Nachdem der Begriff „Imperialismus“ während der neunziger Jahre fast gänzlich aus der politikwissenschaftlichen Debatte verschwunden war, erlebte er in diesem Jahrzehnt eine Renaissance. Rekonstruiert man seine Begriffsgeschichte so fällt auf, dass es – sieht man ab von dem liberalen englischen Ökonomen John A. Hobson – insbesondere Theoretiker in der politischen und theoretischen Tradition von Karl Marx und Friedrich Engels waren, die den zunächst in der politischen Debatte geprägten Terminus „Imperialismus“ aufnahmen und theoretisch füllten[1]. Die klassischen Imperialismustheorien zeichneten sich dadurch aus, dass sie im Rahmen der Marxschen „Kritik der politischen Ökonomie“ einen gleichermaßen kritischen wie zeitdiagnostischen Zugang zur konkreten international agierenden Realität des Kapitalismus der Jahrhundertwende suchten. In dieser Tradition standen nach 1945 sowohl jene Ansätze einer marxistischen Theoriebildung, die ökonomische Abhängigkeitsverhältnisse zwischen den kapitalistischen Zentren und der Peripherie („Dependenztheorien“) analysierten, wie auch jene, die Verschiebungen und Veränderungen in der ökonomischen Verfasstheit der Zentren selbst in den Mittelpunkt ihrer Analyse stellten („Theorien des staatsmonopolistischen Kapitalismus“). Beide Theoriestränge, die sich keineswegs immer einig in Methode und Ergebnis waren, folgten ihren Vorgängern dennoch darin, dass sie einen Zusammenhang von ökonomischer Entwicklung und internationaler Politik aufzuzeigen versuchten, der sowohl in der bürgerlichen Ökonomie als auch in der bürgerlichen Politikwissenschaft nicht oder nur unzureichend beachtet wurde. Gleichzeitig unterschieden sie sich, soweit sie auf der Höhe ihrer Zeit waren, von den klassischen Theorien in dem Maße, indem sich die gesellschaftlichen Realitäten selbst verändert hatten.
Marxistische Theoriebildung zeichnete sich in ihren besten Traditionen freilich stets dadurch aus, dass sie die Analyse einer gegenwärtigen Realität mit dem Anspruch verband, eine Kategorienkritik herrschender Welterklärungsversuche zu leisten. Vor dieser Aufgabe steht auch eine heutige Imperialismustheorie. Erste Ansätze reagierten um das Jahr 2000 zunächst – mit einiger Verspätung – auf die Rolle der USA als einziger verbliebener Supermacht nach dem Zusammenbruch der UdSSR und dem Ende der Systemkonkurrenz. Bereits die neunziger Jahre waren gekennzeichnet von vielfältigen Konflikten: dem zweiten Golfkrieg (1991), verschiedenen Bürgerkriegen in Afrika, etwa in Somalia und Ruanda, schließlich den Kriegen auf dem Balkan und – als bislang letztem unter ihnen – dem „Kosovokrieg“ von 1999, den die NATO ohne ein Mandat der Vereinten Nationen führte. Zu einer wirklichen Debatte um einen „neuen Imperialismus“ kam es jedoch erst nach dem Amtsantritt George W. Bushs und den Terroranschlägen vom 11. September 2001 und mit den bis heute fortdauernden Kriegen in Afghanistan (seit Oktober 2001) und im Irak (seit März 2003).
