsel überwinden können. Hierbei ist zu differenzieren: Gemessen am realen Inlandsprodukt (bewertet zu Kaufkraftparität) konnte Osteuropa den Stand von 1990 schon 1994 wieder erreichen; der GUS gelang dies erst 2004.
Obwohl beide Ländergruppen derzeit ein hohes Wachstumstempo verzeichnen – Osteuropa 5 Prozent, GUS 7 Prozent jährlich – ist die Nachhaltigkeit dieses Aufschwungs mit einem Fragezeichen zu versehen. Osteuropa profitiert von der Integration in die EU, wobei diese durchaus in abhängiger Form verläuft. Das zeigen hohe und steigende Defizite der Leistungsbilanzen – das aufstrebende Europa (einschließlich der Türkei) hat bezogen auf das Inlandsprodukt ein ebenso hohes Defizit wie die USA (6,5 Prozent) – und hohe Direktinvestitionen vor allem aus den entwickelten europäischen Ländern (ca. 5 Prozent des Inlandsprodukts). Hinzu kommen Subventionen der EU. Russland und die übrigen GUS-Staaten dagegen profitieren einzig und allein von den hohen Öl- und Rohstoffpreisen. Die Investitionsquote ist niedrig und konzentriert sich im Rohstoffsektor und den damit zusammenhängenden Transport-Infrastrukturen.
Die Belebung der Weltkonjunktur ist auch an Afrika nicht vorbeigegangen. Der anhaltende wirtschaftliche Bedeutungsverlust des Kontinents, welcher ihn zum internationalen Sozialfall gemacht hatte, scheint gestoppt. Auch wenn Afrika der Kontinent mit dem stärksten Bevölkerungswachstum ist (nahe drei Prozent im Jahr), sind die seit 2004 registrierten wirtschaftlichen Wachstumsraten von rund sechs Prozent bemerkenswert. Dieses im historischen Kontext kräftige Wachstum ist allerdings ganz überwiegend dem Effekt hoher und steigender Rohstoffpreise zu verdanken. Hinzu kommt, dass die Häufigkeit von Konflikten und Bürgerkriegen abgenommen hat. Eine Analyse des Diversifikationsgrades der afrikanischen Wirtschaft zeigt, dass dieser in den letzten Jahrzehnten eher wieder zurückgegangen ist (Economic Commission für Africa 2007). Das heißt, dass die meisten afrikanischen Länder stärker denn je von Rohstoffen abhängig sind.
Die Dependenztheorie und der Aufstieg Asiens
Schon als die vier asiatischen Tigerstaaten in den 1980er Jahren dazu ansetzten, die Länder des kapitalistischen Zentrums einzuholen, hat dies die Anhänger der klassischen Dependenztheorie verunsichert – war es entgegen den Annahmen dieser Theorie trotz imperialistischer Abhängigkeit für Länder der Peripherie möglich, einen eigenständigen nachholenden Entwicklungsprozess durchzumachen? Konnte man damals noch auf Sonderfaktoren wie die Rolle dieser Staaten als Bastionen gegen den Kommunismus in Asien und als off-shore-Finanzzentren verweisen[6], so ist der Aufstieg Chinas und Indiens so nicht mehr zu erklären. Es kann kaum mehr geleugnet werden, dass es sich hierbei um eine nachhaltige strukturelle Machtverschiebung in der internationalen politischen Ökonomie handelt (Schmalz 2006, S. 32). Sind damit die Kernaussagen der Dependenztheorie, die so lange den politischen Diskurs der kritischen Entwicklungsökonomen bestimmt oder beeinflusst hatte, hinfällig?
