Als vor einigen Jahren des 100. Geburtstags eines anderen bedeutenden Sozialtheoretikers gedacht wurde[1], fanden große Kongresse statt und schwappte eine Welle von Stellungnahmen durch das Feuilleton. Von wenigen Ausnahmen abgesehen, war der Tenor auch einer vermeintlichen Schülerschar einhellig: Von gegenwartsanalytischer Bedeutung seien die intellektuellen Anregungen des Jubilars – gemeint war natürlich Theodor W. Adorno – nicht mehr. Höchstens seine ästhetischen Arbeiten enthielten noch Anregungen für sozio-kulturelle Selbstverständigungsprozesse.
Sorgfältig, immer unter dem Deckmantel eines „kritischen“ Selbstanspruchs verborgen, war die Demontage der Kritischen Theorie in diversen Anläufen besonders intensiv von Habermas vorbereitet worden, der die Vorstellung verbreitete, dass Ökonomie und Alltagsleben weitgehend voneinander getrennt zu begreifen wären und eigene „Bereichlogiken“ besäßen, deren jeweiliger Geltungsanspruch nicht mehr in Frage gestellt werden könne: Während der ökonomische, durch instrumentelle Orientierungen geprägte Bereich durch seine reproduktive Funktionalität legitimiert sei, sollen die „kommunikativ strukturierten Lebenswelten“ als ein Hort der Selbstverwirklichung begriffen werden. Mit dieser theoretischen Positionierung wird jeder kritische Analyseanspruch ad absurdum geführt, weil systematisch verhindert wird, den Zusammenhang von kapitalistischer Verwertungslogik sowie den Prozessen zivilisatorischer Regression und sozialer Destruktion zu thematisieren. Normative Handlungshorizonte (die in Gestalt einer „kommunikativen Ethik“ eine Schrumpfform dessen darstellen, was früher einmal als Emanzipationsperspektive bezeichnet wurde) könnten in solch „einem sozioökonomisch entlasteten Klima“ (A. Honneth) nur noch als Appell zur Geltung gebracht werden: „Aufklärung“ habe auf Machtanalyse, vor allem aber Kapitalismuskritik zu verzichten und der die Klassenschranken überschreitenden Überzeugungskraft des besseren Arguments zu vertrauen.
Auch die intellektuellen Nachlaßverwalter eines Frankfurter „Instituts für Sozialforschung“ meldeten sich zu dieser Zeit mit der Feststellung zu Wort, dass ein fundamentaler Kritikanspruch obsolet geworden sei, weil – wie es wörtlich hieß – die „konkrete Totalität unserer Gesellschaft uns verborgen“ bliebe. Lässt man sich in den Zirkulationssphären eines solch postmodern gewendeten Geistes überhaupt noch zu einer Erklärung für den Paradigmenwechsel herab, so wird behauptet (und die Betonung liegt auf behauptet), dass die Wirklichkeit so zersplittert und fragmentarisiert wäre, dass ein stimmiges Bild von ihr kaum noch erarbeitet werden könne.
Die Pointe ist, dass auch eine dialektische Gesellschaftstheorie, gegen die eine solche Positionierung sich wendet, ebenfalls auf die sozio-kulturellen Auflösungs- und Verfallsprozesse sich bezieht – nur mit dem Unterschied, dass sie diese aus einer selbstzerstörerisch gewordenen Gesellschaftsdynamik zu erklären versucht. Die Spaltungs-, Auflösungs- und Desintegrationsprozesse werden zu strukturellen Ursachenkomplexen in Beziehung gesetzt. Eine Theorie, deren Kritikanspruch nicht nur Fassade ist, gibt sich mit einer resignativen Zustandsbeschreibung nicht zufrieden, sondern fragt nach den Ursachen gesellschaftlicher Widerspruchsentwicklungen, sozio-kultureller Pathologien und individueller Entzweiungen – ebenso wie auch den Chancen ihrer Beseitigung. Sie will wissen, warum trotz einer ungehemmten Produktivkraftentwicklung den Menschen immer größere Opfer abverlangt werden. Sie fragt ebenfalls danach, wie Gegenwehr sich entwickeln und die realgeschichtlich entstandenen Möglichkeiten eines selbstbestimmten Lebens realisiert werden können. In diesem umfassenden Sinne betrachtet sie die gesellschaftlichen Prozesse von „Unten“, aus der Perspektive der meist negativ Betroffenen. Mit der Behauptung jedoch, dass kritische, auf den Grund der Dinge zielende Gesellschaftsanalyse unmöglich geworden wäre, wird einem herrschenden Block in die Arme gearbeitet, dem es mehr als gelegen kommt, wenn seine Existenzbedingungen verschwiegen werden und die konkreten Formen der Reproduktion seiner Macht verborgen bleiben. Die mit methodischer Skepsis begründete Sprachlosigkeit über den Zusammenhang von Krise und zivilisatorischer Regression, Armut und Reichtum, ökonomisch motiviertem Ausdehnungsstreben und eskalierender Friedlosigkeit ist Funktionselement der Herrschaftsstabilisierung einer zunehmend sich internationalisierenden Kapitalelite. Marx hat prägnant den ideologischen Effekt solch intellektueller Selbstkastration beschrieben: „Es ist absolutes Interesse der herrschenden Klassen die gedankliche Konfusion zu verewigen ... [Denn] mit der Einsicht in den Zusammenhang ... [würde], vor allem praktischen Zusammensturz, aller theoretische Glauben an die permanente Notwendigkeit der herrschenden Zustände“ zusammenstürzen.