Sucht man – zunächst als Annäherung – nach Gemeinsamkeiten zwischen den imperialismustheoretischen Debatten am Anfang des Jahrhunderts, nach dem Zweiten Weltkrieg und heute[2], so fallen insbesondere zwei Aspekte auf. Erstens: Der Begriff „Imperialismus“ wird immer dann verwendet, wenn die Außenpolitik gewaltsam wird: Krieg und Imperialismus gehören untrennbar zusammen. Jede bisherige „Welle“ von Imperialismustheorien reagierte in der einen oder anderen Weise auf kriegerische Auseinandersetzungen, in die die industrialisierten Staaten des kapitalistischen Zentrums verwickelt waren und sind. Zweitens: „Imperialismus“ fungierte stets als Verhältnisbegriff, der die Interdependenz von (innerer und äußerer) Politik einerseits, Politik und ökonomischer Entwicklung andererseits fassen sollte. Dabei lag der Fokus insbesondere auf der Analyse ökonomischer und politischer Krisenprozesse. Eine zusammenfassende Definition von „Imperialismus“ könnte folglich lauten: Imperialismus ist die offene oder latente Gewaltpolitik zur externen Absicherung eines internen (ökonomischen und politischen) Regimes (vgl. Deppe u.a. 2004, 17). Eine solche Absicherung ist nicht zu denken ohne juridische Vermittlungen. Imperialismus kann nicht begriffen werden als eine schlechterdings rechtlose Gewaltform. Wie jede Herrschaftsform benötigt auch der Imperialismus eine Konstitution, die als normative Grenzscheide zwischen legalen und illegalen Praktiken wirkt. Auch für die Rechtsform des (neuen) Imperialismus gilt die Klassifikation des Rechts „als Mittel und Maß von und für Macht“, wie es der Jurist Hermann Klenner formuliert (vgl. Klenner 2004, 19).
Seit Montesquieus Modell der Gewaltenteilung kann Politik nach drei funktionalen Dimensionen (Exekutive, Legislative und Judikative) hin bestimmt werden. Im Kern ist „das Politische“ nichts anderes, als die Praxis rechtmäßig ausführender, rechtssetzender und rechtserhaltender Gewalt. Wo immer folglich über Gewalt gesprochen wird, die ein Regime absichern soll, stellt sich die Rechtsfrage als zentrale Frage der Politik. Dennoch ist die Frage nach der Rechtsform des neuen Imperialismus in der Debatte bis heute ein Desiderat. Dies ist umso erstaunlicher, als das vielleicht meistdiskutierte Modell globaler rechtlicher Vermittlung, das Kant entlehnte Konzept eines „Weltbürgerrechts“, von Philosophen und Soziologen wie Jürgen Habermas reformuliert wurde, die dem Begriff „Imperialismus“ eine zeitdiagnostische Erklärungskraft explizit absprechen. Solche Theorien stehen im Kontext einer breiten „Globalisierungsdiskussion“, die seit den neunziger Jahren den Anspruch formuliert, eine befriedete und verrechtlichte „neue Weltordnung“ zu antizipieren. Eine zeitgenössische Imperialismustheorie muss sich dieser Debatte stellen und die Kritik imperialistischer Politik und Ökonomie mit einer Kritik kapitalistischer Rechtsverhältnisse verbinden. Im folgenden kann nicht mehr geleistet werden als eine programmatische Skizze, die zu Vertiefungen und weiterer Forschung einladen soll.
„Weltbürgerrecht“
Habermas zufolge befindet sich die Welt im Übergang zu einer „postnationalen Konstellation“, einer „Gesellschaftswelt“, in der es gelte eine „sozialpathologische Entgleisung des Liberalisierungsschubs“ der Gegenwart zu verhindern (vgl. Habermas 1998, 134). Hinter dieser Diagnose steht ein von Karl Polanyi formulierter letztinstanzlicher Dualismus von Ökonomie und Politik, demzufolge auf ökonomische Öffnungsdynamiken politische Schließungsversuche folgen. Auch Öffnungen freilich sind in diesem Konzept auf Politik angewiesen, die prozyklisch der ökonomischen Logik zur Durchsetzung verhelfen kann. Dennoch wird der Politik eine in erster Linie reaktive Rolle zugesprochen. Ihre zentrale Aufgabe wird dabei normativ in der nachträglichen Zähmung, Bändigung und Einhegung ökonomischer Prozesse ausgemacht (vgl. Polanyi 1978).
