Vom 3. bis 6. Oktober fand an der Universität Paris-X bei herrlichem Spätherbstwetter, aber in Räumen (fast) ohne Tageslicht der fünfte internationale Marxkongress statt. Der erste Kongress wurde 1995, 100 Jahre nach dem Tod von Friedrich Engels, durchgeführt und stand unter dem Motto „Hundert Jahre Marxismus“. Seitdem wurde alle drei Jahre ein Kongress veranstaltet; die diesjährige Veranstaltung hatte den Titel „Andersglobalisierung/Antikapitalismus. Für eine alternative Kosmopolitik“. In über 100 meist zweistündigen Workshops wurden ca. 300 Referate vorgestellt und diskutiert; darüber hinaus fand an jedem Tag eine Podiumsveranstaltung statt.
Federführend für die Durchführung war ein Organisationskollektiv, dem 26 Mitglieder angehörten; den Vorsitz hatten der Philosoph Jacques Bidet (JB) und der Ökonom Gérard Duménil (GD), auf die noch zurückzukommen sein wird. Im Aufruf hieß es, dass der globale Widerstand gegen den Neoliberalismus eine Tendenz zur Vereinheitlichung aufweise und der Kongress vor dem Hintergrund der Behauptung, dass eine andere Welt möglich ist, einen Beitrag zur Beantwortung der Frage leisten solle, wie die Welt innerhalb des Kapitalismus zu verändern sei und wie eine nicht kapitalistische Welt beschaffen sein könnte: „Es geht darum, von unten nach oben eine andere Kosmopolitik zu denken“.
Ablauf: Die Workshops des Kongresses waren den folgenden Themenbereichen zugeordnet: Kultur, Recht, Ökologie, Ökonomie, Feministische Studien, Marxistische Studien, Geschichte, Philosophie, Politikwissenschaft, Sozialismus und Soziologie. Etwa zwanzig Veranstaltungen wurden von Zeitschriften und anderen Projekten getragen; bei den übrigen hatten die VeranstalterInnen versucht, aus der Vielzahl der angebotenen Referate eine sinvolle Auswahl und Zusammenstellung vorzunehmen. Die überwiegende Mehrheit der ReferentInnen kam naturgemäß aus Frankreich und arbeitet an wissenschaftlichen Einrichtungen; die Kongressprache war also eindeutig französisch. Dennoch wurden zehn Workshops auf Englisch und eine Handvoll auf Spanisch angeboten, und in anderen wurden einzelne Referate in diesen Sprachen vorgetragen. In Einzelfällen waren auch andere Sprachen zu hören und wurden z.B. von anderen ReferentInnen übersetzt.
Bei einer so großen Zahl an Veranstaltungen ist es einem einzelnen Teilnehmer nicht möglich, sich pauschal zur Qualität der Referate oder Diskussionen zu äußern. Die unter http://netx.u-paris10f./actuelmarx/cm5/index5.htm abrufbaren Texte erlauben jedoch eine Orientierung auch für die, die nicht in Paris waren.
Dass das Gros der ReferentInnen aus Frankreich kam, lag in der Natur der Sache. Gerade im Hinblick auf den Titel des Kongresses fiel auf, dass der „Süden“ recht einseitig vertreten war. Von der Besetzung der Podien, der üblichen chinesischen und einer vietnamesischen Delegation sowie einigen Japanern abgesehen, hatten aus anderen Kontinenten wie schon bei früheren Gelegenheiten fast ausschließlich AmerikanerInnen – vor allem aus Mexiko und Brasilien – den Weg nach Paris gefunden, während der Rest Asiens und vor allem Afrika durch ihre Abwesenheit glänzten. Aus dem europäischen Ausland waren vor allem ItalienerInnen angereist; auffällig war, dass zwar aus vielen anderen Ländern Einzelpersonen und kleine Gruppen zu vernehmen waren, Mittel- und Osteuropa aber faktisch nicht vertreten waren. Das Durchschnittsalter lag – wie auch bei vergleichbaren Veranstaltungen hierzulande – recht hoch. Hieran änderten auch die gerade im Bereich der „Marxologie“ anzutreffenden Studierenden nichts. Ihre Zahl lag zwar höher als bei früheren Kongressen (Marx ist wieder Teil des Curriculums für französische PhilosophiestudentInnen), überstieg aber kaum zehn Prozent. Der Anteil der Frauen an den ReferentInnen und den BesucherInnen spiegelte vermutlich den im Organisationskollektiv (6 von 24) recht exakt wieder – dass die Veranstaltungen der Sektion „Feministische Studien“ diesbezüglich eine Ausnahme bildeten, bedarf wohl keiner weiteren Erläuterung.
