Berichte

USA: Dialektik von Marginalisierung und Radikalität

Left Forum Konferenz 2007 „Forging a Radical Political Future“, 9.-11. März 2007, Cooper Union, New York

September 2007

Die amerikanische Linke befindet sich in einem historischen Neuorientierungsprozess. Es waren stets die Krisen (des Marxismus bzw. der Arbeiterbewegung: Erster Weltkrieg/Faschismus/Fordismus, Krise des Fordismus/Althusserismus etc.), in denen sich die marxistische Theorie (und Praxis) revolutionär nach vorne schob. Für die amerikanische Linke stellt sich die Krise der Linken besonders, steht sie doch (nach einem kurzen Wiederaufleben in den späten 1990er Jahren) im Kontext der Entwicklungen seit 2001 auf einem historischen Tiefpunkt. Dennoch: Die Hegemoniekrise des amerikanischen Neokonservatismus bietet den Demokraten und der amerikanischen Linken im Allgemeinen Anknüpfungspunkte für ein gegenhegemoniales Projekt, das paradoxerweise und dem Zustandekommen des alten New Deal nicht so unähnlich, wie es auf den ersten Blick scheint, von oben angestoßen werden könnte. Diese Möglichkeit wird in Zeitschriften wie The Nation intensiv diskutiert.

Vor diesem Hintergrund der Emanzipation aus der „langen dunklen Nacht“ (Julie Ruben) wird offensiv auch in der (radikalen) Linken über eine neue und erfolgversprechende politische Perspektive diskutiert und der fragmentierenden Wirkung einer Netzwerkbewegungsorientierung wird sowohl innerhalb als auch außerhalb des losen institutionellen Rahmens der Demokraten zunehmend die Perspektive einer politischen Partei neuen Typs entgegengesetzt. Im Zentrum dieser Diskussion steht der von Stanley Aronowitz, vorgebrachte Vorschlag der Gründung einer „neuen radikalen Partei“. Klar sei, dass die zwei althergebrachten Strategien – die Linksverschiebung der Demokratischen Partei und die Netzwerkstrategie lokaler sozialer Bewegungen (zur „Humanisierung des Kapitalismus“), die er als „postmoderne Politik“ bezeichnet, – gescheitert seien. Dies hänge damit zusammen, dass sich der globale Kapitalismus nicht mehr einhegen lasse. Die Kämpfe heute könnten sich nur noch gegen das System als Ganzes richten. Dem widerspreche der Netzwerkansatz, der über keinen Begriff der gesellschaftlichen Totalität verfüge und daher unkontinuierliche Einzelfragenpolitik betreibe. Die mittlerweile gespaltene amerikanische Arbeiterbewegung sei nur durch eine eigenständige politische Partei erneuerbar, denn es seien Kommunisten gewesen, welche die Arbeiterbewegung insgesamt aufgebaut hätten und ohne diese sei die Arbeiterbewegung heute nur noch eine leere Hülle: „Das Problem ist, dass wir alle liberals geworden sind.“

Die Miliband-Schülerin und Herausgeberin der britischen Zeitschrift Red Pepper, Hilary Wainwright, wandte sich gegen Aronowitzs Vorschlag. (Netzwerk-)Bewegungen seien nicht nur keine Einzelfragenbewegungen, sondern gerade eine Reaktion auf das Versagen der klassischen Parteien. Bill Fletcher Jr. vom Center for Labor Renewal, der sich selbst als „unapologetic Marxist“ bezeichnete, würdigte Aronowitzs Thesen, gab aber zu bedenken, dass eine sozialistische Partei in den USA aufgrund des Mehrheitswahlrechts nicht den Hauch einer Chance hätte. Fletcher jr. selbst plädierte für eine „neo-rainbow-alternative“: Ein Bündnis von Radikalen innerhalb und außerhalb der Demokratischen Partei.