Zusammengefasst lässt sich das Konzept eines Weltbürgerrechts (ius cosmopoliticum) bei Habermas folgendermaßen skizzieren: Im Zeitalter der Unmöglichkeit nationalstaatlicher Regulation gelte es auf supranationaler Ebene, das nachzuvollziehen, was sich mit dem Dreischritt von Staatsrecht, Bürgerrecht und Sozialrecht im Rahmen territorialer Nationalstaaten seit dem achtzehnten Jahrhundert vollzogen hat. Die alten souveränen Nationalstaaten sollen sich bei partieller Abgabe klassischer Souveränitätsrechte in einem föderativen System zusammenfinden (Stärkung und Reform der UNO), klassische Außenpolitik als nationalstaatliche Interessenpolitik soll abgelöst werden vom neuen Paradigma einer „Weltinnenpolitik ohne Weltregierung“, deren zentrale Aufgabe darin besteht, durch supranationale Gerichtsbarkeit den Menschenrechten einen authentischen Ausdruck zu geben und die von Hannah Arendt seinerzeit diagnostizierte Aporie der Ineinssetzung von universalen Menschen- und partikularen Bürgerrechten (vgl. Arendt 2001: 601ff.) aufzuheben. Gleichzeitig geht es in diesem Konzept darum, eine Weltwirtschaftspolitik zu etablieren, die – im Sinn einer „global governance“ – die „freigewordene“ Kapitallogik wieder „einbettet“ und auf „die Erhaltung sozialer Standards und die Beseitigung extremer sozialer Ungleichgewichte“ orientiert (vgl. Habermas 1998: 167).
Das „Weltbürgerrechtskonzept“ verspricht also tatsächlich Antworten auf eben jene Fragen, mit denen sich auch die Imperialismustheorie beschäftigt. Auf kriegerische Auseinandersetzungen und politische Gewalt reagiert hier die Forderung nach einer supranationalen Föderation und die Durchsetzung einer Weltinnenpolitik. Gleichzeitig wird der Politik die Funktion zugesprochen, im Sinne einer globalen Schließung, den Einfluss der ökonomischen Logik zu begrenzen und auf die Etablierung weltweiter Sozialstandards zu drängen. Eine Imperialismustheorie im oben skizzierten Sinn freilich ist auf der Basis solcher Prämissen nur schwerlich zu formulieren. Statt um externe Absicherungen interner Regimes, scheint es hier vielmehr um die interne (politische) Sicherung gegen externe (ökonomische) Logiken zu gehen. Das Rechtsproblem tritt in diesem Kontext primär als Problem im Spannungsfeld von Menschen- und Völkerrecht auf und sekundär als Relativierung einer durchaus autonom gedachten ökonomischen Logik. Hierzu schreibt Habermas: „Die Reregulierung der Weltgesellschaft hat bisher nicht einmal die Gestalt eines exemplarisch, an Beispielen erläuterten Projekts angenommen.“ (Habermas 1998: 168)
Recht und Imperialismus: Der neue Konstitutionalismus
Die Theorie der internationalen Beziehungen unterscheidet gemeinhin eine so genannte „idealistische“ Position, die auf Rechtsverhältnisse und einen institutionalisierten Multilateralismus drängt von einer so genannten „realistischen“ Position, die in letzter Instanz machtpolitisch argumentiert. Die imperialismustheoretische Position lässt sich in ein solches binäres Schema nicht einordnen. Indem sie die Interdependenz ökonomischer und politischer Prozesse betont und solche Prozesse als gesellschaftliche Praxis begreift, steht sie in einer „materialistischen“ Tradition sozialer Analyse, deren Ursprünge auf Karl Marx zurückgehen. Mit der „realistischen“ Sichtweise hat sie gemeinsam, dass die Machtfrage und mit ihr die Reflektion auf positives Recht als Machtmittel, nicht ausgeklammert bleibt. Im Unterschied zum „Realismus“ in den internationalen Beziehungen freilich wird Macht hier in erster Linie als gesellschaftliche Macht, das bedeutet als eine Frage gesellschaftlicher Auseinandersetzungen und sozialer Kämpfe behandelt. In diesem Sinne deutete etwa Wolfgang Abendroth das Verfassungsrecht als ein gesellschaftlich umkämpftes Normengefüge und das Fehlen einer Wirtschaftsverfassung im bundesdeutschen Grundgesetz als das Produkt eines Klassenkompromisses (vgl. Abendroth 1967: 109ff.).