Die Aussagen der Dependenztheorie und verwandter Ansätze beruhen im Kern auf drei Annahmen:
· Wichtiger als die jeweiligen historischen Entwicklungsbedingungen der Länder sei die Struktur des Weltsystems; daher kamen viele Autoren zu einer Schlussfolgerung, die Boeckh kritisch so vereinfacht: „Wer hochentwickelte Großreiche wie China und akephale Stammesgesellschaften wie die der Ibo in Nigeria als traditionelle Gesellschaften zusammengefasst hat (…), wer von Mali bis Brasilien und Südkorea nur einen peripheren Kapitalismus mit weitgehend ‚identischen Tiefenstrukturen’ (Senghaas) zu erkennen vermochte, wer allenthalben ‚Staatsklassen’ (Elsenhans) am Werke sieht, dem gehen zwangsläufig eine Menge relevanter Informationen über die Unterschiede zwischen diesen Gesellschaften verloren, die man jedoch dringend bräuchte, um die keineswegs identische Entwicklungsdynamik in der Region erklären zu können, die man bisher als die Dritte Welt bezeichnet hat.“ (Boeckh 1992, S. 111) Nun haben selbst die krudesten Dependenztheoretiker wie Frank und Amin die Unterschiede innerhalb der Dritten Welt keineswegs übersehen. Man war aber davon ausgegangen, dass die Form der Integration ins kapitalistische Weltsystem für die innere wirtschaftliche, soziale und politische Entwicklung wichtiger sei als endogene Faktoren. Dies hat sich definitiv als falsch erwiesen.
· Die Tendenz des Kapitalismus zur Integration der peripheren Länder in den Weltmarkt verwandelt diese vor allem in Rohstofflieferanten. Der empirisch begründeten These von Prebisch/Singer zufolge aber ist die Einkommenselastizität der Nachfrage nach Rohstoffen gering, d.h. diese wächst langsamer als die Einkommen. Dagegen ist die Elastizität der Nachfrage nach Industriewaren hoch, d.h. sie wächst rascher als die Einkommen und vor allem als die Nachfrage nach Rohstoffen. Dies führt dazu, dass die Preise für Industriewaren rascher ansteigen als die Preise für Rohstoffe. Die Terms of Trade (die internationalen Austauschverhältnisse) der Rohstoffländer verschlechtern sich. Diese Annahme hat sich im Großen und Ganzen bis vor kurzem bewahrheitet – in der Tat beinhaltet der technische Fortschritt eine sinkende Rohstoffintensität der Produktion. Nicht berücksichtigt wurde dabei allerdings die Begrenztheit der Ressourcen (also des Angebots), was – wie wir heute sehen – zu einem nachhaltigen Anstieg der Rohstoffpreise führen kann. Trotzdem ist der beschriebene Mechanismus vor allem bei agrarischen Rohstoffen keineswegs außer Kraft gesetzt. Die Spezialisierung auf Rohstoffe führt in die entwicklungspolitische Sackgasse, wenn es nicht gelingt, die Rohstoffeinnahmen produktiv in die industrielle Verarbeitung zu investieren. Hier bleiben wichtige Aussagen der Dependenztheorie gültig.
· Rund wird die Dependenztheorie aber erst, wenn man soziale und politische Faktoren einbezieht. Die auf Rohstoffproduktion basierende Einbindung der Ökonomien der Peripherie in den kapitalistischen Weltmarkt geht einher mit einer Blockierung des sozialen Wandels. Es bildet sich ein politisch-sozialer Komplex zwischen den traditionellen Strukturen einerseits und den modernen, am Austausch mit den entwickelten Ländern beteiligten modernen städtischen Schichten andererseits – verschiedentlich als Kompradorenbourgeoisie bezeichnet –, der jeden sozialen Wandel und eine rationelle Verwendung des Mehrprodukts verhindert. Die herrschenden Gruppen entwickeln einen an europäischen Standards orientierten Luxuskonsum, der die Akkumulation des Mehrprodukts außerhalb des Rohstoffsektors weiter schmälert.[7] Dies trifft für viele kleinere Länder Afrikas und Lateinamerikas immer noch zu.
