Entgegen der zeitweiligen Behauptung mancher abgeirrter Linker kommt in der praktischen Politik die Macht nur in seltenen historischen Ausnahmesituationen aus den Gewehrläufen. Macht, sagt der bürgerliche Soziologe Max Weber, bedeutet „jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel worauf diese Chance beruht.“[1] Geschieht diese Durchsetzung des Willens der Ausbeutenden gegenüber den Ausgebeuteten dauerhaft lediglich durch die vorgehaltene Pistole, verschleißt dieses Instrument in historischen Maßstäben gemessen schnell. Dies wussten bereits diejenigen, die noch keine Pistolen kannten: Die ganze Geschichte der Macht im Feudalismus ist überwiegend eben keine Geschichte von gepanzerten Ritterheeren, die bestenfalls mit Sensen bewaffnete Bauernhaufen niederreiten, sondern vor allem eine Geschichte der lähmenden Macht der Kanzel, die in den Dörfern „gegen Widerstreben“ der Vernunft eine vermeintlich göttliche Ordnung durchsetzte, die vor allem die Taschen der diese Ordnung vertretenen Obrigkeit füllte. Nur als das bröckelte, ritten die Heere und ersoffen die Widerstrebenden bei Bad Frankenhausen in Thüringen in ihrem eigenen Blut – in einem Tal, das heute noch „Blutrinne“ heißt. Die Jahrtausende alte Losung „There is no alternative“ hatte also eine gepanzerte wie vatikanische Aura. Und die Aura der Macht ist stets auch die Macht der Aura gewesen.
Wir wissen nicht erst seit Pinochet, daß hinter jeder bürgerlichen Staatsform, mag sie noch so kulturvoll daherkommen, diese Potenz immer verborgen liegt: Wir sehen uns einer bürgerlichen Hegemonie gegenüber, die gepanzert ist mit Zwang.[2]
An ihrer Stelle aber wirkliche Demokratie durchzusetzen, hieße, eine Gesellschaft zu errichten, in der die Macht sich auflöst in einen Zustand, in dem eben nicht mehr Widerstreben und Durchsetzen des Willens einzelner gegen die Sozialität, sondern die Herausbildung eines gemeinsamen Konsens möglichst aller die Gesellschaft prägt. Eine Gesellschaft, die von Klassen zerrissen ist, von denen die eine die andere(n) ausbeutet, ist dazu strukturell nicht in der Lage. Insofern bleibt jede linke Politik, die sich selbst konsequent zuende denkt, immer auf die Überwindung und letztlich Abschaffung von antagonistischen Kardinalkonflikten bezogen.
Aber sie kann diesem Ziel nur näherkommen, wenn die Möglichkeit auf eine so grundlegend andere Gesellschaft sich nicht nur im Bewusstsein einer kleinen Gruppe, sondern der ganz überwiegenden Mehrzahl der Menschen einer Gesellschaft herausbildet.
Die französische Revolution, der wir bis heute – zumindest innerhalb der Linken unumstritten – so unendlich viel zu verdanken haben und deren Errungenschaften genauso wenig unumkehrbar sind, wie diejenigen der auch innerhalb der Linken umstritteneren Oktoberrevolution, ging der Aufklärung, dem Kampf gegen die lähmende Macht der Kanzel, nicht voraus, sondern folgte ihr. Die aufsteigende Klasse der Bourgeoisie – dies unterschied sie qualitativ vom 1789 mitkämpfenden Proletariat – konnte ihre Söhne und Töchter auf den besten Lehreinrichtungen der Welt auf die künftigen Führungsaufgaben einstellen. Der große italienische Revolutionär und Intellektuelle Antonio Gramsci riet darum dem Proletariat, sich organische Intellektuelle auch anderer Schichten und Klassen heranzuziehen bzw. auch „zu pachten“. Brechts „Lob des Lernens“ macht hingegen Empfehlungen, dieses strukturelle Defizit des Proletariats authentisch zu kompensieren („Lerne, Mann im Asyl! / Lerne, Mann im Gefängnis! / Lerne, Frau in der Küche! / Lerne, Sechzigjährige! / Du mußt die Führung übernehmen! / Suche die Schule auf, Obdachloser! / Verschaffe dir Wissen, Frierender! / Hungriger, greif nach dem Buch: Es ist eine Waffe. / Du mußt die Führung übernehmen.“)
Die demokratische Revolution in Deutschland, deren Vorläufer wir hoffentlich sind, kann sich nur einstellen, wenn ihr die massenhafte Herausbildung des Bewusstseins der Notwendigkeit und Möglichkeit eines anderen Lebens, anderer gesellschaftlicher Strukturen vorausgeht. Wer nach der Tragödie unserer Niederlage von 1989 glaubt, der mühseligen Arbeit an der Erringung einer solchen Hegemonie ausweichen zu können, endet bestenfalls als historische Farce.