Die von Wainwright und Aronowitz erörterte Frage nach dem Verhältnis von sozialen Bewegungen und politischer Partei im engeren wie im weiteren Sinne wurden auf mehreren Podiumsveranstaltung zur Spaltung der amerikanischen Gewerkschaftsbewegung 2005 fortgesetzt. Das Panel „Die Spaltung der Arbeiterbewegung: Was folgt daraus?“ drehte sich um die Spaltung zwischen Gewerkschaftsführung und -basis. In dieser Hinsicht, so das Fazit vieler Teilnehmer, habe die Spaltung keine Veränderung erwirkt. Marsha Niemeijer von der gewerkschaftsdemokratisch-reformorientierten Monatszeitschrift Labor Notes kritisierte, dass eine große Zahl der Mitglieder von der Spaltung nicht einmal wüsste. Die unter Ausschluss der Mitgliedschaft geführte Abspaltungsdiskussion zeige den eigentlichen Hintergrund der Spaltung, der in den persönlichen Ambitionen der beiden Gewerkschaftsführer Andy Stern (SEIU) und Jimmy Hoffa jr. (Teamsters) zu suchen sei. Entgegen dem gelegentlich entstehenden Eindruck stünden beide ganz und gar nicht für einen Bruch mit der gescheiterten sozialpartnerschaftlichen Perspektive und einer Hinwendung zu social-movement-unionistischen Ansätzen. Tatsächlich sei ihnen die Vorstellung einer Organisierung kollektiver Klasseninteressen fremd. Das spiegele sich auch in der Tatsache wider, dass seit der Gründung der CTW, die mit der Forderung nach einer Umleitung von 70 Prozent des Gewerkschaftsbudgets in die Organisierung der Unorganisierten einherging, keine Erfolge mehr erzielt wurden. Auch Bill Fletcher Jr., der ehemalige Direktor des politischen Bildungsbereichs der AFL-CIO, bezeichnete die im Kontext des Bruchs vorgebrachten Argumentationen als vorgeschoben: „The whole thing is bullshit!“ Zwischen CTW und AFL-CIO bestünden schlicht und ergreifend keine wesentlichen Gegensätze, die eine solche Spaltung gerechtfertigt hätten. Zudem würden sich beide Organisationen nichts nehmen, was das Ausbleiben tiefer gehender Analysen der gegenwärtigen gesellschaftlichen Umbrüche und ihrer Auswirkungen auf die amerikanischen Arbeiter anbelange: Eine Diskussion über die veränderten Produktionsstrukturen, die Globalisierung sowie die Militarisierung und den wachsenden Autoritarismus des amerikanischen Staates finde nicht statt. Im Anschluss an Wainwrights Bemerkung vom Vortag über den Zeitvorsprung der sozialen Bewegungen vor (politischen) Organisationen und den neuen Bewegungen/Akteuren, die „unterhalb des Radars“ der Gewerkschaften entstünden, gemahnte Niemeijer daran, dass die meisten innovativen Taktiken in der Erneuerung der Arbeiterbewegung bei den am stärksten marginalisierten Arbeiterinnen und Arbeitern zu finden seien – bei farbigen Menschen und zumeist in Zusammenarbeit mit lokalen Arbeiterzentren. Fletcher jr. ergänzte, dass Meinungsumfragen zeigten, dass Afroamerikaner, vor allem afroamerikanische Frauen, die stärksten Befürworter von Gewerkschaften seien; und doch versagten die Gewerkschaften dabei, diesen Teil der Arbeiterklasse zu organisieren.

Allerdings lässt sich die Frage nach der Erneuerung der amerikanischen Arbeiterbewegung nicht allein auf die Entgegensetzung von klassenkollaborationistischer Führung und kreativer Gewerkschaftsbasis im Zusammenspiel mit einem scheinbar ungehemmt fortschreitenden sozioökonomischen Umbruch reduzieren. Auf den Podien „Die Kosten der Privilegien: Zur Arbeiterklassefragmentierung“ und „Schwarzenpolitik in den USA“ wurde über die Bedeutung der „Rassenfrage“ für die Erfolgschancen der Subalternen insgesamt diskutiert. Historisch seien im Sinne des Divide-et-Impera-Prinzips europäischstämmige Arbeiter bewusst mit mehr Rechten als afrikanische Sklavenarbeiter ausgestattet worden. Der ursprünglich an der Harvard-Universität und heute in Princeton lehrende, rhetorisch begnadete Religionsprofessor Cornel West behauptete, dass es für die US-Linke keine Zukunft geben könne, wenn sie sich nicht der Realität der „Weißenherrschaft“ stelle: „The nation has to come to terms about talking about race.“ Diesbezüglich sei der Rollback allerorten spürbar: Auf Grundlage von jüngeren bundesstaatlichen oder Obersten Gerichtshofsurteilen gerieten Gleichstellungsprogramme unter Druck und als Folge sinke die Zahl der Schwarzen- und Latinostudierenden. Auch die Zunahme an schwarzen Politikern ändere nichts an der Tatsache, dass die Aberkennung zahlreicher Bürger- und sozialer Rechte fortschreite. Besonders zeige sich diese rassistische Struktur in Amerika anhand des Wahlrechts, das zunehmend „exklusiv weiß“ werde. Allein in Florida seien 350.000 Schwarze nicht wahlberechtigt; in Mississippi dürfte ein Drittel der Schwarzen nicht wählen. Und doch führe, wie Curtis Muhammed, ein Aktivist des New Orleans Survivors Council monierte, diese Entwicklung nicht zu einer neuen Militanz unter den organisierten Schwarzen; die heutige Bewegungsführung zöge die Schwarzen an die Wahlurnen anstatt dahin, wo sie hingehörten, „auf die Straße“.