Aus diesem ökonomisch, sozial und politisch begründeten Abhängigkeitsverhältnis gibt es der Dependenztheorie zufolge im Rahmen des Kapitalismus (bzw. des kapitalistischen Weltmarkts) keinen Ausweg. Nachholende Entwicklung nach europäischem Muster sei nicht möglich. Dies erfordere entweder eine „Dissoziation“ vom Weltmarkt (Senghaas 1977) oder aber die Überwindung des kapitalistischen Weltsystems.
Entgegen diesen Annahmen der Dependenztheorie haben in den letzten Jahrzehnten mehrere Länder der ehemaligen Peripherie eine rasche wirtschaftliche Entwicklung vollzogen. Die aufstrebenden Länder und ihre Bourgeoisie schlagen eigene Wege ein und bedrohen die Vormacht des ehemaligen Zentrums. Die veränderten Verhältnisse beleuchtet schlaglichtartig eine Übersicht des mexikanischen Finanzmagazins „Sentido Común“, demzufolge nunmehr der Mexikaner libanesischer Abstammung Carlos Slim mit einem Vermögen von 67,8 Milliarden Dollar der reichste Mann der Welt sei, noch vor Bill Gates (59,2 Milliarden).[8]
Dependenz und endogene Entwicklung
Die Analyse der Annahmen der Dependenztheorie vor dem Hintergrund der jüngsten Entwicklung macht deutlich, dass diese den Grad und die Bedeutung der Einbindung der Ökonomien der Peripherie in die kapitalistische Weltwirtschaft überschätzt und die Potenziale endogener Entwicklungsfaktoren unterschätzt haben. Die aus der Dependenztheorie abgeleiteten entwicklungspolitischen Empfehlungen liefen letzten Endes darauf hinaus, sich vom kapitalistischen Weltmarkt abzukoppeln bzw. die Anbindung an diesen gezielt zu steuern, wobei sich viele Autoren historisch auf Friedrich List (1838/1927/1961) bezogen.
Tatsächlich aber war der kapitalistische Weltmarkt für viele, insbesondere große Ökonomien der Peripherie niemals der bestimmende Faktor für ihre Entwicklung. Die Dependenztheorien haben die Wirkungsweise der kapitalistischen Integration auf die Entwicklungspotenziale der peripheren Länder durchaus richtig beschrieben, sie haben deren Bedeutung für die Gesamtentwicklung der Länder gegenüber den endogenen Faktoren aber meistens weit überschätzt. Die „Dissoziation“ vom Weltmarkt war für viele Länder der Peripherie Realität, der Einfluss des Weltmarkts auf die innere ökonomische und politische Entwicklung war weit geringer als angenommen.
Dies wird deutlich, wenn man den wohl wichtigsten Faktor der kapitalistischen Durchdringung einer Ökonomie, die ausländischen Direktinvestitionen, zum Maßstab nimmt.
Tabelle 2: Bedeutung internationaler Direktinvestitionen (DI) in den Entwicklungsländern
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Quelle: UNCTAD, World Investment Report 2006, Tabelle B.3.
Für die Gesamtheit der Entwicklungsländer ist festzuhalten, dass auch im Jahre 2005 weniger als ein Siebtel der Gesamtinvestitionen aus dem Ausland stammt. Die Anteile sind generell in kleinen, rohstofforientierten Ökonomien höher, teilweise sogar dominierend. Dagegen ist die Bedeutung der ausländischen DI in großen Ökonomien wie Indien und China zwar nicht marginal, aber keineswegs bestimmend für den Akkumulationsprozess. Denn wenn ein Siebtel der Investitionen aus dem Ausland stammt, dann heißt das im Umkehrschluss, dass sechs Siebtel aus dem inländischen Mehrprodukt kommen und die Investitionsentscheidung im Inland getroffen wird. China war 2005 mit 72 Milliarden Dollar zwar der weltweit größte Empfänger internationaler Direktinvestitionen (UNCTAD 2007). Dies ist aber ins Verhältnis zu Gesamtinvestitionen von fast 1.000 Milliarden Dollar zu setzen. Vor diesem Hintergrund ist die Annahme, die gesamte nationale Bourgeoisie hänge mehr oder minder am Tropf des kapitalistischen Weltmarkts, wirklichkeitsfremd.[9]
Kapitale aus dem Süden als Akteure auf den Weltmärkten
Hinzu kommt, dass viele Länder der Peripherie eigenständige Weltmarktstrategien verfolgen. Derzeit nimmt die Zahl der transnationalen Unternehmen aus Ländern der Peripherie rasch zu, wobei diese vor allem in den jeweiligen Regionen aktiv sind: „Transnationale Unternehmen aus Entwicklungs- und Transformationsländern wurden wichtige Investoren in vielen Niedrig-Einkommen-Ländern“, schreibt die UNCTAD (2006, S. XXIII).