Die Vordenker der Aufklärung waren überzeugt: Wenn die Leute erst selbst lesen können, dann schrumpft die Autorität der des Lesens allein kundigen Geistlichkeit. Das hat uns die kostbare Errungenschaft der Alphabetisierung der Bevölkerung in allen entwickelten Gesellschaften gebracht. Wir wissen aber inzwischen: Diese Fähigkeit allein bringt Aberglaube und Borniertheit noch nicht aus der Welt.
Gramsci sah sich selbst und die Seinen einem tief gestaffelten System kultureller Hegemonie gegenüber, hinter dem sich die Macht der Ausbeutergesellschaften verschanzt hatte. Das System war – das hatte 1917 gelehrt und das gelang auch 1949 wieder – überwindbar. Aber es war auch überwindbar dadurch, daß in den Milieus der Arbeiter, teilweise auch der abhängig beschäftigen Landbevölkerung, eigenständige Gegenkulturen entstanden waren, die sich in hohem Maße dem Einflusszugriff der herrschenden Gesellschaft entzogen.
Der junge Gramsci übertitelte einen Aufsatz zum russischen Umsturz 1917: „Revolution gegen Das Kapital“. Die Bolschewiki revoltierten also nicht nur gegen das Kapital, sondern auch gegen eine damals unter Dominanz von Kautsky herrschende deterministische Marx-Interpretation. Und in der Tat war Lenins Geniestreich die Forderung nach „Land für die kleinen Bauern“, womit er die Parole vom Arbeiter-und-Bauernstaat schuf. Eine ähnlich geniale Entdeckung in Europa steht grundsätzlich noch aus.
Gleichzeitig entdeckte Lenin die nationale Frage neu, bzw. spitzte Otto Bauers Erkenntnisse entsprechend neu zu. Mit dem Ausbleiben einer erfolgreichen deutschen Revolution musste die Weltrevolution zunächst territorial eingegrenzt werden. Es ist dies einer der wenigen Anknüpfungspunkte zwischen Antonio Gramsci und Ernst Thälmann: den rechten Nationalismus zu bekämpfen und zwar mit einem Begriff des demokratisierten Nationalen. Als die Linke – viel zu spät – Demokratie und Nation wahlprogrammatisch zusammenbrachten, 1932, verloren die Nazis 1,4 Millionen Stimmen. Auch Ernst Bloch hat in diesem Sinne für einen nichtmystischen Heimatbegriff plädiert und argumentiert: „Kampflos, Genossen, habt Ihr das Kleinbürgertum dem Faschismus überlassen!“.
Aktualität Gramscis – als Revolutionär
Gegenwärtig erleben wir zu Recht eine verstärkte Zuwendung zu Antonio Gramsci. Die in der Geschichte seit dem „Kommunistischen Manifest“ wellenförmig zu beobachtende Wiederaneignung von Klassikern und Nachklassikern, die zeitweise fast vollständig in Vergessenheit geraten, verweist darauf, daß sich hinter dem Rücken der politisch auf der Bühne Handelnden tektonische Verschiebungen in den gesellschaftlichen Strukturen ergeben, die auf der politischen Oberfläche dann eben ein solches erneutes Reflexionsinteresse erzeugen.
