Das Konzept der NAIRU (non accelarating inflation rate of unemployment), einer Arbeitslosenquote, bei der die Inflationsrate konstant ist, macht seit den 1970er Jahren Karriere und knüpft an die keynesianische Phillips-Kurve an. Diese unterstellte einen inversen Zusammenhang zwischen Lohnsteigerung bzw. Inflationsrate und Arbeitslosenquote, so dass eine Senkung der Arbeitslosigkeit nur durch eine höhere Inflationsrate erkauft werden kann. Der „misery-index“ (Inflationsrate plus Arbeitslosenquote) schwanke also eher wenig. Geld- und Fiskalpolitik müssten zwischen diesen beiden Übeln wählen und der damalige Bundeskanzler Helmut Schmidt verkündete sein berühmtes Credo: „Mir sind fünf Prozent Inflation lieber als fünf Prozent Arbeitslosigkeit“.
Die monetaristisch-neoklassische Kritik von Friedman und Phelps an dieser Theorie fiel vor dem Hintergrund der Stagflation der 1970er Jahre mit zugleich steigender Inflation und wachsender Arbeitslosigkeit auf fruchtbaren Boden. Nun wurde argumentiert, die Phillipskurve verschiebe sich, es gebe jedoch eine „natürliche“ Arbeitslosenquote (NRU = natural rate of unemployment) oder QERU (quasi equilibrium rate of unemployment), die sich langfristig immer wieder einstelle, egal welche Geld- und Fiskalpolitik betrieben würde. Es sei also Unfug, mit einer solchen Politik die Arbeitslosigkeit bekämpfen zu wollen. Da aber der Einfluss monetärer Prozesse sowie der Geld- und Fiskalpolitik auf die Realwirtschaft schwer zu leugnen ist, wurde das NAIRU-Konzept als eine Art „Konsensmodell“ des Neu-Keynesianismus, der heute dominierenden Variante der neoklassischen Synthese, entwickelt. Inzwischen liegen auch Ansätze für eine post-keynesianische Interpretation vor (Hein 2004).
Gemäß dem NAIRU-Konzept gibt es eine nachfrageseitig, konjunkturell bedingte Arbeitslosigkeit und eine Arbeitslosigkeit, die auf Rigiditäten am Arbeitsmarkt (persistente Arbeitslosigkeit, strukturelle oder Mismatch-Arbeitslosigkeit sowie Hysterese-Arbeitslosigkeit infolge dauerhaften Ausscheidens aus dem Arbeitsmarkt aufgrund von Dequalifikation und Demotivation) und zu hohe Löhne zurückgeführt werden könne. Ist die tatsächliche Arbeitslosenquote höher als die NAIRU, könne sie, ohne dass die Inflation beschleunigt würde, mittels Geld- und Fiskalpolitik gesenkt werden. Jede Senkung unter die NAIRU mittels dieser Instrumente erhöhe jedoch die Inflationsrate und wirke negativ auf die Realeinkommen (Franz 2003: 372). Soll dies verhindert werden, müsse die NAIRU gesenkt werden und Instrumente zum Einsatz kommen, die den Arbeitsmarkt flexibilisieren und die Lohn- und Sozialleistungsansprüche zurückdrängen. Das heißt, entweder akzeptieren die Lohnabhängigen eine bestimmte Arbeitslosenquote oder sie hätten zu wählen zwischen Einbußen an Realeinkommen (infolge beschleunigter Inflation) und höherem Sozialdruck. Es gebe auch eine NAWRU (non accelarating wage rate of unemployment); das sei die Arbeitslosenquote, die mit einem gegebenen Reallohn vereinbar sei. Auch die Inflationsrate habe somit zwei Ursachen: Es gibt ein Moment, das unabhängig vom Arbeitsmarkt existiert und eines, das mit der Senkung der Arbeitslosigkeit und steigenden Löhnen verbunden ist.
Unzählige Analysen wurden vorgenommen, um die empirische Frage zu beantworten, wie hoch die NAIRU ist. Könnte ihre Höhe ermittelt werden, wären wichtige Fragen beantwortet und es stünde ein Prüfstein für die Wahl eines bestimmten wirtschaftspolitischen Instruments zur Verfügung.
Schätzungen von NAIRU und NAWRU für das Euro-Gebiet
Tabelle siehe Datei zum Download!
Quelle: nach EZB-Monatsberichte, Januar 2007, S. 73
Unterschiedliche Verfahren ergeben jedoch unterschiedliche Ergebnisse (vgl. Abbildung); die NAIRU schwankt und variiert zwischen den Ländern. Eigentlich läge der Schluss nahe, dass „ ... die direkte Verknüpfung von Schätzungen der NAIRU mit wirtschaftspolitischen Reformvorschlägen aufgrund der großen Bandbreite an Schätzergebnissen sachlich kaum gerechtfertigt (erscheint)“ (Beissinger 2003: 424). Aber in der Praxis ist längst alles entschieden; im Zentrum steht das Ziel der Preisstabilität und die Arbeitslosigkeit wird nahezu ausschließlich auf „Starrheiten“ des Arbeitsmarkts zurückgeführt. Trotz seiner Zweifel argumentiert auch der Sachverständigenrat so und begründet damit – unter Protest seines Mitglieds Peter Bofinger – eine angebotsorientierte Arbeitsmarktpolitik. (SVR 2005: 149f).