Gemeinsamkeiten und Unterschiede zur „idealistischen“ Position sind schwerer zu benennen, nicht zuletzt deshalb, weil in der philosophischen Tradition der Neuzeit „Materialismus“ und „Idealismus“ ein bekanntes Gegensatzpaar bilden. Der Grund dafür, dass in der marxistischen Debatte des zwanzigsten Jahrhunderts Rechtsfragen oft stiefmütterlich behandelt wurden, liegt darin, dass man glaubte, mit dem Verweis auf ein einseitiges Determinationsverhältnis des „politisch-juristischen Überbaus“ durch die „ökonomische Basis“ das Recht als ein sekundäres Problem betrachten zu können. Dabei wurde vernachlässigt, dass als zentraler Begriff der „Basis“ bei Marx der Begriff des Eigentums eingeführt wird, der selbst ein juristischer Begriff ist. In ihrer Eigentumsordnung legt „die Gesellschaft“ fest, welcher Besitz als rechtmäßig angesehen wird (vgl. Salomon 2005: 71) und schreibt zugleich Verfügungsweisen vor, wie mit ihm zu verfahren sei. Nimmt man den Eigentumsbegriff ernst, so stellt sich die einschneidende Differenz zwischen „idealistischer“ und „materialistischer“ Position nicht mehr dar als ein Streit um die Bedeutung von „Recht“, sondern vielmehr als ein Streit innerhalb des Rechts. Konkreter formuliert, die materialistische Position wird stets auf die Bedeutung des Privatrechts verweisen, das die Eigentumsordnung regelt, und in ihm den für eine Gesellschaft konstitutiven Rechtsbereich ausmachen.
Eine imperialismustheoretische, materialistische Kritik an Habermas muss dort ansetzen, wo der Dualismus von Politik und Ökonomie behauptet und die wirtschaftsrechtliche Dimension globaler Konstitution nur im unterentwickelten Status eines supranationalen Pendants zur Sozialstaatlichkeit ausgemacht wird. Was Habermas in der Tat aus dem Blick verliert, ist, dass der am weitesten entwickelte Bereich international verbindlicher Rechtsformen das Privatrecht ist. Zugespitzt formuliert: Das Fehlen supranationaler Sozialstandards ist kein Desiderat, sondern solche Standards würden den Inhalten des globalen Wirtschaftsrechts geradezu widersprechen.
An dieser Stelle setzt auch der kanadische Sozialwissenschaftler Stephen Gill mit seinem Konzept eines „neuen Konstitutionalismus“ an: „Dieser bildet einen sowohl regionalen als auch internationalen Goverance-Rahmen. Er ist bestrebt ökonomische und politische Prozesse von einer breiten politischen Verantwortlichkeit zu separieren, um die Regierungen gegenüber der Disziplin des Marktes empfänglicher und gegenüber popular-demokratischen Kräften und Prozessen entsprechend weniger empfänglich zu machen. Der neue Konstitutionalismus ist mithin die politisch-rechtliche Dimension des umfassenderen Diskurses des disziplinierenden Neoliberalismus. In diesem Diskurs geht es vor allem darum, die Eigentumsrechte und Freiheiten der Investoren zu sichern und den Staat und die Arbeit unter die Disziplin des Markes zu unterwerfen.“ (Gill 2000: 44)
Unter neuem Konstitutionalismus versteht Gill somit juristische und quasijuristische Reglements in Vertragswerken und Institutionen wie die Weltbank, den IWF und die WTO auf globaler Ebene, oder Freihandelsabkommen und wirtschaftspolitische Vereinheitlichungen auf regionaler Ebene – etwa den europäischen Stabilitätspakt. Solche Vertragswerke und Institutionen können in Form von verbindlichen Richtlinien, Strukturanpassungsprogrammen und gegebenenfalls mit Sanktionen eine marktkonforme Wirtschafspolitik erzwingen. „Neu“ ist an diesem „Konstitutionalismus“, dass hier so etwas wie eine (neoliberalen Maximen folgende) Wirtschaftsverfassung nicht durch eine verfassungsgebende Versammlung oder in den transparenten Verfahren einer repräsentativen Legislative, sondern oftmals intransparent und unter Einschluss privater Akteure formuliert wird. Die Möglichkeiten privater Stiftungen oder sogar von großen Konzernen Einfluss auf diesen Prozess zu nehmen sind fraglos gewachsen. Lobbyorganisationen wie der European Round Table of Industrialists oder der European Retail Round Table, dem unter anderem der Konzern Metro angehört, werden mittlerweile nicht nur von der EU-Kommission herangezogen, wenn es um die Ausgestaltung von den Handel betreffenden Richtlinien geht, sondern als Mitglieder offizieller EU-Delegationen sogar in WTO-Verhandlungen entsandt (vgl. Schuhler 2005: 18). Gleichzeitig freilich bleiben Nationalstaaten – repräsentiert durch ihre Regierungen – Akteure des konstitutionellen Prozesses.