Gramscis Renaissance ist die zweite innerhalb von 30 Jahren. Die erste hing – Ende der 60er und Anfang der 70er Jahre – vor allem mit seinen Reflexionen über den „organischen Intellektuellen“[3] zusammen. In jenen Zeiten wurde er – unseres Erachtens zu Unrecht – vor allem gegen die vermeintlich orthodoxen Marxisten in Stellung gebracht. Aber weder die Verwendung von Gramsci durch weiland Schröders Thinktank noch die Gramsci-„Lektüre“ der Jungen Freiheit vermögen den großen Hegemonieforscher von der nur links interpretierbaren Geschichte der Klassenkämpfe zu entfremden: Er sah seine Arbeiten nie im Gegensatz zu denen Lenins, stellte kulturelle Umbrüche nie gegen ökonomische und verwendete den Begriff „Hegemonie“ niemals als Alternative zu dem einer „proletarischen Demokratie“. Er hat sich allerdings seine Rezeption von Marx nicht auf theologische Bibelinterpretation zurechtstutzen lassen – und verdient natürlich gleiches von uns heute hinsichtlich seiner Werke.
Die heutige Wiederaneignung von Gramsci hängt mit zwei Veränderungen zusammen, die uns in eine Situation bringen, in der die abermalige Lektüre der Gefängnishefte nützlich ist. Ein Aspekt soll hier nicht weiter ausgeführt werden, weil er ein eigenes Thema ist: Seine Überlegungen über die „fordistische Revolution“ und die damit einhergehende Einbindung der Gewerkschaften in das kapitalistische System, vor allem aber die Beschränktheit dieser Einbindung.[4]
Für unser Thema wesentlicher ist das, was der große Italiener uns mehr als Aufgabenstellung denn als Lösungsvorschlag in seinen Gefängnisheften hinterlassen hat: „... § 49. Kulturthemen, Ideologisches Material. Eine Untersuchung darüber, wie die ideologische Struktur einer herrschenden Klasse tatsächlich organisiert ist: das heißt die materielle Organisation, die darauf gerichtet ist, die theoretische oder ideologische Front zu bewahren, zu verteidigen und zu entfalten. Der beträchtlichste und dynamischste Teil derselben ist die Presse im allgemeinen: Verlagshäuser (die implizit und explizit ein Programm haben und sich auf eine bestimmte Strömung stützen), politische Zeitungen, Zeitschriften jeder Art, wissenschaftliche, literarische, philologische, populärwissenschaftliche usw., unterschiedliche Periodika bis hin zu den Mitteilungsblättern der Kirchengemeinden. Eine derartige Untersuchung wäre riesenhaft, wenn im nationalen Maßstab durchgeführt ... Die Presse ist der dynamischste Teil dieser ideologischen Struktur, aber nicht der einzige: all das, was die öffentliche Meinung direkt oder indirekt beeinflusst oder beeinflussen kann, gehört zu ihr: die Bibliotheken, die Schulen, die Zirkel und Clubs unterschiedlicher Art, bis hin zur Architektur, zur Anlage der Straßen und zu den Namen derselben. Die Stellung, welche die Kirche in der modernen Gesellschaft bewahrt hat, ließe sich nicht erklären, wüsste man nichts von den täglichen und geduldigen Anstrengungen, die sie macht, um fortwährend ihren besonderen Abschnitt in dieser materiellen Struktur der Ideologie zu entwickeln...“[5]
Eine solche Untersuchung wäre heute schon quantitativ noch gigantischer als damals[6]. Der Grund liegt auf der Hand: Alle materiellen Instrumente für die Erringung ideologischer Hegemonie, die Gramsci aufzählt, produzierten damals gedrucktes Material. Er starb in einer Zeit (1937), in der mit dem faschistischen „Volksempfänger“ die damals herrschende Klasse über das gedruckte Material hinaus eine akustische materielle Struktur der Ideologie aufbaute. Er starb vor der Zeit, in der – die bescheidenen Anfänge von Massenkultur-Beeinflussung durch Kinos aufgreifend – das Fernsehen dieser materiellen Struktur des Gedruckten und der materiellen Struktur des Gehörten die materielle Struktur des Gesehenen und Gehörten hinzufügte.