Kritik und Anpassung
In geradezu tragischer Weise hat Leo Kofler (1907–1995) mit seiner kritischen Einschätzung der Frankfurter-Schule (die er schon in den 50er Jahren formuliert und später präzisiert hat), recht behalten. Angesichts ihrer aktuellen Auflösungsdynamik hätte er darauf hingewiesen, dass es intellektuelle Akzentuierungen und mehr oder weniger sorgsam kaschierte Theorieelemente (mit opportunistischer Tendenz) bei den Schulgründern gibt, die einer solchen Selbstzerstörung des Denkens förderlich sind: Das Motiv der Gesellschaftsveränderung wurde von Horkheimer und Adorno schleichend durch intellektualistische Distanz und ein gestaltloses Verweigerungsprinzip verdrängt. Trotz des Wissens um solche Anpassungstendenzen hätte Kofler angesichts des Zustandes einer sogenannten „jüngeren Kritischen Theorie“, wie sie sich selbst euphemistisch nennt, jedoch einen Verlust beklagt. Denn trotz seiner fundamentalen Kritik an ihrem weltanschaulich zwiespältigen Charakter und einer Tendenz zur kulturkritischen Verallgemeinerung war er sich des produktiven Charakters der Beiträge ihrer Gründergeneration zum Verständnis spätbürgerlicher Machtstabilisierung bewusst. Seine fundamentale Kritik an der Frankfurter Schule war immer auch mit der Anerkennung dieser Leistungen verbunden. So betont er ihren „Verdienst ..., die neuen Phänomene der entwickelten kapitalistischen Gesellschaft [Vermassung, Beziehungslosigkeit, Verdinglichung, Entfremdung, Konformität etc.] ins kritische Licht gezogen“ und damit wesentliche Lücken im Verständnis der Gegenwartsgesellschaft geschlossen zu haben.
Eine Sozialtheorie, die den Prozessen der Massenintegration durch Selbstinstrumentalisierung auf der Spur bleiben wollte, musste sich tiefenpsychologischer Kategorien und Interpretationsmuster bedienen, wie sie im Umkreis des Instituts für Sozialforschung (maßgeblich von Erich Fromm, später von Herbert Marcuse) entwickelt worden waren. Schon in den frühen 50er Jahren war Kofler um eine Verbindung von Gesellschaftstheorie und Sozialpsychologie bemüht. Dabei war er sich darüber im Klaren, dass die tiefenpsychologische Sicht neue Erkenntnismöglichkeiten nur auf der Grundlage einer Analyse des gesellschaftlichen Gesamtprozesses erschließen konnte. Als notwendig erkannte er ihre Integration in eine materialistische Bewusstseinstheorie ebenso, wie in eine soziologisch fundierte Theorie der Herrschaftsreproduktion im entwickelten Kapitalismus. Für ihn war es dabei evident, dass eine sozialtheoretische Transformation psychoanalytischer Theoreme nur auf der Basis einer kritischen Auseinandersetzung mit dem Freudschen Welt- und Menschenbild fruchtbar sein konnte. Kofler sah im Gegensatz zu Horkheimer und Adorno keine Notwendigkeit, sich affirmativ zu den irrationalistischen Theorieelementen der Freud, Nietzsche und Schopenhauer zu positionieren, um den von der bürgerlichen Vergesellschaftungsweise in ihrer Spätphase erzeugten Irrationalismus analysieren zu können.
Ideologische Formierung
Systematisch betrachtet enthält Koflers Umgang mit den tiefenpsychologischen Erkenntnisweisen eine verallgemeinerbare Lehre für die Reaktion des Marxismus auf eine sich verändernde Welt. Er bemühte sich nicht, interpretativ die Weltveränderung seinen Denkmustern anzupassen, sondern war bestrebt, zu ihrem Verständnis die Denkmittel zu aktualisieren und zu akzentuieren: Offene Fragen werden durch die Weiterentwicklung des marxistischen Theorierahmens beantwortet. Thomas Metscher spricht in diesem Sinne von einem Integrativen Marxismus: Er gliedert sich nicht in eine plurale Vielfalt divergierender Ansichten und „Ansätze“ auf, sondern er integriert die neuen Erkenntnismomente in sein materialistisches Realitätsverständnis. Warum sollte auch der Marxismus nach Marx anders als Marx selbst verfahren, der seine Kritik der politischen Ökonomie, wie er es formulierte, als „kritisches Endergebnis der mehr als anderthalbhundertjährigen Forschungen der klassischen politischen Ökonomie“ begriff?
Die Ausgangssituation für die herrschaftskritische Rekonstruktions- und Begründungsarbeit war zu Beginn einer prosperitätskapitalistischen Entwicklungsphase alles andere als eindeutig: Denn verbreitet war der Eindruck, dass die entwickelten „Industriegesellschaften“ sich ohne sichtbaren Zwang reproduzieren würden. Von der Erweiterung subjektiver Handlungs- und Entfaltungsräume war die Rede, und in der damaligen Übergangszeiten schien es auch so, dass strukturelle Benachteiligungen ihre Prägekraft zunehmend einbüßen würden. Jedoch präsentierte sich der kritischen Gesellschaftsanalyse ein ganz anderes Bild: Die angeblich klassenneutrale „Modernisierungs-“ und „Individualisierungstendenz“ ließ sich als fortschreitender Prozess individueller Selbstunterwerfung dechiffrieren. Sichtbare Repressionsinstanzen waren zwar kaum mehr vorhanden – aber auch nicht mehr nötig. Denn die Machtimplikationen wurden zunehmend von den Subjekten verinnerlicht.