Neben der Tatsache, dass viele der ehemals abhängigen Länder ihre Verschuldungspositionen überwunden haben und teilweise zu Haltern großer Devisenreserven und Gläubigerpositionen geworden sind, ist das rasche Wachstum von international agierenden transnationalen Unternehmen aus Ländern der Peripherie ein wichtiger Indikator dafür, dass sich die Struktur des Weltkapitalismus verändert. Eine detaillierte Analyse von 100 großen transnationalen Unternehmen der ‚Peripherie’[10] macht deutlich, was die spezifische Grundlage für die zunehmende Bedeutung und wirtschaftliche Macht der aufstrebenden Ökonomien ist:
· Fast alle international erfolgreichen Konzerne aus Entwicklungsländern haben eine nationale Produktions- und Eigentümerbasis.[11] Die Rolle staatlich kontrollierten Kapitals ist hoch, vor allem bei den chinesischen Multis.
· Die Konzerne wurden groß auf den jeweiligen nationalen Märkten, ihre Auslandsaktivitäten entwickeln sich aus den Inlandsmärkten. Dies zeigt, dass die erfolgreichen Länder eigene Binnenmärkte entwickelt haben, dass die von der Dependenztheorie angenommene weltmarktdominierte „strukturelle Heteregonität“ ihrer Ökonomien nicht prägend war.[12]
· Nur wenige dieser Konzerne sind rohstofforientiert.
· Die internationalen Aktivitäten konzentrieren sich auf andere Länder der Peripherie, oft der gleichen Region. Die Eroberung von Märkten der bisherigen Zentren ist die Ausnahme.
Dies verweist auf Elemente, die im Rahmen der Dependenztheorie eine wichtige Rolle gespielt hatten, in ihrer Wirkungsweise aber oft nicht richtig eingeschätzt worden waren.
Hierzu gehört die Elsenhans zugeschriebene Theorie der „Staatsklassen“, zu denen jene Personengruppe gezählt wird, die „kraft Amtes an der Aneignung von Mehrprodukt …, an der Verteilung von solchem Mehrprodukt auf Konsum und Investitionen, an Investitionsentscheidungen und an der Lenkung von Arbeit teilnimmt bzw. andere leitende Aufgaben im Staatsapparat, den staatlichen Betrieben und den in den Staat integrierten politischen und gesellschaftlichen Organisationen wahrnimmt.“ (Elsenhans 1981, S. 122) Obwohl sich viele der derzeitigen Eigentümer bzw. Entscheidungsträger in den Konzernen der Peripherie im Zuge der Privatisierungsstrategien inzwischen von ihrem ‚Beamtenstatus’ emanzipiert haben, war ihre Verwandlung in Kapitalisten meist mit Beziehungen zum Staat verbunden. Der „Entwicklungsstaat“ hat seine Rolle als Agent bei der Überwindung der Abhängigkeit vom Zentrum und der Konstituierung des nationalen Kapitalismus erfolgreich gespielt.