Umschlag von All- in Ohnmacht
Die These, die wir mit diesem Aufsatz verfechten lautet darauf aufbauend: Gerade die Vielfalt und sinnliche Allmacht der kulturhegemonialen Strukturen der Herrschenden nähert sich einem Punkt, in dem All- in Ohnmacht umschlagen könnte, wenn die Beherrschten in der Lage sind, sich autonom kollektiv selbst zu vernetzen und die Vielfalt der kulturellen Hegemoniestrukturen für ihre Auflösung zu nutzen lernen.
Dies ist natürlich ein Satz, der einer konkreten Erläuterung seiner einzelnen Teile bedarf.
Jeder einigermaßen geschichtsbewusste Linke kennt die Parole, die der Geburtsschrei der legendären „68er“-Bewegung war: Enteignet Springer! Diese Parole wäre unverständlich und sinnlos gewesen und hätte nicht die Resonanz gefunden, welche sie – bis zur Blockade der Auslieferung der BILD-Zeitung – gefunden hat, wenn diejenigen, die sie riefen, gemeint hätten, trotz einer solchen Enteignung würde sich nichts ändern am gesellschaftlichen Klima im Land. Die Frage, ob dies tatsächlich so gewesen wäre, steht hier nicht zur Untersuchung an. Aber zumindest konnte damals massenhaft der Eindruck entstehen, es gäbe eine solche Konzentration von kultureller und ideologischer Hegemonie in einer Hand, daß ihre Entwindung aus dieser Hand substantiell die gesellschaftlichen Prozesse beeinflussen würde. Natürlich gab es auch damals neben der BILD-Zeitung bereits Radio und Fernsehen – aber sie waren aufgrund der Erfahrungen mit dem „Volksempfänger“ in einem heute kaum noch vorstellbaren Maße im Zugriff gesellschaftlicher Kräfte, zu denen neben den Kirchen auch Gewerkschaften gehörten. Die Programme selbst waren überschaubar: ARD und ZDF im Fernsehen und regionale, öffentlich-rechtlich strukturierte Radiosender im Rundfunk – mehr war nicht. Insofern war der Gedanke nicht so folkloristisch wie er heute scheinen mag. Wenn die Linke im Marsch durch die Institutionen die öffentlich-rechtlichen Rundfunk- und Fernsehanstalten nach links verschieben und dann die privatrechtlich organisierte gedruckte Gegenmacht, die sich um den Springer-Konzern herum gruppiert, zerschlagen würde – so die These –, dann wären dem Gegner die materiellen Mittel zur Aufrechterhaltung seiner kulturellen und ideologischen Hegemonie genommen.
Das ist Geschichte nicht nur deshalb, weil die Enteignung von Springer damals nicht gelungen ist und die morgens meistgekaufte Zeitung dieses Landes weiterhin die BILD ist. Auch wenn die aus dem Attentat auf Rudi Dutschke kurzatmig gefolgerte revolutionistische Forderung „Enteignet Springer!“ verfrüht kam und nichts Schlachtentscheidendes ändern konnte, außer einer kulturellen und ideologischen Fokussierung (an der auch später Günther Wallraff ansetzte) bleibt die Überführung der Verlagskonzerne Bertelsmann, Springer, Bauer und anderer in öffentlich-rechtliche Anstalten eine Perspektive der ökonomisch-demokratisierten Hegemonie.
Die grundlegenden Veränderungen gegenüber den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts hängen unseres Erachtens im Wesentlichen mit einem Prozess zusammen, der sich auf drei Begriffe bringen läßt: Industrialisierung, Versinnlichung und Zergliederung der ideologischen Struktur der herrschenden Klasse. Auf den Widerspruch von Sex und Sexualität haben schon Adorno und Marcuse verwiesen. Die Versinnlichung heißt also durchaus nicht sexuelle Befreiung (bei der wir mit Wilhelm Reich 1967 schon mal weiter waren als heute), sondern eine Sexualisierung der gesamten Gesellschaft bei gleichzeitiger Abdrängung der Sexualität aus den gesellschaftlichen Zusammenhängen in die privatisierte Intimsphäre, wo sie jedermanns und jederfraus eigenes autonomes Psychosenpotenzial wird, chiffriert als kompensatorischer Antipode zum sozialen Alltag und privat nicht weiter kommunizier- und hinterfragbar.