Koflers Analyse der ideologischen Prozesse reagiert auf die Tendenz, dass geistige Konformität vorrangig nicht mehr durch die Orientierung auf normative Weltbilder erzeugt, sondern durch die machtadäquate Formierung der Massenpsyche gesichert wird: „Die ideologischen Formen der Repression haben sich im 20. Jahrhundert weitgehend irrationalisiert und haben psychische Bereiche erreicht und besetzt, die in früheren Epochen noch Kräfte des Widerstands aufgespeichert hatten.“ (Kofler) Durch die warenförmige Überlagerung des Sozialisationsprozesses werden die Menschen emotional instrumentalisiert, so dass die Machtimplikationen der entwickelten kapitalistischen Gesellschaft sich in den psychischen Strukturen der Gesellschaftsmitglieder festsetzen.
Während eine aktuelle, marxistisch inspirierte Diskussion in vielen Bereichen den Reflexionsstand eines frühbürgerlichen Materialismus kaum überschreitet, weil Ideologie wesentlich auf den Modus einer „Vergesellschaftung von Oben“ reduziert wird (ironischerweise wird dieser Reduktionismus von seinen Vertretern als „Neubegründung marxistischer Ideologietheorie“ – wie es in einem „Historisch-kritischen Wörterbuch des Marxismus“ heißt – missverstanden[2]), durchschreitet Kofler das ganze, mehrfach gegliederte und geschichtete Terrain des Ideologischen, das seine Basis in den aus der Alltagspraxis resultierenden Bewusstseinsverzerrungen hat. Marx hat im Kapital – und Leo Kofler bezieht sich unmittelbar darauf – in seinen Analysen des fetischisierten Bewusstseins gezeigt, wie entfremdete Denkformen mit einer gewissen Zwangsläufigkeit durch die soziale Praxis unter kapitalistischen Bedingungen entstehen. Vermittelst des Warencharakters aller sozialen Beziehungen und durch die kapitalistische Prägung der gesellschaftlichen Arbeitsteilung bilden sich Bewusstseinsformen, die das Bild von den (klassengesellschaftlich strukturierten) sozialen Zusammenhängen systematisch verzerren: „Das Geheimnisvolle der Warenform besteht ... darin, dass sie den Menschen die gesellschaftlichen Charaktere ihrer eigenen Arbeitsprodukte selbst, als gesellschaftliche Natureigenschaften dieser Dinge zurückspiegelt“, heißt es im Marxschen „Kapital“. Der Eindruck einer scheinbar irreversiblen Festgefügtheit der herrschenden Zustände resultiert aus einer unreflektierten Alltagspraxis und muss den Menschen nicht, wie das „Historisch-kritische Wörterbuch“ meint, erst eingeredet werden: Der Dreh- und Angelpunkt des marxistischen Verständnisses ist, dass Ideologie von den Menschen nicht „empfangen“, sondern gelebt wird. Nur durch die Entstehung und Verfestigung affirmativer Denkmuster innerhalb des alltagspraktischen Verhaltens lässt sich die relative Veränderungsresistenz bürgerlicher Herrschaftsverhältnisse erklären. Durch die Anpassungstendenz des Alltagsbewusstseins ist jedoch die Notwendigkeit konzeptiver Ideologien nicht suspendiert. Ihr Einsatz ist im herrschenden Interesse zusätzlich nötig, um (nicht zuletzt als Reaktion auf radikale Kritik, die eine „Natürlichkeit“ des Kapitalismus in Frage stellt!) darzulegen, „dass die bürgerliche Welt die beste aller Welten ist“ (Marx).
Selbststabilisierungsfähigkeiten des Kapitalismus
Institutionelle Vermittlungsformen herrschaftsadäquaten Denkens (etwa die „Ideologischen Staatsapparate“, von denen Althusser gesprochen hat) besitzen trotz des „spontanen“ Charakters der ideologischen Basisprozesse eine große Bedeutung. Denn wenn Kriege um Öl geführt werden sollen und militärischer Interventionismus als tagespolitische Option gehandelt wird, ist die Bearbeitung des Massenbewusstseins unverzichtbar. Bei der Durchsetzung neoliberalistischer Glaubenssätze wurde der Einsatz traditioneller Propagandamittel sogar auf die Spitze getrieben. Jedoch machen diese tradierten Vermittlungsprozeduren nur einen Teil dessen aus, was bei Kofler als „Vergeistigung der Herrschaft“ analysiert oder was von Herbert Marcuse in gleicher Stoßrichtung als repressive Selbstreproduktion spätkapitalistischer Sozialverhältnisse thematisiert wird.
Leo Koflers und Herbert Marcuses Theorien des Spätkapitalismus sind als Antwort auf die Erfahrungen des XX. Jahrhunderts mit seinen massenintegrativen Prozessen zu verstehen, die die Aufmerksamkeit einer innovativen marxistischen Theoriebildung auf die Selbststabilisierungsfähigkeiten des Kapitalismus gelenkt haben: Warum und auf welche Weise gelingt es dem Kapitalismus als System der Krisen, des Unfriedens und der Ungleichheit, der Destruktivität und Perspektivlosigkeit immer wieder, die Menschen emotional und geistig an sich binden?