Für eine imperialismustheoretische Rechtstheorie kann Gills Konzept deswegen fruchtbar gemacht werden, weil es anders als „realistische“ oder auch „idealistische“ Theorien das Privatrecht in den Mittelpunkt stellt: „Die entscheidende strategische Bedeutung des neuen Konstitutionalismus besteht [...] darin, die Macht des Kapitals langfristig zu verankern.“ (Gill 2000: 44) Damit steht der neue Konstitutionalismus fraglos im Dienst der externen Absicherung eines internen ökonomischen und politischen Regimes. Als Rechtsform des neuen Imperialismus freilich kann er erst dann begriffen werden, wenn es gelingt zu zeigen, in welchem Sinn ihm eine offene oder latente Gewaltpolitik entspricht.
Imperialismus, Zerstörung und Konkurrenz
Insbesondere der Geograph und Sozialwissenschaftler David Harvey hat in seiner Theorie des neuen Imperialismus herausgearbeitet, dass Kapital auf Räume angewiesen ist. Insbesondere in kritischen Zeiten von struktureller Überakkumulation gilt es Anlagesphären zu finden, die noch nicht kapitalisiert sind. Harvey weist in diesem Kontext auf die „Spur der Verwüstung“ hin, die das Kapital hinterlässt, wenn es abgezogen wird: „Zu einem bestimmten Zeitpunkt erzeugt das Kapital notwendigerweise eine physische Landschaft nach seinem Ebenbild, nur um sie zu einem späteren Zeitpunkt wieder zerstören zu müssen, da es räumliche Expansion und temporäre Verschiebung zur Lösung der Überakkumulationskrisen verfolgt, zu denen es regelmäßig neigt. Dies ist die Geschichte der ‚schöpferischen Zerstörung’ (mit all ihren zerstörerischen Konsequenzen im Sozial- und Umweltbereich), die in die Entwicklung der physischen und sozialen Landschaft des Kapitalismus eingeschrieben ist.“ (Harvey 2004: 186) Ungleichheiten der Entwicklung gehören demnach ebenso zu einer kapitalistischen Weltökonomie, wie die Konkurrenz. (Hier freilich wird zugleich der „wahre Kern“ der These vom Machtverlust des Staates offenbar: Viele periphere Staaten stehen dem Prozess tatsächlich ohnmächtig gegenüber. Die Staaten des Zentrums sind nach wie vor Motor und treibende Kraft des „Globalisierungsprozesses“ – vgl. auch Krätke 2002.)
Das Ringen um Anlagesphären ebenso wie das Ringen um Anlagen prägt folglich die internationalen Konkurrenzverhältnisse. Eine kapitalistische Weltökonomie, die nicht Zentrum und Peripherie hervorbringt ist schlechterdings nicht denkbar, wenn auch die Rechtsform, in der dieser Unterschied vollzogen wird, durchaus variabel ist: Sie kann von informeller Einflussnahme auf die wirtschaftliche Entwicklung, über die Installation von Regierungen bis zu förmlicher Kolonisierung reichen. Ebenso variabel zeigt sich auch die internationale Rechtsform, die das Verhältnis entwickelter kapitalistischer Gesellschaften zueinander regelt, sie kann zwischenimperialistische Konkurrenz befördern, gar große Kriege, oder – wie der neue Konstitutionalismus – Standortwettbewerbe koordinieren und gemeinsame multilaterale („ultraimperialistische“) Strategien etwa von EU und USA unterstützen.