Heute haben wir eine Verbreitung der „Kunst am Bau“, der „Eventkultur“ und der Einbeziehung des Ästhetischen in die Marketingstrategie der Herrschenden bei Partei- und Konzernempfängen. (Hier wäre zum Weiterlesen Walter Benjamin geeignet, der darauf verwies, wie mit der Ästhetisierung des Politischen eine Entpolitisierung der Ästhetik einhergeht, auf Bühnen und anderen Sockeln.)
Die britische Schriftstellerin Francis Saunders („Wer die Zeche zahlt“) arbeitete empirisch heraus, wie CIA und FBI in der Nachkriegszeit Zigmillionen Dollar investierten, um gegenständliche, sozialkritische Kunst durch gegenstandslose abstrakte Ästhetik in Markt und Feuilleton zu ersetzen. (Wer bei diesem Hinweis vorschnell „Verschwörungstheorie“ schreit, möge sich entgegenhalten lassen, dass solcherlei Verschwörungen – auch im ästhetischen Raum – nicht dadurch weniger werden, dass es eine Theorie davon gibt.)
Die Industrialisierung kennt jeder, der in Pendlerzügen – statt des noch vor 20 Jahren üblichen Geschnatters der Leute miteinander – heute mit hoher Wahrscheinlichkeit einem Menschen gegenübersitzt, dessen Fuß im Takte der Musik wippt, die ihm sein iPod ins Hirn leitet, der ansonsten aber mit seiner Umwelt nicht in Kontakt zu stehen scheint.
Im geschichtlichen Verlauf hat sich die von Gramsci so bezeichnete „ideologische Struktur einer herrschenden Klasse“ immer weiter industrialisiert. Sie bestand eben im Feudalismus „nur“ in den Kirchen und war ansonsten das, was man heute im Neudeutsch als „Face-to-Face-Communication“ bezeichnen würde und was heute in diesem Neudeutsch eben die Ausnahme innerhalb der vielfältigen Kanäle der Kommunikation ist. Diese Industrialisierung lief über die Stufen „Druckmedien – Radio – Fernsehen – Internet“. Damit wird aber die Einkanal-Struktur des 17. Jahrhunderts, die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts durch den Volksempfänger zu einer Zweikanal- und in der zweiten Hälfte jenes Jahrhunderts durch das Fernsehen zu einer Dreikanal-Struktur wurde, nun endgültig zu einer Multikanalstruktur.
Diese Multikanalstruktur wird insofern gleichzeitig mächtiger als sie über mehrere Sinne in den Menschen dringt. Das ist im Prinzip nichts Neues: Die Macht der Kirche im Mittelalter beruhte darauf, daß das gesprochene Wort eingebettet war in einen Kranz von Mitteln, die nahezu alle Sinne des Menschen ansprachen: verglichen mit den Katen des Alltags ergreifend prunkhafte Räumlichkeiten, eine Halle gefüllt mit Gesängen, Orgelklängen, Weihrauch und rauschender, dem darbenden Alltag abgerungener Garderobe.
Das gedruckte Wort konnte zwar massenhaft verbreitet werden, aber es spricht unmittelbar nur den Augensinn an und bedarf zur Ansprache der anderen Sinneserfahrungen entweder großer Wortmacht oder aber begleitender Unterstützung. Der Volksempfänger war so eine Ergänzung: Die nachmittags gehörte und abends nachgelesene Führerrede hat per se größere Prägungskraft als die nur gelesene. Und das Fernsehen spricht bis auf den Weihrauch und die Atmosphäre des sakralen Raumes fast alle Sinne an und ist daher nicht umsonst die Kanzel des 20. Jahrhunderts genannt worden.