Es stellt sich angesichts des gegenwärtigen Entwicklungstandes der bürgerlichen Gesellschaftsformation und ihrer krisengeprägten Bewegungsform natürlich die Frage, ob mit einem Theorierahmen, der noch in der Zeit des Prosperitätskapitalismus entwickelt wurde, die aktuellen Prozesse der Machtstabilisierung subtil zu erfassen sind. Denn während in Zeiten des „Wohlfahrtsstaates“ Systemintegration durch konsumgesellschaftliche Regulationsformen flankiert und dabei den Menschen tatsächlich etwas geboten wurde, wird mittlerweile Unterwerfung wieder durch ein faktisches Zwangsverhältnis erzeugt. Während in den 60er und 70er Jahren die von Kofler analysierte „Dialektik von Genuß und Askese“ ihre integrative Wirkungskraft entfalten konnte, in dem die Menschen, um an den Verheißungen der Warenwelt sich beteiligen zu können, den repressiven Anforderungen der Arbeitswelt sich unterwerfen mussten, wird heute die Disziplinierung der Arbeitskraftverkäufer zu einem wesentlichen Teil durch die Universalisierung von Unsicherheit erzeugt, die ihre Grundlage in neuen Formen sozialer Verelendung und der Herausbildung eines neuen Pauperismus hat. Es ist angesichts manifester Reproletarisierungstendenzen die Angst vor dem sozialen Absturz, die Anpassungsbereitschaft provoziert. Wir erleben beispielsweise, dass die verunsicherten Lohnabhängigen Sichtweisen des Kapitals übernehmen, weil sie hoffen, doch noch einmal davon kommen zu können.
Diese selbstunterdrückenden Reaktionsformen und Verarbeitungsmuster sind jedoch nur ein Element des Prozesses ideologischer Unterwerfung. In seiner offensichtlichen Reibungslosigkeit kann das System der Selbstunterdrückung nur funktionieren, weil den aus der unmittelbaren Praxis entstammenden Bewusstseinsverzerrungen und Selbsttäuschungen (die wiederum von den Ideologischen Apparaten „formatiert“ werden) mehrschichtige Strukturen des Vor- und Unbewussten mit repressiver Funktionalität vorgelagert sind.
Leo Kofler hat mehrere tradierte Ideologiekomplexe mit – wie er es genannt hat – „tiefensoziologischer“ Wirkung unterschieden, die jeweils eine eigene Genese und eine differenzierte Funktionalität besitzen, sich aber gegenseitig beeinflussen und inhaltlich „ergänzen“. Festgefügte Vorstellungen wie beispielsweise die, dass sich „jeder selbst der Nächste“ ist, oder dass „Die-da-oben“ doch machen, was sie wollen, entsprechen zunächst einmal den unmittelbaren Sozialerlebnissen der Menschen. Doch solche pseudo-empirischen Feststellungen entfalten ihre vollständige Wirkung erst durch die Prägekraft der verinnerlichten Koordinaten eines – wie Kofler es nennt – „repressiven Menschenbildes“. Es besteht aus tief verwurzelten Bewusstseinsebenen, die auf die Interpretation und mentale Strukturierung aktueller Erlebnisse einen nachhaltigen Einfluss ausüben. Sie sind das Produkt der gesamten klassengesellschaftlichen Entwicklung der Menschheit: In ihnen sind die historischen Erfahrungen der Unterdrückung und der Mühseligkeit des Lebens der Subalternen gespeichert, die beispielsweise – um bei den aktuellen Problemkonstellationen zu bleiben – der Behauptung einer Alternativlosigkeit der herrschenden Zustände eine gewisse Plausibilität verleihen.
Obwohl seine Existenz vom Alltagsbewusstsein verdrängt und selbst eine Ahnung seiner Integrationswirkung aus der sozialtheoretischen Reflexion verbannt ist, kommt besonders dem repressiv strukturierten Gewissen eine zentrale Rolle bei der ideologischen Formierung und den „freiwilligen“ Unterwerfungshandlungen zu. Nur scheinbar haben sich die traditionellen Moralsysteme gelockert. Zwar existiert durch das verbreitete Bewusstsein individualistischer „Freiheit“ die Illusion „ungebundener“ Handlungsmöglichkeiten und eines grenzenlosen „Genusses“. Jedoch stößt dieses Selbstverwirklichungsstreben immer wieder an die Grenzen sowohl des „Realitätsprinzips“ als auch an die Demarkationslinien der verinnerlichten Verhaltensmuster und Normensysteme (in deren Kontext die Leistungsorientierung eine zentrale Rolle spielt). Deshalb gelingt, wie Kofler unterstreicht, die „Verletzung von tief ins Psychische versenkten Tabus und moralischen Grundsätzen ... nicht restlos, ja hinsichtlich der gesellschaftlich relevanten in einem äußerst eingeschränkten Maße. Dies erklärt sich aus dem unaufgehobenen Widerspruch des zur totalen Freiheit drängenden Enttabuisierungsstrebens zu der faktisch unangetastet bleibenden repressiven Ordnung, die eine Unterwerfung des Individuums und seine entsprechende moralische Anpassung voraussetzt.“ Jedoch hat Kofler auch die Grenzen „freiwilliger“ Anpassung gesehen. Durch die kapitalistische Widerspruchsentwicklung (bei der Hartz-IV-Gesetzgebung erleben wir das gerade aktuell) müssen die gesellschaftlichen Funktionsprinzipien immer wieder durch den Einsatz repressiver Mittel „erneuert“ werden: „Der Zwang erscheint somit als ein dialektisch unaufhebbares Element des kapitalistischen freien Vertragsverhältnisses.“ (Kofler)
Leo Kofler beschäftigt sich jedoch nicht nur mit den repressiv besetzten Seiten der menschlichen Psyche. Er hat auch auf die Existenz von archaischen Ebenen verwiesen, in der vor-klassengesellschaftliche Ahnungen, in der Form humaner Harmoniebedürfnisse und Momente des utopischen Verlangens, aufgehoben sind. Das Gewicht der einzelnen Bewusstseinsebenen bei der Bewertung und Verarbeitung aktueller Erfahrungen hängt von der Gesamtheit der politischen und ideologischen Konstellationen, von den sozio-kulturellen Hegemonialstrukturen, jedoch auch von den Interpretationsbedürfnissen des Alltagsdenkens ab. Die diversen Faktoren werden zu einem (in alltagspraktischer Relevanz) „homogenen” Weltbild verarbeitet, dabei individuelle Existenzansprüche mit den objektiven Anforderungen in Übereinstimmung gebracht.