Ein weiteres zentrales Element der Dependenztheorien war die ungleiche Integration in den Weltmarkt. Was für viele kleinere Rohstoffökonomien vor allem Afrikas und Lateinamerikas zutraf und teilweise noch zutrifft, war für die großen Entwicklungsländer niemals oder aber doch nur teilweise richtig: China und Indien verfügten immer über große innere Kapazitäten, deren Produktion sich primär am Binnenmarkt orientierte, mit allen Konsequenzen für die Erzeugung und Verwendung von Mehrprodukt. Viele der Dependenztheoretiker hatten schlicht die „Bedeutung der Zahl“ (Braudel, siehe Schmalz 2006, S. 33) übersehen, obwohl sie als gute ‚Listianer’ hätten wissen müssen, dass die Größe der inneren Märkte ein wichtiger Entwicklungsfaktor ist (List 1838/1927/1961, S. 44 ff.). Vor diesem Hintergrund überrascht nicht, dass sich in solchen Ländern eine nationale Bourgeoisie entwickelt, die sich keineswegs damit zufrieden gibt, als „Kompradorenbourgeoisie“ die Brosamen aufzulesen, die von des Zentrums Tische fallen.
Das heißt, dass das u.a. von Senghaas (1977) in den 1970ern entwickelte (und später modifizierte) Plädoyer für „Dissoziation“ vom Weltmarkt (Menzel 1991, S. 33) vor allem bei den integrierten großen Ökonomien an der Realität vorbei ging: Diese Märkte waren niemals in den Weltmarkt integriert, mussten sich also auch von diesem nicht abkoppeln. Hinzu kommt, dass auch in den Bereichen (regional und sektoral verstanden), die in die Weltmärkte integriert waren, diese Integration keineswegs spontan verlief, sondern immer politisch gesteuert war. Bei dieser Steuerung spielten auch imperialistische Einflüsse eine Rolle, dominierend aber waren national definierte Strategien. Dies ist für die asiatischen Tigerstaaten ausführlich dargestellt worden, die eine Politik „selektiver Dissoziation“ verfolgten, d.h. „die internationale Konkurrenzfähigkeit der Exportindustrien durch Abwertungen, Exportsubventionen und Zollbefreiungen für exportnotwendige Importe erheblich verbessert(en), (während) auf der anderen Seite … massive … Handelshemmnisse für die Binnenmarktindustrien und die den Exportindustrien vorgelagerten Branchen bestehen (blieben).“ (Menzel/Senghaas 1986, S. 158). Die Außenwirtschaftsbeziehungen sind bzw. waren bis vor kurzem bei allen heute aufstrebenden Entwicklungsländern politisch reguliert, die Weltmarktintegration war und ist nach Maßgabe nationaler Interessen politisch gesteuert. Es ist daran zu erinnern, dass erst die Verschuldungskrise der 1980er Jahre den Ländern des Zentrums die Hebel in die Hand gab, um die außenwirtschaftliche Öffnung der verschuldeten Staaten vor allem Afrikas und Lateinamerikas zu erzwingen.
Dies verweist auf den zentralen Faktor, den die meisten Dependenztheoretiker übersehen hatten, wie vielfach bemängelt wurde (Boeckh 1992, S.110 ff.): Es ist die Bedeutung historisch gewachsener gesellschaftlicher Reproduktionsmuster, deren Gewicht größer ist als der Einfluss einiger Jahrzehnte imperialistischer Durchdringung, die sich zudem nur auf jene Bereiche bezog, die für das Kapital der Zentren relevant (z.B. Rohstoffe), für die gesellschaftliche Entwicklung der abhängigen Gebiete aber oft nur marginal waren. Es sind die spezifischen soziokulturellen Bedingungen, deren Bedeutung sowohl von den neoliberalen ‚Modernisierern’ als auch von den ‚Dependenztheoretikern’ grob unterschätzt worden sind. So erklärt sich der Erfolg der neuen Multis aus dem Süden in Bereichen wie Telekommunikation, der Produktion von industriellen Konsumgütern usw. durch die Kenntnis und Beherrschung der speziellen kulturellen Muster, an denen Multis aus dem Norden oft gescheitert sind bzw. die sie nur zu hohen Kosten meistern können. Die BCG-Studie stellt fest: „Die Herausforderung für Aktivitäten in den aufstrebenden Entwicklungsländern besteht darin, an Konsumenten mit niedrigen Einkommen trotzdem profitabel zu verkaufen, mit unzulänglichen und unzuverlässigen logistischen Rahmenbedingungen fertig zu werden, unter unklaren und zweideutigen rechtlichen Rahmenbedingungen zu operieren, raschen Wandel der äußeren Verhältnisse zu bewältigen und trotz unzureichender Managementfähigkeiten des Verwaltungspersonals zu arbeiten.“ (BCG 2006, S. 6). Die amerikanischen Autoren halten natürlich alles, was anders ist als in den USA für „immature“, oft ist es aber bloß anders. Von dieser kulturellen Borniertheit abgesehen bleibt festzuhalten, dass die Kenntnis und Beherrschung des spezifischen kulturellen Umfelds ein wichtiger Erfolgsfaktor ist – was erklärt, dass die Südmultis in ihrer Region die Konkurrenten des Norden ausstechen können, obwohl diese zu ähnlich niedrigen Kosten operieren könnten.