Wer die Medien der Herrschenden aufmerksam liest und ihnen zuhört, stellt ein zunehmendes Unbehagen darüber fest, daß diese scheinbare Allmacht, die sie aufgrund der Industrialisierung und Versinnlichung ihrer Apparate erreicht haben, ihnen wie Sand zwischen den Händen zu zerrinnen droht. Ihre Sorge ist begründet. Vor allem unter Jugendlichen verlieren nicht nur Zeitungen massiv an Aufmerksamkeit, ist nicht nur das Radio außer als eine Art akustische Tapete zur Musikberieselung meinungsbildend praktisch bedeutungslos geworden[7], sondern verliert auch das einst allmächtige und kulturbildende Fernsehen massiv an Einfluß. Wer glaubt, Volksmeinung werde „bei Cristiansen“ oder jetzt bei Frau Will gemacht, irrt – das dort dient mehr dem Meinungsbildungsprozess innerhalb der politischen Kaste, die nicht mit dem Volk zu verwechselt werden sollte.
Vor Euphorie allerdings sei gewarnt. Die Zergliederung der Medienindustrie ist aus mindestens zwei gewichtigen Gründen noch nicht ihre Schwächung.
Überspitzt gesagt ist es erstens so, daß sich derjenige über die Zerfaserung der gegnerischen Mannschaft auf dem Spielfeld nicht allzu sehr freuen sollte, dessen eigene Mannschaft sich gerade aufgelöst hat. Denn weitgehend aufgelöst haben sich diejenigen früher relativ geschlossenen Milieus der Arbeiterbewegung, die der herrschenden kulturellen Hegemonie etwas entgegenzusetzen vermochten. Der „rote Wedding“ war nicht nur das Phantasieprodukt eines revolutionären Musikers, sondern eine handgreifliche Tatsache, an der die Faschisten in Berlin selbst nach dem 30. Januar 1933 noch zu knabbern hatten, und solche Hochburgen der Arbeiterbewegung gab es nicht nur in Berlin, sondern auch in Hannover-Linden, dem Ruhrgebiet, Hamburg oder Wien.
Eine solche Gegenkultur in dieser Kompaktheit existiert heute nicht mehr und es wird noch zu erörtern sein, ob sie erneuert und durch Neues ersetzt werden sollte und könnte.
Zudem bedeutet der schmerzlich Mangel an Analysen über die Struktur herrschender Medienapparate nicht, daß sie nicht nach wie vor macht- und meinungsbildende Zentren hätte. Neben der ja weiter existierenden Springer-Zentrale oder dem Bauer-Imperium ist mit Sicherheit heute die Bertelsmann-Stiftung einer dieser Knotenpunkte, in denen Verständigungen über Schwerpunktthemen und Sprachregelungen stattfinden, die dann wenige Tage später synchronisiert nicht über alle, aber doch über die Leitmedien rauschen und über die Vielfalt der Kanäle eine Einfalt der Botschaft transportieren.
Wir haben es mit einer Zerfaserung der herrschenden Kultur bei gleichzeitiger Monopolisierung ihrer Verfügungen zu tun. Der wachsenden Vielfalt der Medien steht die Einfalt der Botschaften gegenüber. Dies schafft wachsende Nischen für eine demokratische Gegenkultur.
Die Chancen einer linken Gegenkultur ergreifen
Pierre Bourdieu führte den Begriff der „Gegenöffentlichkeit“ ein, der gleichzeitig einen Frontalangriff auf die herrschenden Journalisten und Intellektuellen darstellt, die er „trojanische Pferde des Neoliberalismus“ nannte. Paul Sethe sprach in den 50ern davon, dass die meisten Medien 50 Familien gehören würden. Dies hat sich mittlerweile in Deutschland auf maximal 15 reduziert. Während aber die Linke in der Weimarer Zeit noch eigene Agitprop-Gruppen und Theaterinitiativen ihr eigen nannte (deren prominenteste Beispiele Hanns Eisler und Ernst Busch waren) steht die Linke – trotz ihres gegenwärtigen parlamentarischen Erfolgs – noch immer ohne Hemd und Hose dar.