Die Analyse der psychisch vermittelten ideologischen Reproduktionsprozesse ist bei Leo Kofler irreversibel mit der Rekonstruktion Marxscher Entfremdungstheorie verknüpft. Weil sie systematisch auf die Vermittlungsstrukturen von Subjektivität und Objektivität verweist und den Einfluss der antagonistischen Sozialverhältnisse auf die mentale und psychische Befindlichkeit der Menschen thematisiert, repräsentiert sie eine Erkenntnisbasis zum Verständnis aktueller Pathologien: Der entfremdungstheoretische Blickwinkel ermöglicht es zu ermessen, welche Leiden die warengesellschaftliche Organisationsform den Menschen abverlangt, in welcher Weise die gesellschaftlichen Subjekte zu Funktionselementen einer kapitalistischen Verwertungsmaschine, zu marketingorientierten bunten und flexiblen Fraktalen degradiert werden. Er vermittelt einen Begriff davon, welche psychischen Defekte die Aufrechterhaltung einer überlebten Sozialordnung verursacht, die Selbstinstrumentalisierung erzwingt und zwischenmenschliche Feindseligkeit erzeugt: „Neben den modernen Notständen drückt uns eine ganze Reihe vererbter Notstände, entspringend aus der Fortvegetation altertümlicher, überlebter Produktionsweisen, mit ihrem Gefolge von zeitwidrigen gesellschaftlichen und politischen Verhältnissen. Wir leiden nicht nur von den Lebenden, sondern auch von den Toten. Le mort saisit le vif!” (Marx)
Normative Voraussetzung der Gesellschaftskritik
„Für die Analyse der vielfältigen Formen der Ideologie im Spätkapitalismus bietet Kofler“, wie Ernst Bloch betont, „das ganze dedektorische Vermögen des Marxismus auf, dabei insbesondere den ‚breiten ideologischen Strom nihilistisch-irrationaler Vermittlungen‘ der absteigenden bürgerlichen Klasse herausstellend“.[3] Jedoch reichen ideologiekritischer Spürsinn und gesellschaftsanalytische Kompetenz alleine nicht aus, um das herrschende Bewusstsein mit seinen Vergeblichkeitsszenarien und der Behauptung einer Alternativlosigkeit gegebener Zustände konterkarieren zu können. Radikale Kritik- und Analysefähigkeit setzt vielmehr ein entwickeltes Menschenbild voraus, das den machtkonformen Vorstellungen menschlicher Schicksalsverfallenheit und der angeblichen „Natürlichkeit“ gesellschaftlicher Über- und Unterordnung widerspricht. Erst durch eine überzeugende Beantwortung der Frage, „was dem Menschen nützlich ist“ (eine Frage, die Marx im „Kapital“ gestellt hat), erhält die Kritik an den Verhältnissen, „in denen der Mensch ein geknechtetes und erniedrigtes Wesen ist“ (Marx), ihre theoretische Plausibilität. Angesicht der eskalierenden Widerspruchsentwicklung eines Kapitalismus, der mit destruktiver Kraft in immer weitere Lebensbereiche eindringt und nach dem ganzen Menschen greift, um noch die letzten Leistungsreserven aus ihm heraus zu pressen und durch die Verallgemeinerung von Unsicherheit eine archaische Form des Überlebenskampfs perpetuiert, ist diese Perspektive eines „Revolutionären Humanismus“ (Kofler) von ungebrochener Aktualität.
Auf die Implikationen des Koflerschen Anthropologieentwurfs auch nur in Umrissen einzugehen, ist an dieser Stelle nicht möglich. Aber es sei doch betont, dass ein dialektisches Menschenbild nicht auf ein abstraktes „Wesen“ zielt, wie eine triviale Anthropologiekritik penetrant unterstellt, sondern nach den „allgemeinen Bedingungen“ der menschlichen Existenz fragt. Anthropologie in dieser Perspektive definiert Kofler als Wissenschaft von den „unveränderlichen Voraussetzungen menschlicher Veränderbarkeit“. Um nur den wichtigsten Aspekt herauszugreifen: Es ist eine gattungsspezifische Fähigkeit, dass der Mensch sich seinen sozialen Lebensraum selbst schafft. Grundlage dieses Prozesses sozialer Selbsterzeugung ist sein bewusstseinsvermitteltes Arbeitsvermögen, das aller Gesellschaftlichkeit zugrunde liegt, aus dem sich zwar keine spezifische Vergesellschaftungsform ergibt, jedoch ein Möglichkeitshorizont selbstbestimmten Handelns.