Als ein entscheidendes Merkmal des neuen Imperialismus führt Harvey zudem ein, was er „Akkumulation durch Enteignung“ nennt. In Anknüpfung an Rosa Luxemburg und ausgehend von vielfältigen Formen privater Aneignung vormals gesellschaftlichen Eigentums an Verfügungsrechten, Dienstleistungen und Gütern, macht Harvey hierbei Marxens Theorie der ursprünglichen Akkumulation fruchtbar: „[E]benso wie der Krieg im Verhältnis zur Diplomatie kann eine staatlich gestützte Intervention des Finanzkapitals sich häufig in eine Akkumulation mit anderen Mitteln verwandeln. Eine unheilige Allianz zwischen staatlichen Mächten und raubtierartigen Aspekten des Finanzkapitals bildet die Speerspitze eines ‚Blutsaugerkapitalismus’, der sich mehr durch die Aneignung von Vermögensmassen von anderswo als durch eine harmonische, weltweite Entwicklung auszeichnet.“ (Harvey 2004: 194) Hier verlässt das Kapital Harvey zufolge das Wachstumsprinzip einer Akkumulation durch erweiterte Reproduktion. Zu einer Akkumulation im kapitalistischen Sinn freilich wird die Akkumulation durch Enteignung erst dadurch, dass auch sie letztlich auf erweiterte Reproduktion zielt (Görg 2004). So wie die „ursprüngliche Akkumulation“ selbst erst im Hinblick auf späteres als ursprüngliche Akkumulation beschreibbar wird, lässt sich auch die „Akkumulation durch Enteignung“ erst dadurch als kapitalistisch klassifizieren, dass sie auf die Verfügungsweise kapitalistischer Eigentumsordnungen bezogen bleibt. In diesem Sinne bedürfen beide Formen von Akkumulation der rechtlichen Regulation.
Indem der neue Konstitutionalismus folglich kapitalistische Verfügungsweisen – und das bedeutet eine letztinstanzlich auf Profitmaximierung ausgerichtete Produktion von Waren und Dienstleistungen – zur rechtlich bindenden Verfügungsweise der Weltökonomie macht, strukturiert er gleichermaßen die Ausweitung erweiterter Reproduktion, wie die vielfältigen Formen einer auf Verwertung ausgerichteten Akkumulation durch Enteignung. Indem er als Rechtsform in einer von Ungleichheit – sowohl zwischen den Staaten als auch in den antagonistischen Gesellschaften selbst – geprägten Weltwirtschaft fungiert, stützt er Kapitalinteressen und verhilft den diese Interessen tragenden gesellschaftlichen Gruppen zu einer dominanten Position. Auf diese Weise bietet er die Möglichkeit, die Bevölkerungen in Zentrum und Peripherie zu übergehen und nationale Verfassungen – etwa die Offenheit der Wirtschaftsform im deutschen Grundgesetz – zu unterlaufen. Nicht die Nationalstaaten, sondern subalterne gesellschaftliche Gruppen sind so ohne (direkten) Einfluss auf die privatrechtliche Verfassungsbildung. Anders formuliert: Nicht die Souveränität der Staaten des Kapitalistischen Zentrums befindet sich in der Krise, sondern das Prinzip der Volkssouveränität. Wenn der neue Konstitutionalismus dennoch auch in den Staaten des kapitalistischen Zentrums als disziplinierender, externer Zwang erscheint, so offenbart dies sein Paradox: Er tritt den nationalen Regierungen, die ihn wesentlich hervorbringen, als in normative, einklagbare Handlungsanweisungen, in verbindliches Recht gegossen gegenüber – wie ein externer Sachzwang.