Entwicklungsvarianten des Kapitalismus
Die laufende Restrukturierung des Weltkapitalismus hat ihre Bedeutung nicht nur darin, dass es die Triade heute mit neuen und schon wegen der Bevölkerungszahlen mächtigen kapitalistischen Konkurrenten und einer Verschiebung der Machtpole zu tun hat. Die historisch spezifischen Entwicklungsmerkmale der aufstrebenden Länder werden im Zuge der kapitalistischen Durchdringung nicht einfach eingeebnet, wie schon die alte Debatte über den „rheinischen Kapitalismus“ im Gegensatz zum angelsächsischen Kapitalismus gezeigt hat. Auch sei nochmals auf den besonderen Charakter des japanischen Kapitalismus verwiesen, der nach wie vor eigene Züge besitzt. Der Aspekt unterschiedlicher Formen des Kapitalismus wurde in diesem Zusammenhang bislang unterschätzt, obwohl der Gedanke nicht neu ist (Schmalz 2006, S. 34f.). Auch für die Entwicklung antikapitalistischer Strategien ist es wichtig, die besonderen soziokulturellen Merkmale der aufstrebenden kapitalistischen Mächte zu verstehen. Es ist nicht alles shareholder-value, das amerikanische Modell des Kapitalismus ist nicht hegemoniefähig.
Literatur
Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (BIZ): 77. Jahresbericht, Basel, Juli 2007
Boeckh, Andreas: Entwicklungstheorien: Eine Rückschau, in: Nohlen/Nuscheler (HRSG), Handbuch der Dritten Welt, Bd. 1, Bonn 1992, S. 110 ff.
The Boston Consulting Group (BCG): The new global challengers, Boston 2006
Büchner, Georg/Deppe, Frank/Tjaden, K.H: Zur Theorie der sozioökonomischen Emanzipation von Entwicklungsgesellschaften, in: Das Argument Heft 34, Berlin 1965
Economic Commission for Africa/African Union: Economic Report on Africa 2007. Accelerating Africa’s Development through Diversification, Addis Ababa 2007
Elsenhans, Hartmut: Abhängiger Kapitalismus oder bürokratische Entwicklungsgesellschaft, New York 1981
Goldberg, Jörg: Die Multis aus dem Süden, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, Bonn, Heft 7/2006
Heuchemer, Sylvia: Der internationale Konjunkturverbund, Freiburg 2003
International Monetary Fund (IMF): World Economic Outlook (WEO) April 2007, Washington DC
Ders.: WEO September 2005
List, Friedrich: Das natürliche System der politischen Ökonomie, Paris/Berlin 1838/1927/1962
Menzel, Ulrich: Geschichte der Entwicklungstheorie, Einführung und systematische Bibliographie, Hamburg 1991
Menzel, Ulrich/Senghaas, Dieter: Europas Entwicklung und die Dritte Welt. Eine Bestandsaufnahme, Frankfurt/M. 1986
Schmalz, Stefan: Die Bedeutung der Zahl: Gedankenexperimente zur Rolle der BRIC-Staaten in den Weltwirtschaft, in: Z-Zeitschrift Marxistische Erneuerung, Heft 67, S. 21 f., Frankfurt/M. 2006
Senghaas, Dieter: Weltwirtschaftsordnung und Entwicklungspolitik. Plädoyer für Dissoziation, Frankfurt/M. 1977
UNCTAD: World Investment Report 2007, Genf 2006