Thematisches: Im Hinblick auf die behandelte Thematik fiel auf, dass die Beschäftigung mit Marx auch diesmal wieder großen Raum einnahm. Dies gilt sowohl für die „philosophischen“ als auch für die „ökonomischen“ Aspekte seines Werks, die insgesamt im Mittelpunkt von nicht weniger als fünfzehn Workshops standen – hinzu kamen noch ein Lukacs-Kolloquium, ein „Kapital“-Kolloquium (zehn Stunden!) sowie die mehrstündige Vorstellung und Diskussion eines Buchs der beiden Präsidenten, das gerade rechtzeitig zum Kongress erschienen war.
In Titel und Untertitel dieses Buchs („Altermarxisme, Un autre marxisme pour un autre monde“1) wird das mit dem Kongress verfolgte Anliegen thematisiert. Es solle keine Utopie entwerfen, sondern „einen Beitrag zu der umfassenden Auseinandersetzung (leisten), die sich zu Beginn dieses Jahrhunderts abzeichnet“ (Klappentext). Im Anschluss an die Arbeiten von JB zum „Kapital“ wird – in einer recht zugänglichen Form – argumentiert, dass Marx in seinem Hauptwerk nicht nur die „kapitalistische“ Dimension der modernen Gesellschaft analysiere, sondern auch ihre „organisatorische“ Dimension aufzeige. Bezogen auf die Gegenwart – hier kommen dann die Arbeiten von GD zum Tragen – lasse sich feststellen, dass der Neoliberalismus die Herausbildung eines Systems von Nationalstaaten, dessen Ordnungsprinzip eine imperalistische Hierarchie darstelle, zu seinem Endpunkt führe. Damit mache sich allmählich eine neue Logik geltend: die eines entstehenden kapitalistischen Weltstaats. In diesem Rahmen stelle sich die Aufgabe, eine weltweite Symbiose der Kämpfe der Klassen, Völker und Geschlechter herauszubilden.
Einen weiteren Schwerpunkt des Kongresses bildete die Analyse der insbesondere finanzmarktbezogenen Aspekte der neoliberalen Globalisierung; auch ihre militärisch-imperiale Dimension wurde in mehreren Workshops thematisiert. Geographisch fand vor allem Lateinamerika Beachtung, das Gegenstand einer größeren Zahl von Workshops und Referaten als Frankreich und außerdem Thema des dritten Abendplenums war. Insofern war der Kongress wohl ein getreues Spiegelbild des Schicksals der Linken in den letzten Jahren...
Fazit: Ein paar Wochen vor dem von der Zeitschrift „Historical Materialism“ in London durchgeführten Kongress ließ sich in Paris vor allem für „Marxologen“ und Lateinamerikainteressierte Einiges lernen. Für eine sechste Veranstaltung sei mir der Wunsch gestattet, dass die Beschäftigung nicht nur mit Frankreich und Europa, sondern auch und gerade mit den USA größeren Raum einnehmen möge. Dies aber ist weniger Sache der VeranstalterInnen...
1 Etwa „Altermarxismus. Ein anderer Marxismus für eine andere Welt“.