Der PDS-Parteivorstand gestattete sich über Jahre den Luxus, nicht einen einzigen Zuständigen für Kulturarbeit zu haben. Während die winzige DKP noch den „Pläne-Verlag“ hatte, verfügte die PDS nicht mal über eine nahe stehende Künstleragentur. Das UZ-Pressefest wirkt heute noch wie ein Sprung mit Siebenmeilenstiefeln im Vergleich zu den „Liliputanerschritten“ der Partei DIE LINKE.
Wer eine humanistische Gegenkultur aufbaut, darf vor allen Dingen nicht die E-Kultur gegen die U-Kultur ausspielen. In der Hochkonjunktur der Friedensbewegung hatten zwar Dieter Süverkrüp und Franz Josef Degenhardt nicht das Massenpublikum von Klaus Lage, „Zupfgeigenhansel“ und den „Bots“, gleichzeitig war uns aber immer bewusst, dass sie zur Genussentfaltung unter Multiplikatoren – deren geschmackliche Bedürfnisse oft elaborierter sind als die einer rein populären Mitsinge-Kultur – mindestens genauso NOT-wendig waren. Die Wiederaufarbeitung des Brechtschen Erbes, die Beschäftigung mit humanistischer, klassischer Nationalliteratur, die Herausbildung von kämpferisch-revolutionären Autoren „eines wissenschaftlichen Zeitalters“ (Brecht) ist ebenso wichtig wie die Pflege von Breitenkunst und Unterhaltungskultur. Unsere Feinde wollen zerfasern, was uns Zusammenhang ist: die Dialektik von Spitze und Breite.
Ein in die Linke hineingeschlichener Zynismus muss dabei ebenfalls zurückgedrängt werden, auch wenn er als „Jugendkultur“fetisch daherkommt. Als die Bots 1982 „Das weiche Wasser“ sangen oder 1979 gegen die Nazis beim ersten Frankfurter Festival „Rock gegen Rechts“ mit ihren Liedern „Was wollen wir trinken“ und „Aufstehen“ aufspielten, gab es bald darauf von Spex, Spiegel und konkret eine ganze Gegenbewegung, die bis tief in die Friedensbewegung hineinreichte, populäres als populistisches weg zu ätzen und zu zerstören. Die Lieblingsworte dieser Feuilletons waren „unsäglich“ und „peinlich“, bzw. „mit Patschehändchen-Menschenketten gegen Missiles“, „lieber Pershing-Zwei als Peter Maffay“, „mit Wunderkerzen für den Frieden“ und ähnliche pseudosarkastische Kalauer. Als diese Parolen den Zeitgeist im sich damals privatisierenden Rundfunk munitionierten, wurden nicht nur die wenigen Sendeplätze für die linken Populärkünstler in der ARD gestrichen, sondern auch jene Redakteure und Mitarbeiter wie freie Mitarbeiter ins Abseits gedrängt, die mit diesen Band- und Liedermacherstrukturen verwoben waren. Wer nicht mehr um den Sieg kämpft, spuckt auch aufs Spielfeld herunter. Mit dieser Sportbeobachtung kämpfen heute noch die Feuilletonchefs in junge Welt und Freitag gegen populäre humanistische, demokratische Kunst.
Der spalterische Grundton in der linken Kulturszene hatte dann noch ein anderes feindliches Objekt: die Prominenten und Stars. Statt sie als „organische Intellektuelle“ in proletarische Zusammenhänge einzubeziehen, wird auf Künstlerhonorare bzw. hohe Produktionskosten in eifersüchtigem Diskurs verwiesen. Bestenfalls werden sie als Pausenclowns oder Publikumsmagneten missbraucht, wo es darum ginge, eine kontinuierliche Bündnisarbeit zu pflegen. Mit Gramscis kultureller Hegemoniearbeit hat dies nicht das geringste zu tun. Die Linke braucht um historischen Raum einzunehmen, die Tiefe von Empfindungen verschiedener Klassen, Schichten und Regionen: Dazu benötigt sie die Höhe des Intellekts und der Wissenschaften in zahlreichen sozialen Segmenten und die Breite des Bündnisses zwischen Promis und Nichtpromis zwischen „U“- und „E“-Kultur. Wir brauchen Populärkunst, avantgardistische Ästhetik in Eislerscher Tradition – aber auch wieder den oft verketzerten Agit-Prop-Einsatz.