Marx’ Akkumulationsgesetz und die Formen der industriellen Reservearmee
Ball und Mankiw schreiben, jeder Ökonom, der die Aussage akzeptiere, dass unter sonst gleichen Bedingungen eine Nachfrageerhöhungen die Inflation erhöhe und die Arbeitslosigkeit senke, akzeptiere damit das NAIRU-Konzept. Schon David Hume (1711-1776) habe diesen Zusammenhang gekannt (Ball, Mankiw 2002: 116). Aber jedem mit Marx vertrauten Leser drängen sich auch Analogien zu dessen Akkumulationstheorie auf, nach der eine industrielle Reservearmee im Kapitalismus unvermeidlich sei. Der Hinweis auf eine solche Analogie wird möglicherweise Proteste hervorrufen, denn wie kann Marx in die Nähe von Argumentationsmustern, nach denen höhere Beschäftigung unter Umständen durch Lohnsenkung und Druck auf die Werktätigen erreicht werden könne, gerückt werden? Aber so einfach ist die Sache nicht: „ … steigt der Lohn, (nimmt) ... die unbezahlte Arbeit im Verhältnis ab, … die Akkumulation erlahmt, und die steigende Lohnbewegung empfängt einen Gegenschlag. Die Erhöhung des Arbeitspreises bleibt also eingebannt in Grenzen, die die Grundlagen des kapitalistischen Systems nicht nur unangetastet lassen, sondern auch seine Reproduktion auf wachsender Stufenleiter sichern“ (Marx 1972a, S.649). Hierin eingeschlossen ist auch die Bewegung der Preise, die dem Zyklus folgen. „Im Großen und Ganzen sind die allgemeinen Bewegungen des Arbeitslohnes ausschließlich reguliert durch Expansion und Kontraktion der industriellen Reservearmee …“ (Ebenda 666).
Es führt kein Weg daran vorbei, dass steigende Löhne die Profitrate beeinträchtigen und dies negative Folgen für die Akkumulation des Kapitals und die Beschäftigung haben kann. Natürlich bilden die Löhne auch Nachfrage und ihre Erhöhung im Akkumulationsprozess ist eine Voraussetzung späterer Profitrealisierung. Löhne spielen eine doppelte Rolle als Kosten und Nachfrage, weshalb es auf die Bedingungen ankommt, unter denen sie steigen. Aber Lohn- und Beschäftigungsentwicklung bleiben „eingebannt in Grenzen“. Marx spricht von einem Gesetz, „welches die … industrielle Reservearmee stets mit Umfang und Energie der Akkumulation in Gleichgewicht hält“ (1972a: 675). Diese Arbeitslosigkeit ist keine „natürliche“ Arbeitslosigkeit, weil sie an die gesellschaftlich-institutionellen Verhältnisse des Kapitalismus gebunden ist. Aber kann die NAIRU nicht vielleicht doch als das Schwankungszentrum dieser systemimmanent unvermeidlichen Arbeitslosigkeit interpretiert werden?
Auch wenn Marx’ Theorie unvollständig blieb und bestimmte Aussagen ihre historische Probe nicht bestanden haben, so enthält seine Analyse der Ursachen und Formen der Arbeitslosigkeit bereits wesentliche Elemente heutiger Untersuchungen. Im ersten Band des „Kapital“ stellt er sie in ihrer elementaren Form dar und sieht vorläufig von der „ … Zerspaltung des Mehrwerts und [der] ... vermittelnde[n] Bewegung der Zirkulation“ ab (ebd. 590), die er dann in den – aus seiner Sicht unvollendeten – Manuskripten zu Band II und III des „Kapital“ behandelt. Die Modifikationen entstehen dadurch, dass die Verteilung des Neuwerts nicht einfach Lohn und Mehrwert, sondern Lohn und die verschiedenen Formen des Mehrwerts umfasst, so dass die Verwertung des Einzelkapitals von weiteren Faktoren bestimmt wird. Lohn und Unternehmergewinn können sich bei sinkenden Zinsen auch durchaus gleichgerichtet bewegen. Außerdem sind Abweichungen der Preise vom Wert die Regel und infolge des Kredits sowie der Kreditgeldschöpfung erhält der ganze Prozess eine hohe Elastizität, so dass die bei positiven Profiterwartungen vorangetriebene Akkumulation und die Profitrealisierung zeitlich und räumlich weit auseinander liegen können. Diese Bewegungen vollziehen sich in einer historischen Zeit und führen zum Wirtschaftszyklus. Sie weisen darüber hinaus eine räumliche Struktur auf, die heute globale Dimensionen umfasst. Ein stabiles, über einen Zeitraum und für einen Wirtschaftsraum dauerndes Gleichgewicht ist mit diesem Konzept nicht vereinbar. Erst der Zyklus selbst sowie die Aggregation räumlich differenzierter Prozesse konstituieren einen Trend als makroökonomische Durchschnittsbewegung.