Im Forum „USA und Europäisches Sozialmodell“ diskutierten Jörg Huffschmid und Michael Krätke mit Frances Fox Piven. Huffschmid kritisierte den amerikanischen EU-Idealismus, der mit der Selbstsicht der EU-Eliten und Medien korrespondiere, aber nicht mit den Erfahrungen der reformmüden EU-Bürger. Die EU sei insgesamt durch eine beschleunigte Konvergenz mit den USA gekennzeichnet. Die Diversität der Sozialmodelle impliziere, dass die Unterschiede innerhalb der EU (bspw. zwischen Schweden und Großbritannien) größer seien, als zwischen EU und USA. In der Fixierung auf den ausgeglichenen Staatshaushalt sei die EU der am Wachstums- und Beschäftigungsimperativ orientierten teilkeynesianischen Politik der USA deutlich unterlegen. Einzig und allein der stärker ausgeprägte öffentliche Sektor und der zunehmende Widerstand gegen die Privatisierungsagenda unterschieden die EU und die USA großartig. Fox Piven unterstrich hiergegen die Unterschiede zwischen EU und USA. Der Niedergang des amerikanischen Wohlfahrtsstaates sei beispiellos: Das höhere Lohnniveau sei stets die Legitimationsgrundlage gewesen, dass man in den USA ein weniger ausgebautes Sozialsystem habe, als in Europa. Auch am Arbeitsmarkt sei die Lage alles andere als rosig: Sinkenden Arbeitslosenzahlen in Europa stünden steigende in den USA gegenüber. Und doch gebe es Anlass zur Hoffnung: Der Wohlfahrtsstaat aus New Deal und Great Society habe unauslöschbare Erinnerungsspuren hinterlassen, die sozialräuberische Ablenkungsstrategie des Irakkriegs habe versagt und die drängende soziale Frage habe die Wahlen bestimmt. Michael Krätke warb hiernach dafür, die impliziten politischen Potentiale des EU-Sozialmodells zu nutzen. Selbst nach harten ökonomischen Kriterien erweise sich das EUSM als wettbewerbsfähig, alles andere seien Märchen der Wettbewerbsreligion. Die EU-Regionalfonds könnten als Vorbild gelten, makropolitische Harmonisierungen auch in der europäischen Steuergesetzgebung herbeizuführen. Ein Brechen der Steuerkonkurrenz könnte der Linken auch helfen, den Glauben an die Politik zurückzubringen.

In der Podiumsdiskussion zum Verhältnis von Imperialismus und Nationalstaat diskutierte Leo Panitch mit David Harvey und Peter Gowan. Panitch stellte der Öffentlichkeit seine Kritik an Harveys Imperialismustheorie vor. Das Problem der alten und neuen Imperialismustheorie sei ihre Fixierung auf den Krisenbegriff. Das amerikanische informelle Imperium ließe sich nicht mit dem Verweis auf die Überakkumulation erklären. Die Vertiefung der kapitalistischen Sozialbeziehungen im Inneren sei viel bedeutender gewesen, als der Export von Kapital oder Waren in „unbedeutende“ und arme Länder. Vielmehr gehe es beim Imperialismus darum, dass im Gegensatz zum alten Imperialismus, bei dem die – in Harveys Begriffen – territoriale Logik vorherrschend gewesen sei (Mehrwertaneignung durch territoriale Expansion), sich die kapitalistische Logik heute die territoriale Logik unterordne (Herstellung der „universellen Gesetze der Gerechtigkeit“, d.h. der kapitalistischen Herrschaft des Gesetzes). Es sei falsch, für den Irakkrieg den Begriff des Imperialismus zu verwenden, da die tiefere Bedeutung in der Herstellung der kapitalistischen Sozialbeziehungen als sozial vermittelte Herrschaft und Grundlage für die Kapitalakkumulation v.a. US-amerikanischer Unternehmen. Die zunehmend gewaltförmige Durchsetzung der Globalisierung sei das Resultat einerseits des Zerfalls am Rande des Imperiums und andererseits der Versuchung der USA, nach dem Zusammenbruch des realexistierenden Sozialismus das Management des globalen Kapitalismus mit militärischen Mitteln zu organisieren. Dementsprechend könne auch nicht von einem amerikanischen Niedergang gesprochen werden, da es keine nationalen Bourgeoisien mehr gebe. Einzig und allein in China deute sich ein Prozess an, der mit der Entstehung einer klassischen nationalen und nichtintegrierten Bourgeoisie auf die Wiederkehr klassischer zwischenimperialistischer Konkurrenz hindeuten könnte.