Die Arbeit an einer Künstlerinnen-und-Künstler-Kartei, entsprechende Agentur-Netzwerke, die Notwendigkeit, in nahezu jedem Vorstand unserer Partei eine Kulturreferentenstelle einzurichten, eine perfekte Pressearbeit mit bürgerlichen Medien bei gleichzeitigem Ausbau von subversiven Instrumenten einer Gegenöffentlichkeitsarbeit, sind von kurzfristiger Bedeutung. Mittelfristig brauchen wir nicht nur die Arbeit mit befreundeten „Promis“, sondern auch die Möglichkeit, unsere Medien und unsere Bewegung zum Aufbau eigener Promis einzusetzen, so wie keine einzige gesellschaftliche Kraft ohne Kaderarbeit auskommt und auskam (weder wir noch unsere Gegner).
Mittelfristig müssen wir an einem Web-Radio arbeiten, an einem Internet Fernsehen und an Instrumenten, die Glaubwürdigkeit des Umfrage/Nachrichten-Kartells zumindest punktuell zu erschüttern. Während wir gleichzeitig populäre Ästhetik bis zu ihren trivialen Elementen auf Brauchbarkeit durchstöbern sollten, müssen wir andererseits auch die politische Theoriearbeit im Niveau radikalisieren – in Fragen der Ökonomie, des Staates und der Ästhetik. Politische Bildung ohne Brecht, Gramsci, Bloch, Lukács, Benjamin, Eisler usw. ist auf Dauer nur schwer vorstellbar. Gemeinsame Konzert-, Theater- und Ausstellungsbesuche müssen nicht nur für die Partei DIE LINKE, sondern auch für Gewerkschaften und soziale Initiativen auf die Tagesordnung kommen. Parteiversammlungen sollten nicht ohne Kunst ablaufen.
Auch die Leninsche Forderung nach einer eigenen Tageszeitung ist in der deutschen Linken nur „halb“ erfüllt. Das Neue Deutschland, UZ und die junge Welt haben in den alten Bundesländern eine zu geringe Leserschaft. Wenn wir uns diesen Tatbeständen nicht zuwenden, und zwar auch kurzfristig, kann eine der nächsten Wahlen schon zu einem Debakel werden und den längst erhofften Wunsch der Konzernmedien erfüllen, dass wir wieder in einen Abwärtstrend getrieben werden.
Es geht um eine Linke, die den Mensch von Kopf bis Fuß unter Einschluss von Herz, Bauch und Unterleib einbezieht, so nicht nur „über, sondern zu den Menschen spricht“ (Bloch), um Führungsfähigkeit in der Gesellschaft für reale Menschlichkeit herauszuarbeiten.
[1] Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, Tübingen 1972, S. 28.
[2] Sonja Buckel, Andreas Fischer-Lescano, Hegemonie gepanzert mit Zwang, Zivilgesellschaft und Politik im Staatsverständnis Antonio Gramscis, Baden-Baden 2007.
[3] Antonio Gramsci, Gefängnishefte, Band 7, Heft 12, § 1.
[4] Dazu sei hier unter anderem verwiesen auf den Aufsatz von Bernd Röttger, Passive Revolutionen – ein Schlüssel zum Verständnis kapitalistischer Umwälzungen und der aktuellen Krise der Gewerkschaftspolitik, in: Das Argument 270/2007, S. 179ff
[5] Antonio Gramsci, Gefängnishefte, Band 2, Heft 3, § 49.
[6] Am ehesten hat sich seitens der Linken dieser Aufgabe noch Dieter Prokop gestellt – hier insbesondere: Der kulturindustrielle Machtkomplex, Köln 2005.
[7] Es wäre einen eigenen Aufsatz wert, zu untersuchen, was es eigentlich über eine Gesellschaft aussagt, wenn heute die meisten Menschen mental nicht mehr in der Lage sind, auch nur 60 Minuten lang einem zusammenhängenden Text zuzuhören und entsprechende Sendungen, die noch vor 50 Jahren Menschen am Radio gefesselt haben, praktisch verschwunden sind.