UNCTAD: Investment Brief No. 2: Rising FDI into China: The facts behind the numbers, Genf 2007
[1] Die statistischen Angaben beruhen – wenn nicht anders angegeben – auf der Datenbasis des World Economic Outlook (IMF 2007), der zugänglich ist über: www.imf.org/external/pubs/ft/weo/2007/01/data/weorept.aspx
[2] Nach einer Analyse des IWF liegt der Anteil der importierten Halbfertigwaren am BIP der entwickelten Industrieländer nur bei 5 Prozent (2003) und ist seit 1980 nur wenig angestiegen. (IMF 2007, S. 164)
[3] „Der Rückgang der nominalen Investitionsquoten ist teilweise der Tatsache geschuldet, dass Kapitalgüter relativ billiger geworden sind, was vor allem dem verstärkten Einsatz von Informationstechnologien und dem besonderen Produktivitätsfortschritt der Investitionsgüterindustrien geschuldet ist.“ (IMF 2005, S. 94)
[4] Der WEO vom April 2007 gibt einen detaillierten Überblick über den Stand der Globalisierung der Arbeitsmärkte. (IMF 2007, S. 161ff.)
[5] Der Liebhaber von Bordeaux-Wein beklagt, dass „jetzt die 2006er Premiers Crus in einer ersten Tranche zum Großhandelspreis von 330 EUR pro 75-cl-Flasche auf den Markt gekommen (sind), fast doppelt so viel wie beim 2003er – Parallelen zur gegenwärtigen Entwicklung im Kunstmarkt sind nicht von der Hand zu weisen.“ (Neue Zürcher Zeitung v. 3.7.07)
[6] Von vielen Vertretern der Dependenztheorie war zunächst geleugnet worden, dass es sich um eine nachholende Entwicklung handele, lediglich die Form der Abhängigkeit vom Zentrum habe sich geändert. Vgl. die Darstellung der Debatte um die ostasiatischen Schwellenländer bei Menzel/Senghaas 1986, S. 138 ff.
[7] Siehe die Analyse dieses Prozesses bei Büchner/Deppe/Tjaden, Zur Theorie der sozioökonomischen Emanzipation von Entwicklungsgesellschaften, in: Das Argument 43, Juli 1965, S. 25 ff. Die Autoren meinen, dass die Sicherung der Interessen der Oberschichten Entwicklung vereiteln müsse (S. 46), Entwicklungsinteressen fielen daher mit den Emanzipationsinteressen der Unterschichten zusammen.
[8] Siehe Frankfurter Rundschau v. 4.7.07 und Neue Zürcher Zeitung v. 20.7.07.
[9] Vgl. die differenzierte Darstellung der BRICS-Länder in Z 67, September 2006.
[10] The Boston Consulting Group, The new global challengers, Boston 2006; vgl: Jörg Goldberg, Die Multis aus dem Süden, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, Heft 7/2006.
[11] Der bekannte Fall Mittal Steel ist eher eine Ausnahme: Der in London beheimatete Inder Laksmi Mittal hat seine weltweit (aber nur marginal in Indien) agierende Stahlgruppe in den 90er Jahren geformt, indem er scheinbar marode Stahlkapazitäten aufkaufte.
[12] Kwame Nkrumah hat dieses Merkmal (für Afrika) auf die Formel gebracht: „In Afrika wird produziert, was nicht konsumiert wird, und konsumiert, was nicht produziert wird.“