Eine Zuspitzung des Denkens auf die Fragen der gattungsspezifischen Besonderheiten menschlicher Existenz ist unverzichtbar, um eine Vorstellung davon entwickeln zu können, welche Bedürfnisse und Zielsetzungen der humanen Selbstverwirklichung dienen, und daraus abgeleitet, welche sozialen Organisationsformen den menschlichen Elementarinteressen und Entwicklungsmöglichkeiten angemessen und damit erstrebenswert sind. Es geht in letzter Konsequenz um die wiederum von Marx im „Kapital“ gestellte Frage, welche Gesellschaftsformation die der „menschlichen Natur würdigsten und adäquatesten Bedingungen“ zu schaffen in der Lage ist.[4]
Leo Kofler weist in wiederholten Anläufen nach, dass kritische Gesellschaftstheorie ohne einen aus der historischen Existenz der Menschen abstrahierten, normativen Horizont nicht möglich ist. Radikale Gesellschaftsanalyse und die Perspektive umwälzender Praxis setzen einen alternativen Bezugspunkt voraus, denn sonst wäre ja nichts zu kritisieren, würde Sozialtheorie auf reine Funktionsanalyse reduziert: Der Sinn von Gesellschaftsveränderung bliebe unerschlossen, wenn nicht begründet würde, weshalb Ausbeutung und Unterdrückung überwunden werden sollen.
Dieser normative Bezugspunkt korrespondiert mit menschlichen Selbstentfaltungsansprüchen, die sich auch in einem entfremdeten Alltag immer wieder zur Geltung bringen – so marginal und gebrochen das auch immer geschehen mag: „Der Mensch handelte nicht, wenn er nicht gleichzeitig nach glückhafter Befriedigung des Eros strebte“, heißt es die von ihm analysierte „Dialektik von Eros und Tätigkeit“ zusammenfassend bei Kofler. Eros bedeutet in diesem Zusammenhang sozio-kulturell vermittelte Bedürfnisartikulation in einem umfassenden Sinne. Die Fragestellung verweist auf den Komplex der Triebkonstanten des „gesellschaftlichen Naturwesens“ Mensch. Koflers Triebbegriff ist jedoch nicht der Ratio und der Vernunft als Oppositionsprinzip gegenüber gestellt. Sie werden vielmehr als die verschiedenen Momente eines prinzipiell einheitlichen Komplexes von Motivationsstrukturen und konkreten Entäußerungsformen analysiert. Bedürfnisse und die Modi ihrer Befriedigung können eine „harmonische“ Einheit bilden, unter klassengesellschaftlichen Bedingungen stehen sie aber – mit negativen Konsequenzen für die psycho-soziale Stabilität der Menschen und infolge dessen für ihre Lebenszufriedenheit – in einem disproportionalen Verhältnis zueinander: Durch das ökonomische und kulturelle Entwicklungsniveau nicht mehr notwendige Formen des Daseinskampfes, der Zwang zu persönlichkeitsdeformierender Arbeit und zur Selbstinstrumentalisierung werden durch die kapitalistische Organisationsform der Gesellschaft (die trotz einer allgemeinen Reichtumsvermehrung Bedürftigkeit und Unsicherheit produziert) künstlich am Leben erhalten.
Erst durch einen konkret-soziologischen Bericht über das Verhältnis der historisch entwickelten Emanzipationspotentiale zum repressiven Entwicklungsstand der Produktionsverhältnisse wird das historisch-materialistische Programm zu einer konkreten Emanzipationstheorie – und ist davor gefeit, in einem unentschlossenen Räsonieren über die Schicksalsverfallenheit der Menschheit und die unüberschreitbare Dominanz der Manipulations- und Selbstunterwerfungsmechanismen stecken zu bleiben, wie es bei Adorno der Fall ist, in dessen Denken neben dem absolut gesetzten „Verblendungszusammenhang“ für einen alltagspraktisch verankerten Emanzipationshorizont kein Platz mehr ist.
Auch für Kofler ist das verdingliche Bewusstsein und die Machtverfallenheit der Menschen dominierend, jedoch nicht mit dem gesellschaftlichen Geschehen deckungsgleich: Auch das Gegenläufige und Widerständige müssen als reale Momente der historischen Dialektik wahrgenommen werden, weil sonst auch der kritische Blick auf die sozio-kulturellen „Pathologien“ ambivalent, der in den Alltagzusammenhängen erzeugte und von dem herrschenden Ideologien „bestätigte“ Schein der „Alternativlosigkeit“ der gegenwärtigen Zustände unangetastet bleibt.