David Harvey stellte die jüngsten Verfeinerungsüberlegungen seiner Imperialismustheorie vor. Diese orientiere sich an der ihm gegenüber geäußerten Kritik, Harvey verdingliche den Staat. Tatsächlich sei es zu bedauern, dass die marxistische Staatsdebatte in den 1980er Jahren langsam von der Bildfläche verschwand. Allerdings habe es in der alten Staatsdebatte keine Raum-Zeit-Theorie gegeben, sondern in dieser sei es lediglich um das Begreifen des Verhältnisses zwischen Staat und Akkumulation, Klasse und Kapital, etc. gegangen. Dabei sei der Staat in der Tat ein Artefakt, ein Konstrukt, allerdings ein sehr mächtiges. Er konstruiere Identitäten, Loyalitäten, Glauben an Immaterielles (z.B. an den Dollar als sichere Währung), verstärke diese aber, sobald sie einmal in der Welt seien und schaffe den Glauben an eine räumliche Struktur des Planeten, die Ländergrenzen (z.B. zwischen Frankreich und Deutschland) nahe lege, die man in der Realität so aber nie zu Gesicht bekommen könne. Drei Raum-Zeit-Theorien gelte es zu entwickeln und zu unterscheiden: die „absolute Theorie von Raum und Zeit“ (Newton/Descartes: „da, wo ich bin, kann kein anderer sein“), die „relative Theorie von Raum und Zeit“ (Einstein: „wie weit ist die Distanz zwischen dir und mir?“) und die „relationale Theorie von Raum und Zeit“ (Leibniz: „ich kann mich selbst nur verorten im Verhältnis zu einem Gegenüber“). Der Imperialismus müsse (ebenso wie der Antiimperialismus) verstanden werden als die „Mobilisierung relativer Raumglaubensstrukturen“. Vor diesem Hintergrund sei die Staatsdebatte noch einmal ganz von vorne zu führen.

Die US-amerikanische Linke führt ihre Debatten heute mit einer bemerkenswerten Radikalität. Unterstrichen wurde diese Radikalität noch einmal von dem marxistischen Wirtschaftswissenschaftler und Herausgeber von Rethinking Marxism, Richard Wolff, der in der Debatte zwischen ihm, Leo Panitch und David Manley über den vermeintlichen Gegensatz von Reform und Revolution die Linke insgesamt als polanyisch von Formationskrise zu Formationskrise oszillierend karikierte, wobei es doch darauf ankomme, aus dem Profitprinzip endgültig auszubrechen. Gleichzeitig deutet besagte Radikalität auch auf den marginalisierten Status der amerikanischen Linken hin. Ähnlich wie bei vielen historischen Vorbildern führt die scheinbar folgenlose Niederlage der Rebellion, wie derjenigen von 1968, oder die kooptative Teilverwirklichung ihrer emanzipatorischen Zielen, deren innerer Gehalt dabei „ver-rückt wird“ (Mario Candeias), und die hiermit einhergehende Marginalisierung – im zweiten Fall des radikalen und nicht-kooptierbaren (antikapitalistischen) Kerns – zu einer (manchmal von der übrigen Bevölkerung entfremdeten) Radikalisierung. Ein historisches Vorbild für die Dialektik von Marginalisierung und Radikalisierung ist in den USA sicherlich die ursprünglich universalistische afroamerikanische Emanzipationsbewegung. Dass und wie diese Radikalisierung auch nach rechts ausschlagen kann (identitätspolitisch), haben Paul Gilroy oder Arthur H. Williamson gezeigt. Die neue Dialektik von Marginalisierung und Radikalisierung in den USA heute ist bemerkenswert: So überraschend die vergleichsweise geringe Ausstrahlungskraft der ansonsten größten linken Konferenz in den USA ist, so überraschend ist eben auch die Vehemenz und Radikalität und das hohe politische Niveau der (stark akademischen) Debatte.