Den Rahmen der 7. Arbeitstagung der Marx-Engels-Stiftung bildeten sieben Referate zum Thema Prekarisierung, die auch als Buchform erscheinen sollen. Einleitend argumentierte Werner Seppmann (Vorsitzender der Marx-Engels-Stiftung, Wuppertal) für einen differenzierten Prekariatsbegriff. Die Ausgeschlossenen stellten „keine so homogene Gruppe dar, wie sie gewöhnlich wahrgenommen werden“. Prekarisierung habe dagegen Prozesscharakter, die subjektiven Verarbeitungsformen seien durchaus unterschiedlich.
Den Begriff des abgehängten Prekariats bewertete Seppmann als „beschreibend, nicht analytisch“. Wichtig sei, das Prekariat in einen größeren Kontext zu stellen, als Ausdruck eines „Modells der Anpassung durch extremen Druck“, als neuen Herrschaftsmodus im Kapitalismus. Dagegen existiere Sozialpartnerschaft heute unter umgekehrten Vorzeichen: Von Kapitalseite werde durchaus Konsens, allerdings „auf dem Niveau von Sozialabbau“, gesucht. Danach referierte Magnus Brod (Marburg) über die Veränderung im Bereich Frauenerwerbsarbeit. Die Zunahme der Frauenerwerbstätigkeit stelle bei einer gleich bleibenden geschlechtsspezifischen Arbeitsmarktsegregation die „Norm“ zunehmend in Frage. Die Erosion des Normalarbeitsverhältnisses und die mit der fortschreitenden Prekarisierung einhergehenden Veränderungen seien schon immer die Normalität weiblicher Beschäftigter gewesen, so Brod. Eine wirksame Gegenstrategie müsse die Reformulierung traditioneller und geschlechtsspezifisch auf Männer ausgerichteter Rollen und Leitbilder im Bereich der Produktion wie Reproduktion einbeziehen. Nur auf diese Weise sei es möglich, „die Spaltungslinien der ArbeiterInnenklasse zum Nutzen einer gestärkten Verhandlungsmacht zu überwinden“.
Michael Klundt (Frankfurt/M./Berlin) spannte anschließend den Bogen zur aktuellen Armutsdiskussion. Wie auch die ‚Unterschicht‘-Debatte um die Studie der Friedrich Ebert Stiftung zeige, werde die Problematik nicht zuerst in der Armut, sondern bei den Armen gesehen. Die Befürchtung der Herrschenden, dass sich die Unterschicht durch Gewalt und Kriminalität von „konsensualen Normen“ der Gesellschaft entfremde, werfe die Frage auf, ob es nicht gerade die Normen in Form von sozialdarwinistischen Konkurrenzprinzipien seien, die die Betroffenen verinnerlicht hätten. Gleichzeitig verwies er auf die Ausblendung der Klassenverhältnisse in der offiziellen Diskussion: „Je mehr gerade die materielle Bedürftigkeit zunahm, desto mehr wurde betont, dass traditionelle Konfliktlinien keine Rolle mehr spielen würden.“
Der Politik- und Sozialwissenschaftler Ekkehard Lieberam (Leipzig) betonte, dass die marxistische Linke in der Debatte um die Unterschicht verstärkt gefordert sei. Es gelte, „die Verteilung von Armut und Reichtum stärker zu skandalisieren“. Zudem müsse der Zusammenhang zwischen dem Modus der Kapitalakkumulation auf der einen und Armut bzw. Reichtumsentwicklung auf der anderen Seite in den Vordergrund gerückt werden. Weiterhin nannte Lieberam drei strategische Probleme, mit denen sich die marxistische Linke weiter auseinandersetzen müsse: Erstens gelte es, die weitere Verschärfung der Klassengegensätze und die politischen Konsequenzen daraus einzuschätzen. Zweitens sei es Aufgabe der marxistischen Linken, klarer in der Debatte aufzutreten und „jede Kumpanei mit den Neoliberalen zu attackieren“. Und drittens müsse der herrschenden Klasse die neoliberale Hegemonie streitig gemacht werden.
Prof. Dr. Wolfgang Richter (Hochschullehrer, Mitglied des Stadtrats Dortmund) stellte die Dortmunder Studie „Der ‚workfare state‘ – Hausarbeit im öffentlichen Raum“ vor. Das Ziel der Studie besteht darin, die „Erosion des Sozialstaats kritisch zu beobachten“ und die Verwandlung des „dysfunktional gewordenen ‚welfare state‘ des zwanzigsten Jahrhunderts in einen ‚workfare state‘ für das einundzwanzigste“ zu beschreiben. Die Vermittlungsquote aus Arbeitsgelegenheiten in den ersten Arbeitsmarkt ist heute verschwindend gering; zu beobachten ist die Institutionalisierung eines dauerhaft abgekoppelten dritten Arbeitsmarktes.
Heiko Humburg referierte als Vertreter der Friedensbewegung über die veränderte Werbestrategie der Bundeswehr seit den 1990er Jahren. Die Bundeswehr erweitert kontinuierlich ihre Einflusssphäre, wie ihrdas Engagement an Schulen, im Bereich der Lehrerausbildung und der Öffentlichkeitsarbeit zeigt. Vordergründiger Aspekt der Nachwuchswerbung ist dabei, so Humburg, nicht mehr das Berufsbild des Soldaten, sondern der sichere Arbeitsplatz. Die Bundeswehr will direkt von der anhaltenden Arbeitslosigkeit profitieren.
Hans Günter Bell (Köln, Stadtplaner, Sozialwissenschaftler) sprach abschließend über „Kontinuität und Wandel des Lohnabhängigenbewusstseins“. Bei den Arbeitern kann heute, so Bell, „von einer durchgängigen Auflösung des Selbstverständnisses ... keine Rede sein“. Die SPD werde nach wie vor als die „Partei der kleinen Leute“ gesehen, jedoch würden auch verstärkt soziale Unterschiede wahrgenommen. Zur Wirkung von Krisenprozessen auf das Bewusstsein von Lohnabhängigen meinte Bell zusammenfassend, dieses Bewußsstsein werde nicht durch die ökonomische Lage determiniert, Krisen führten nicht unmittelbar zum Herausbilden von Klassenbewusstsein.
In den Diskussionen zu und zwischen den Referaten wurden aber noch weitere Fragestellungen aufgegriffen. Während Seppmann betonte, dass der Begriff des Prekariats durch seine kritische Besetzung im Alltagsbewusstsein brauchbar werde, verwies Lieberam auf die noch herauszuarbeitende Trennschärfe zwischen Prekariat und Arbeitslosen. Zudem müsse eine Aussage darüber gemacht werden, wie der Klassenbegriff mit dem des Prekariats vermittelt sei.