1. These: Hegemoniale Strategie
Der Wahlsieg von Nicolas Sarkozy ist das Ergebnis einer erfolgreichen hegemonialen Strategie auf mehreren Ebenen. Offensichtlich hat Sarkozy, wie er selbst betont, seinen Antonio Gramsci gut gelesen, auch wenn das Ergebnis dieser Lektüre den eigentlichen Zielen Gramscis diametral entgegengesetzt ist.
Auf der allgemeinen Ebene seines politischen Diskurses beschwört Sarkozy nicht nur traditionelle „französische Werte“ wie „die Nation“ und „die Arbeit“ sondern beruft sich auch explizit auf berühmte Persönlichkeiten der sozialistischen Bewegung wie Jean Jaurès und Léon Blum, ja er instrumentalisiert sogar den beispielhaften Mut des jungen kommunistischen Widerstandskämpfers Guy Môquet, den die Nazis 1941 in Châteaubriant erschossen haben, für seine Ideologie der nationalen Identität.
Sarkozy hat die Flügel der eigenen Partei UMP auf sich eingeschworen, indem er sowohl die Liberalen um Baladur als auch die Sozialgaullisten (François Fillon) auf seine Führung verpflichtet hat.
Es ist Sarkozy gelungen, schon im ersten Wahlgang einen erheblichen Teil der Wähler des rechtsextremen „Front national“ unter Jean-Marie le Pen zu gewinnen`, indem er Themen wie innere Sicherheit und nationale Identität besetzte, die bisher als politische Domäne des „Front national“ galten. Im zweiten Wahlgang konnte Sarkozy dann das Wählerpotential Le Pens noch einmal um mehr als die Hälfte dezimieren. Im zweiten Wahlgang konnte er außerdem 40 Prozent der Wähler des liberalen Kandidaten François Bayrou (UDF, jetzt Modem: Mouvement démocrate) zu sich herüber ziehen.
Er hat für seine Regierung der sogenannten „Öffnung“ prominente Vertreter der Sozialistischen Partei abgeworben. Das spektakulärste Beispiel ist Bernard Kouchner als neuer Außenminister. Den früheren Wahlkampfmanager von Ségolène Royal und sozialistischen Politiker Eric Besson, der ihn noch vor kurzem als „amerikanischen Neoliberalen mit französischem Pass“ tituliert hatte, dann aber mitten im Wahlkampf das politische Lager wechselte, machte er zum Staatssekretär.
Im Gegensatz zu anderen Kandidaten konnte Sarkozy seine Wählerschaft klassenübergreifend mobilisieren. Dass die Mehrheit der traditionellen Mittelklasse, die freien Berufe, die Landwirte, kleinen Handwerker und Kaufleute und der ländliche Raum, das sogenannte „tiefe Frankreich“ (la France profonde) für ihn stimmte, ist nicht erstaunlich. Aber dass Sarkozy auch bei den Arbeitern die Mehrheit der Stimmen erhielt, spiegelt eine tiefe Krise des Verhältnisses der Linken zu den unteren sozialen Klassen, den „classes populaires“ wider.
2. These: Das Programm von Ségolène Royal
Ségolène Royal, die Kandidatin der Sozialistischen Partei (PS), hat dagegen mit ihrem Programm die unteren sozialen Klassen nur bedingt ansprechen können. Die Ursache dafür liegt in der Ambivalenz dieses Programms, das Konzessionen an die Privatunternehmen mit Reformen zugunsten der schlechter gestellten Teile der Bevölkerung zu verknüpfen versuchte. Mit ihrem Programm, den „100 Vorschlägen“ (100 propositions) konnte Royal keine befriedigenden Antworten auf die „fracture soçiale“, die soziale Spaltung der französischen Gesellschaft geben. Ihr Versuch, zwischen den beiden Wahlgängen zur Präsidentschaftswahl unvermittelt ein Bündnis mit dem liberalen Kandidaten Bayrou zu suchen, hat das Problem der politischen Ambivalenz nicht nur nicht gelöst, sondern im Gegenteil verschärft. Als Beispiel für die klassenbezogene Ambivalenz des Programms von Royal lässt sich das Projekt einer „partizipativen Demokratie“ (démocratie participative) erwähnen, das eher für soziale Adressaten mit entsprechendem „kulturellen Kapital“ (Pierre Bourdieu), also die gebildete Mittelklasse, als für diejenigen attraktiv ist, die weder über das erforderliche „kulturelle Kapital“ noch ein zufrieden stellendes Einkommen verfügen.
3. These: Die Kandidatur von François Bayrou
Die unerwartete Kandidatur von François Bayrou, des Vorsitzenden der liberalen Partei UDF, die der bisherigen Regierungsmehrheit unter Premierminister de Villepin angehört hatte, war keine wirkliche liberale Alternative zu Sarkozy, sondern in Wirklichkeit nur eine Erweiterung der den Wählern angebotenen neoliberalen Option. Diese Kandidatur hatte vor allem die Funktion, der Kandidatin der Sozialistischen Partei in der sogenannten gesellschaftlichen „Mitte“ Wähler streitig zu machen.
4. These: Das politische System der 5. Republik
Die hohe Wahlbeteiligung bei der Präsidentschaftswahl (über 80 Prozent) und die niedrige Wahlbeteiligung bei den Parlamentswahlen (60 Prozent) zeigen, dass das politische System der 5. Republik immer weniger in der Lage ist, eine wirkliche politische Partizipation vor allem der nicht vermögenden Bevölkerungsschichten zu ermöglichen. Die geradezu bonapartistische Machtfülle des Präsidenten, die Unterordnung des Parlaments unter den Primat der Präsidentschaft und ein rigides Mehrheitswahlrecht sind wesentliche Faktoren der Entdemokratisierung. Diese Faktoren untergraben selbst das bürgerliche Verständnis von Gewaltenteilung. Am 19. Juni 2007 schreibt die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ in ihrem Leitartikel deshalb sehr treffend: „Der Präsident als Regierungschef“.
