Berichte

„Angriff ist die beste Verteidigung!?"

Arbeitsgemeinschaft für gewerkschaftliche Fragen (AgF), Marburg, 27. Oktober 2007

Dezember 2007

In den siebziger Jahren gab es an deutschen Hochschulen zahlreiche Arbeitskreise, die sich mit gewerkschaftspolitischen Themen beschäftigten. Die meisten von ihnen sind inzwischen wieder verschwunden – anders die 1957 gegründete „Arbeitsgemeinschaft für gewerkschaftliche Fragen“ (AgF) in Marburg. Ihr fünfzigster Geburtstag war Anlass zu einer Konferenz, auf der unter dem Titel „Angriff ist die beste Verteidigung!?“ über „Gewerkschaften und linke Politik vor alten und neuen Herausforderungen“ diskutiert wurde.

Eröffnet wurde die Tagung von gegenwärtig aktiven AgF-Mitgliedern: Benjamin Pfalz, Niels Greiten und Rosa Schwenger. Anna Stiede berichtete von der Besetzung des Betriebs BikeSystems im thüringischen Nordhausen durch die Belegschaft. Im Rahmen der Eröffnung gab zudem Wolfram Burkhardt einen Überblick über die Geschichte der AgF, die auch davon profitieren konnte, dass in Marburg Hochschullehrer wie Wolfgang Abendroth, Heinz Maus und Werner Hofmann, später Frank Deppe, Peter Römer, Georg Fülberth und Reinhard Kühnl lehrten. Die gegenwärtig beabsichtigte Liquidierung dieser Tradition durch die geplante Streichung der Nachfolge Frank Deppes war auch in der folgenden freien Arbeitsphase ein Gegenstand, zu dem sich eine Arbeitsgruppe bildete.

In fünf Workshops wurde zu verschiedenen gewerkschaftspolitischen Themen diskutiert. So berichtete Johannes Schulten über die Situation der Gewerkschaftsbewegung in Argentinien, wo mit dem „bewegungsorientierten“ Dachverband CTA ein „ernst zu nehmender Akteur die politische Bühne betreten“ habe, der – anders als die peronistische CGT – verstärkt auf die Organisierung prekär beschäftigter und Arbeitsloser setze. Ein europäisches Projekt, das sich dieser Frage widmet, ist die Euromaydaybewegung. Unter der Überschrift „Euromayday goes Off-Stage on Stage“ schilderten Hamburger Aktivistinnen und Aktivisten ihre Erfahrungen, während Anja Willmann und Holger Kindler sich in ihrem Workshop dem Problem zunehmender Prekarisierung unter jungen Menschen („Generation Praktikum“) zuwendeten. Lothar Wentzel widmete den Schwierigkeiten und Ambivalenzen der gewerkschaftlichen Bildungsarbeit zwischen Fachberatung für Betriebsräte und Jugendauszubildendenvertretungen auf der einen, politischer Breiten- und Massenbildung für Mitglieder auf der anderen Seite eine Arbeitsgruppe. Die „Perspektiven Europäischer Tarifautonomie“ im Kontext eines zunehmend arbeitgeberfreundlichen Vereinigungsprozesses (Dienstleistungsfreiheit, Niederlassungsfreiheit) diskutierte der Frankfurter Jurist Felix Stumpf. Nach den Möglichkeiten und Grenzen von Arbeitskämpfen „jenseits von stark ritualisierten Tarifauseinandersetzungen“ fragten Volker Hinck und Fabian Rehm. Dabei machten sie insbesondere in Abwehrkämpfen wie bei Gate Gourmet, Opel, AEG/Elektrolux und BikeSystems neue Kampfformen aus. Insbesondere die Frage der Verallgemeinerbarkeit von Abwehrkämpfen sorgte im Plenum für Diskussionen.

Das von Matthias Ebenau und Imke Dzewas moderierte Abschlusspodium stellte schließlich die Frage nach dem Verhältnis von linker Politik und Gewerkschaft noch einmal direkt. Hans-Jürgen Urban definierte „linke Politik“ als „den Versuch, politisch organisiert Akteure zu sammeln, die sich für Veränderungen im Kapitalismus einsetzen, ohne die Transformationsperspektive aufzugeben.“ Gleichzeitig warnte er jedoch vor Hochmut gegenüber Positionen, die eine stärkere Konzentration auf „Interessenvertretung im Rahmen des Bestehenden“ forderten. Auch für eine linke Gewerschaftspolitik sei es unverzichtbar Ziele „unterhalb der Überwindung des Kapitalismus“ zu formulieren. Eine Chance sieht Urban darin, die politisch gewollte Verbetrieblichung von Aushandlungsmechanismen zu nutzen, um die Betriebsarbeit selbst zu politisieren. Ingrid Kurz-Scherf fragte hingegen provokativ, ob Gewerkschaften überhaupt in der Lage seien, als Oppositionskraft gegen kapitalistische Akkumulation zu wirken, oder ihnen nicht eher die Funktion zukomme, Agenturen dieser Akkumulation zu sein. Entscheidend sei, dass die Gewerkschaften sich stärker um Gestaltungskonzepte bemühen und an einem freiheitlichen Konzept von Arbeit und Demokratie arbeiten sollten. Insbesondere der letzte Punkt schließe auch die Frage innergewerkschaftlicher Demokratie ein. Als besonders essentiell bezeichnete Kurz-Scherf die Forderung nach Arbeitszeitverkürzung.

Mario Candeias sieht ein zentrales Problem der Gewerkschaften im Verlust an institutioneller Macht (etwa durch die Erschütterung von Flächentarifverträgen) einerseits, der Verselbstständigung von Berufsgruppen wie Piloten, Lotsen, Ärzten und nun Lokomotivführern andererseits. Wichtig sei eine neue Bündnisfähigkeit zwischen Gewerkschaften und neuen sozialen Bewegungen, wobei hier insbesondere in der Frage politischer Organsationsformen, zahlreiche Spannungen auszumachen seien.

Ein Idealbild der Gewerkschaftsbewegung aus ihrer Sicht zeichnete Mag Wompel, die ihre Internetplattform LabourNet als Organ ungehorsamer Gewerkschafter bezeichnete. Der Kapitalismus wolle heute nicht mehr nur den Arm der Menschen wie der Fordismus, auch begnüge er sich nicht mehr damit zusätzlich Ansprüche auf ihren Kopf zu stellen wie der Postfordismus. Heute ginge es ihm darum Verfügungsgewalt über die verwertbaren Teile des ganzen Menschen zu bekommen – einschließlich seiner Emotionen, Wünsche und Hoffnungen. Dagegen müsse die Gewerkschaftsbewegung ihr eigenes ganzheitliches Konzept stellen und dürfe nichts an Parteien und andere Organisationen delegieren. Entscheidend sei die Erkenntnis, dass selbst Kleinigkeiten nur erreicht werden könnten, wenn weitgehende Forderungen formuliert würden: „Um die kleinsten Stücke vom Kuchen zu bekommen, müssen wir heute die ganze Bäckerei fordern.“

Die Veranstalter werteten die Konferenz als einen großen Erfolg – sicher zu Recht.