Theorie und Empirie
Die radikale Kritik an den Repressionsverhältnissen und einer anthropologisch fundierten Frage nach den Emanziaptionspotentialen ist irreversibler Bestandteil eines dialektischen Totalitätsdenkens, das sich als Gegengift zu den wirkungsmächtigen Selbsttäuschungen und Bewusstseinsverzerrungen positionieren will, die aus der kapitalistischen Alltagspraxis resultieren. Dazu reichten jedoch die kategoriale Analyse und die summarische Inbezugsetzung von realer Repression und latentem Streben nach Selbstverwirklichung nicht aus. Die dialektische Emanzipationstheorie muss vielmehr Rechenschaft über die gesellschaftlichen Zustandsformen in ihren vielfältigen Vermittlungen ablegen. Ihr Bezugspunkt ist die Gesellschaft als gegliedertes Ganzes, jedoch ist das kein theoretischer Ruhepunkt, denn hier fängt die Arbeit für den Dialektiker erst an. Der Totalitätsanalyse, als Verpflichtung den Zusammenhang zu denken, fühlten sich (zumindest bis in das zweite Drittel des XX. Jahrhunderts hinein) viele Sozialtheoretiker verpflichtet. Jedoch ist es eine singuläre Leistung von Leo Kofler, das Gesamtbild eines entwickelten Kapitalismus thematisiert und empirisch ausgefüllt zu haben. Die analytischen Exkurse sind dabei jedoch kein Selbstzweck, sondern notwendige Durchgangspunkte des „soziaphilosophischen Versuchs, seine Zeit in Gedanken zu fassen und praktischen Einfluß zu nehmen“ (Ch. Jünke). Vergleichbar mit diesem umfassenden Anspruch sind in dieser Zeit nur noch die bedeutenden, Empirie und Gesamtanalyse in gesellschaftsverändernder Perspektive dialektisch vermittelnden Arbeiten Ernest Mandels, die jedoch eher auf die ökonomischen Aspekte zentriert sind. Da eine Beschäftigung mit ökonomischen Fragestellungen bei Kofler weitgehend fehlt, könnte man davon sprechen, dass sich die beiden opulenten Werkkomplexe wechselseitig ergänzen.[5]
Durch die soziologische Untersuchung der Differenzierungsformen des Vergesellschaftungsprozesses, die dialektische Analyse des Bürgertums, der Bürokratie, der Gewerkschaften, des Kleinbürgertums, des Managers und des Arbeiters, der affirmativen und der progressiven Intelligenz, sowie durch die Ergründung kultureller Reproduktionsstrukturen, habitueller Ausdrucksformen, vor allem auch des „Alltags zwischen Eros und Entfremdung“ (Kofler) und des ideologischen Reproduktionsprozesses in seiner Gesamtheit, konnte Kofler die Vorstellung einer verfestigten „Eindimensionalität“ (Marcuse) der spätkapitalistischen Gesellschaft überwinden. Seine kritischen Zustandsbeschreibungen waren immer auch mit der Suche nach Anknüpfungspunkten für politische Aufklärung und der Thematisierung von Veränderungsperspektiven verbunden. Es würde einer Linken, die viel über eine Universalisierung der Macht und die Verstrickung der Subjekte in Machtzusammenhänge redet, die konkret Analyse von Machtstrukturen aber vermeidet, gut zu Gesicht stehen, sich von Koflers soziologischem Blick auf die herrschende Klasse, seinen theoretischen Auseinandersetzungen mit den Akteuren des Machtsystems und des hegemonialen Denkens sowie seiner Analyse der Vermittlungsstrukturen von ökonomischer Position, sozialer Macht, kulturellem Einfluss und zivilisatorischen Repressionsdeterminanten zumindest anregen zu lassen.
Dialektik der Veränderung
Leo Kofler hat Zeit seines Lebens zwischen vielen Stühlen gesessen, wollte so recht in kein intellektuelles Schema und keinen Trend hineinpassen: Er hat den Stalinismus schon zu einer Zeit kritisiert – und zwar innerhalb seines Herrschaftsbereichs – als viele Andere in ihrer Bewertung noch schwankend waren. Aber auch als profilierter Anti-Stalinist, war er – nach seiner Übersiedlung ins restaurative Adenauer-Deutschland – für eine politische Instrumentalisierung gegen den realen Sozialismus überhaupt nicht zu gebrauchen. Weder war er von einem Ende der Klassengesellschaft zu überzeugen, noch wollte er an die Selbstheilungskräfte einer kapitalistischen „Moderne“ glauben. „Kulturkritische“ Pseudoradikalität blieb ihm genauso fremd wie eine praxisabstinente Intellektualität. Auch nach dem allzu leichten Sieg kapitalistischer Gesinnung und Lebensorientierung hat er an den Prinzipen radikaler Gesellschaftskritik und einer sozio-kulturellen Emanzipationsperspektive festgehalten. Koflers Beharrlichkeit und sein weltanschaulicher Eigensinn waren jedoch nicht nur subjektives Relikt, sondern die Konsequenz seiner theoretischen Grundpositionen. Bei ihm war das Festhalten an dem als theoretisch wahr und dem in humanistischer Perspektive als wünschenswert Erkannten Ergebnis konsequenter philosophischer Reflexion.[6]
In ihrem Kern besteht Koflers Theoriearbeit in der Analyse des „Ganzen“, konkretisiert durch den analytischen Blick auf eine große Vielzahl von Differenzierungsmomenten. Betrachten wir ihn bei seiner kritischen Gesellschaftsanalyse gewissermaßen in Aktion, erweisen sich die postmodernistischen Vorwürfe gegen eine dialektische Methodologie als absurd: Koflers Theoriearbeit erhebt zwar einen aus den gesellschaftlichen Praxis- und Widerspruchskonstellationen abgeleiteten Wahrhaftigkeitsanspruch, ist dabei jedoch das Gegenteil eines von Absolutheitsstreben und Abschlussobsessionen geprägten Vorgehens. Jedes Ergebnis des Denkprozesses ist immer nur vorläufiger Natur, jede Fixierung neuer Ausgangspunkt des Nachfragens und der vertiefenden Reflexion. Gleichzeitig ist der Gehalt jeder Aussage relational: ihr Sinn erfasst sich im Kontext eines vielschichtigen Gefüges, deren grundlegende Eigenschaft die Bewegung und Veränderung ist. Die strukturelle Substanz und Objektivität löst sich jedoch nicht in der Relation auf, wie Bourdieu manchmal zu unterstellen scheint: In der relationalen „Flexibilität“ dialektischen Denkens äußert sich kein Relativismus, denn diese Flexibilität entspricht den objektiven Bewegungs- und Konstitutionsformen. Sie in Rechnung zu stellen dient der begrifflichen Durchdringung des gesellschaftlich Realen. Und mehr noch: Jede Sache und jede Konstellation enthält einen Selbstwiderspruch, ohne dessen Berücksichtigung sie unbegriffen bleiben: Der Kapitalismus ist ein Repressionssystem, das zunehmend in alle Fugen des Alltags eindringt. Gleichwohl entwickeln sich in seinem Rahmen Emanzipationspotentiale von durchaus lebenspraktischer Bedeutung. Die Erweiterung von individuellen Verhaltensspielräumen ist ebenso wenig nur Illusion wie die Kompetenzerweiterung in der Arbeitswelt, auch wenn sie den Prinzipien der Profitorientierung unterworfen sind. Die Fixierung eines Moments (also „Repression“ oder „Individualisierung“) oder auch eines ganzen Komplexes (beispielsweise „Produktion“ oder „Kommunikation“) sind analytisch legitim, jedoch nur produktiv, wenn im nächsten Schritt die „verstandesmäßige“ Einseitigkeit „aufgehoben“ und die Momente zum gesellschaftlichen Gesamtzusammenhang vermittelt werden.