5. These: „Mediendemokratie“
Die Wahlen, vor allem die Präsidentschaftswahlen, werden immer mehr zu einem Politzirkus der sogenannten „Mediendemokratie“. Die enorme „symbolische Gewalt“, um mit Pierre Bourdieu zu sprechen, die insbesondere vom Fernsehen ausgeübt wird, untergräbt Stück für Stück die Funktionen der Politisierung, die bisher von Parteien, Gewerkschaften, politischen Clubs und den Printmedien wahrgenommen wurden. Die engen Beziehungen von Sarkozy zu den Medien- bzw. Mischkonzernen Lagardère, Bouygues und Dassault sind kein Zufall, sondern ein quasi organischer Faktor seines hegemonialen Projekts. Diese Tatsache macht den Kampf um eine Demokratisierung der Medien und um eine alternative Nutzung der Medien zu einer der wichtigsten zukünftigen Aufgaben der Linken.
6. These: Personalisierung der Präsidentschaftswahl
Mit der Funktion der Medien als Produzenten neoliberalen Einflusses auf die französische Bevölkerung hängt die Strategie der Personalisierung eng zusammen. Die Personalisierung des Wahlkampfes nach US-amerikanischem Muster entwertet die Funktion politischer Parteien und politischer Programme. Die jeweiligen Kandidaten sind primär nicht mehr Vertreter politischer Formationen, sondern die politischen Formationen sind nur noch die logistischen Apparate für die Präsidentschaftskandidaten.
Das zeigt zum Beispiel erstens die Tatsache, dass die Regierungspartei UMP zuerst „Union pour la majorité présidentielle“ hieß, ehe sie sich dann aus rein taktischen Gründen in „Union pour un mouvement populaire“ umbenannte.
Das zeigt zweitens auch der Wahlkampf von Ségolène Royal, die sich rühmte, ganz unabhängig vom Parteiapparat zu agieren: „Die Partei zählt nicht!“
7. These: Endgültiger Triumph über 1968
Sarkozys Triumph ist auch ein Sieg über die Ideen von 1968, insbesondere über die Idee sozialer Gleichheit und über die Vorstellung, dass eine andere Gesellschaft notwendig und möglich ist. Sarkozy ist es gelungen, den Neoliberalismus als alternativlos zu suggerieren. Das Trauma, das die Bewegung von 1968 bei der herrschenden Klasse ausgelöst hat, soll ein für allemal aus dem kollektiven Bewusstsein der französischen Gesellschaft verbannt werden.
8. These: Soziale Massenbewegungen und politische Kräfteverhältnisse
Soziale Massenbewegungen gegen bestimmte Interessen und Maßnahmen der herrschenden Klasse führen nicht automatisch zu einer Verschiebung der Kräfteverhältnisse im politischen und parlamentarischen Raum.
Das hat die Protestbewegung gegen das Gesetz zur Demontage des Kündigungsschutzes (CPE) vor einem Jahr gezeigt. Die Dynamik dieser Bewegung hat sich nicht in einen Prozess der Zurückdrängung des Neoliberalismus auf der politischen Ebene transformieren können. Warum? Einen wichtigen Grund dafür möchte ich nennen: Wenn sich soziale Bewegungen nicht auch auf starke institutionalisierte Akteure wie Parteien und Gewerkschaften stützen können, bleiben ihre Auswirkungen oft auf den unmittelbaren Anlass beschränkt.
9. These: Der zweite Wahlgang der Parlamentswahlen
Dass die gesamte Linke, also die Sozialistische Partei, die Grünen, die Kommunistische Partei und andere linke Gruppierungen im zweiten Wahlgang der Parlamentswahlen den absoluten Durchmarsch Sarkozys und seiner Formation zu einer Art Präsidialdiktatur bremsen konnten, ist nicht in erster Linie der politischen Substanz der Linken zu verdanken.
Dafür, dass die Erfolge Sarkozys und der bürgerlichen Rechten (la Droite) im zweiten Wahlgang weniger triumphal als erwartet ausfielen – wenn die bürgerliche Rechte auch über die absolute Mehrheit der Sitze in der Nationalversammlung verfügt – sind vor allem zwei Gründe maßgeblich: Die Befürchtung, dass die parlamentarische Opposition nahezu eliminiert werden könnte, und das Gerücht, die neue Regierung wolle die Mehrwertsteuer erhöhen.
10. und letzte These:
Perspektiven der anti-neoliberalen Linken
Die Zersplitterung der anti-neoliberalen Linken, also der Strömung links von der Sozialistischen Partei, die „gauche de la gauche“ (PCF, Ligue communiste révolutionnaire, Lutte ouvrière, die „altermondialistes“ usw.) ist Ausdruck der strukturellen Schwierigkeit, antikapitalistische Grundorientierungen mit einer den Bedingungen des modernen Shareholder-Kapitalismus angemessenen konsequenten Reformpolitik zu verknüpfen.
Die gegenwärtigen Perspektiven der französischen „linken Linken“ legen die Entwicklung einer neuen politischen Formation nahe. Seit fast hundert Jahren haben wir heute wohl zum ersten Mal eine Situation, in der die eigentliche französische Linke vielleicht von der deutschen Linken etwas lernen kann. Die Vereinigung der PDS und der WASG zur Partei „Die Linke“ rechtfertigen diesen Gedanken.