Aus rechtstheoretischer Perspektive ist eine Kritik des „neuen Konstitutionalismus“ elementare Voraussetzung einer Kritik des „neuen Imperialismus“ und seiner Rohstoffkriege. Nicht zuletzt die Erkenntnis, dass soziale Rechte als Kernzone der Menschenrechte begriffen werden müssen, macht es nötig, die Frage nach den Eigentumsverhältnissen zu stellen. Nur so kann verhindert werden, dass „Menschenrechte“ dazu benutzt werden, (imperialistische) Kriege zu legitimieren, deren Ziel letztlich nicht darin besteht, menschliche Gleichheit zu verwirklichen.
Literatur
Abendroth, Wolfgang (1967): Zum Begriff des demokratischen und sozialen Rechtsstaats im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland; in: ders.: Antagonistische Gesellschaft und politische Demokratie, Berlin, S. 109-138.
Anderson, Jan Otto (2001): Imperialismus – Text written for Historisch-Kritisches Wörterbuch des Marxismus (second version), July 2001. Siehe auch: ders.: Imperialismus. In: Wolfgang F. Haug (Hg.): Historisch Kritisches Wörterbuch des Marxismus, Bd. 6/I., Hamburg 2004, S. 848-864.
Arendt, Hannah (2001): Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft – Antisemitismus, Imperialismus, totale Herrschaft, München.
Deppe, Frank/Heidbrink, Stephan/Salomon, David/Schmalz, Stefan/Schoppengerd, Stefan/Solty, Ingar (2004): Der neue Imperialismus, Heilbronn.
Gill, Stephen (2000): Theoretische Grundlagen einer neogramscianischen Analyse der europäischen Integration; in: Hans Jürgen Bieling/Jochen Steinhilber: Die Konfiguration Europas, Münster, S. 23-50.
Görg, Christoph (2004): Enteignung oder Inwertsetzung? – Zur Aktualität der „ursprünglichen Akkumulation“, in: Das Argument Nr. 257, S. 721-731
Habermas, Jürgen (1998): Die postnationale Konstellation, Frankfurt/Main.
Harvey, David (2004): Die Geographie des „neuen“ Imperialismus: Akkumulation durch Enteignung; in: Christian Zeller (Hg.): Die globale Enteignungsökonomie, Münster, S. 183-216.
Klenner, Hermann (2004): Recht und Unrecht – Bibliothek dialektischer Grundbegriffe Bd. 12.
Krätke, Michael (2002): Die Mythen der Globalisierung; in: Z. Zeitschrift Marxistische Erneuerung 52, Dezember 2002, S. 16-33
Polanyi, Karl (1978): The Great Transformation – Politische und ökonomische Ursprünge von Gesellschaften und Wirtschaftssystemen, Frankfurt/Main.
Salomon, David (2005): „Weltinnenpolitik“ als „neuer Konstitutionalismus“? – Jürgen Habermas und die Rolle des Rechts im „globalisierten Kapitalismus“; in: Alexander Badziura/Bea Müller/Guido Speckmann/Conny Weißbach (Hg.): Hegemonie – Krise – Krieg. Widersprüche der Globalisierung in verschiedenen Weltregionen, Hamburg, S. 60-75.
Schuhler, Conrad (2005): Metro Total Global – Die internationalen Kapitalstrategien des größten deutschen Handelskonzerns, München.
[1] Zu erwähnen sind insbesondere die Studien Rudolf Hilferdings („Das Finanzkapital“, 1910), Rosa Luxemburgs („Die Akkumulation des Kapitals“, 1913), Nikolai Bucharins („Imperialismus und Weltwirtschaft“, 1915) und Wladimir Iljitsch Lenins („Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus“, 1917). Nicht zuletzt für einige Stränge der heutigen Debatte sind auch die Artikel Karl Kautskys (1914/15) zu seiner Theorie eines „Ultraimperialismus“ von Bedeutung.
[2] Jan Otto Anderson unterscheidet drei Wellen der Imperialismustheorie, die jeweils auf spezifisch Veränderungen des Imperialismus reagierten. (Anderson 2001)