Obwohl die einzelnen Momente funktional in den sozialen Kontext eingebunden sind, besitzen sie eine eigenständige Dynamik (eine Bedeutung, die nicht restlos im „Ganzen“ aufgeht). Im Kontrast zur Idee des alten Materialismus vom Menschen als passives, den objektiven „Strukturen“ und Bewegungen bedingungslos unterworfenes Wesen (die ironischerweise bei dem marxistischen „Erneuerer“ Althusser eine fröhliche Widergeburt erfährt), reflektiert die historisch-dialektische Wirklichkeitswissenschaft das Verhältnis des Menschen zur Welt als einen Prozess des tätigen und konstituierenden Verhaltens: In der Perspektive marxistischer Praxisphilosophie ist der gesellschaftlich handelnde Mensch Schöpfer seiner Lebensumstände. Diese können sich unter antagonistischen Bedingungen gegenüber ihren Urhebern zwar verselbstständigen und in der Wahrnehmung ganzer Generationen und Epochen zur „zweiten Natur“, die den Eindruck der Unveränderbarkeit vermittelt, gerinnen. Ihren Charakter prinzipieller Veränderbarkeit verlieren sie jedoch nicht.
[1] Überarbeitete Fassung des Einleitungsreferats auf einer von der Leo-Kofler-Gesellschaft in Zusammenarbeit mit der Internationalen Georg Lukács-Gesellschaft, der Marx-Engels-Stiftung, WISSENTransfer und der Rosa-Luxemburg-Stiftung NRW organisierten Tagung aus Anlaß des 100. Geburtstags Leo Koflers am 5. Mai 2007 in Köln.
[2] Um das Ideologische im Sinne des „Wörterbuchs“ im Stichwort „Ideologiekritik“ – unter Berufung auf Marx! – erst mit der „systematisierenden Arbeit der Ideologen“, die die „Menschen auf bestimmte Verhältnisse“ einzuschwören versuchen, beginnen lassen zu können, muss nicht nur die Marxsche Ideologietheorie (nicht zuletzt auch durch einen „kreativen“ Umgang mit den Klassiker-Zitaten) auf den Kopf gestellt, sondern auch die grundlegende Erkenntnis aus der „Deutschen Ideologie“, dass „nicht das Bewusstsein ... das Leben, sondern das Leben ... das Bewusstsein“ bestimmt, ignoriert werden. Die Umkehrung des Verhältnisses von Praxis und Ideologie ist Ausdruck der üblichen intellektualistischen Illusion, dass die geistigen Prozesse ihren Ursprung in den Köpfen der „Geistesarbeiter“ haben.
[3] Die Abwesenheit von Koflers Namen in 80 Spalten (!) eines „Historisch-kritischen Wörterbuch des Marxismus“ zur Ideologie-Thematik mag noch als Ausdruck der konstitutiven Ignoranz dieses Kompendiums angesehen werden können. Dass jedoch wesentliche Positionen der marxistischen Diskussion der Ideologie-Problematik (weil sie den eigenen Interpretationspräferenzen widersprechen) nicht einmal der bibliographischen Erwähnung für würdig erachtet wurden, spricht ebenso wenig für die inhaltliche Zuverlässigkeit des Wörterbuchs, wie das Schweigen über viele in dem vorliegendem Text angesprochene Problemfelder und Vermittlungsstrukturen des Ideologischen.
[4] Das ist übrigens auch einer dieser Sätze, die nach diversen „Marx-Interpretationen“ gar nicht im „Kapital“ stehen dürften!
[5] Eine solche Einschätzung legt auch der produktive Umgang Mandels mit Koflerschen Theorieelementen in seinem Buch „Der Spätkapitalismus“ nahe.
[6] Die aber nicht isoliert betrachtet werden kann: „Kofler ist einer der ganz wenigen Autoren des westlichen Marxismus, die an der Klammer von intellektueller Anstrengung und ethischer Lebensführung festhalten. Sein gesamtes Werk ist getragen von der utopischen Idee eines gelungenen Lebens.“ (Ulrich Brieler)