Explizit unterscheidet auch Marx konjunkturelle Arbeitslosigkeit von anderen Formen: „Die relative Übervölkerung existiert in allen möglichen Schattierungen. … Abgesehen von den großen, periodisch wiederkehrenden Formen, welche der Phasenwechsel des industriellen Zyklus ihr aufprägt … besitzt sie fortwährend drei Formen: flüssige, latente und stockende.“ (1972a: 670). Obwohl er andere Begriffe verwendet, finden sich Hinweise auf die Hysterese, auf die saisonalen Schwankungen und den Wechsel der Mode sowie die strukturelle oder Mismatch-Arbeitslosigkeit. Auch für Prozesse, die den Zyklus „durchkreuzen“ (ebenda: 666), heute als „Schocks“ bezeichnet, finden sich Beispiele.
Die durchschnittliche Arbeitslosenquote eines Zyklus könnte als die überzyklische Arbeitslosigkeit definiert werden. Auch manche NAIRU- Messungen nehmen einfach die statistisch geglättete tatsächliche Arbeitslosenquote als NAIRU an (Jerger 2003: 65). Welche Wirtschaftspolitik in den vergangenen Jahrzehnten auch immer wirksam wurde, die industrielle Reservearmee (sie geht heute über den Sektor der traditionellen Industrie hinaus und umfasst auch Agrar- , Bau-, Dienstleistungs- und Informationsindustrien), kehrte nach den „Wirtschaftswunderjahren“ wieder zurück. Und selbst in jenem „Golden Age“ der Nachkriegsjahrzehnte des vorigen Jahrhunderts war die Arbeitslosenquote eigentlich nur nach 1961 bis 1973 auf einem historisch einmaligen Tiefstand; vorher sank sie zwar, lag aber im Durchschnitt trotzdem bei 5 Prozent. Zudem wies sie auch damals wahrnehmbare zyklische Schwankungen auf. Trotzdem lohnt natürlich ein Blick auf jenes Jahrzehnt der Prosperität sowie auf Länder mit heute deutlich niedrigerer Arbeitslosigkeit, um die Frage zu beantworten, welche Bedingungen und welche Wirtschaftspolitik dabei eine Rolle spielen könnten.
Angebot und Nachfrage nach Arbeitskräften
Die Entwicklung der Beschäftigung hängt vom Kapitalstock und seinem Wachstum durch Investitionen, von der Kapitalausstattung und seiner Veränderung, dem nachfrageabhängigen Auslastungsgrad, der effektiven Arbeitszeit je Erwerbstätigen und der der Arbeitsintensität ab (ausführlich: Leibiger 2005). Diese Faktoren sind ihrerseits von der erwarteten und der tatsächlichen Verwertung des Kapitals abhängig, weil sie weitgehend in der Entscheidungshoheit privater Kapitaleigentümer liegen. Mit der Zielgröße der Verwertung ist verbunden, dass Löhne und andere Kosten, Zinsen und Preisbewegung sowie der Verwertungsgrad alternativer Anlagen z.B. im Ausland oder im spekulativen Bereich diese Entscheidungen beeinflussen.
Auf der Angebotsseite ist das Erwerbspersonenpotenzial Ausgangspunkt der Betrachtung, die abhängig ist der Wohnbevölkerung, dem Pendler- und Wanderungssaldo und der Erwerbsquote. Nicht nur die Nachfrage nach Arbeit, sondern auch das Arbeitsangebot wird von Akkumulationserfordernissen mitbestimmt. Ein gegebenes Potenzial ist langfristig kein begrenzender Faktor der Kapitalakkumulation. Sobald eine solche Grenze durch Personalmangel und Lohnsteigerung fühlbar wird, werden Mechanismen in Gang gesetzt, die in den jeweiligen Standorten oder Ländern zu einem erhöhten Zustrom an Arbeitskräften führen können. Forcierung der Zuwanderung, Einpendler, Saisonarbeiter, Anreize zur Erhöhung der Frauenbeschäftigung usw. sind die üblichen Mittel, die gerade auch für die Geschichte der Arbeitslosigkeit in Deutschland und die aktuelle Situation eine bedeutende Rolle spielen. So folgt der Saldo der Außenwanderung dem Konjunkturverlauf und die drastische Erhöhung der Erwerbslosigkeit in den 1970er Jahren ging mit dem sprunghaften Anstieg der weiblichen Erwerbsquote einher. „Das Kapital agiert auf beiden Seiten zugleich. Wenn seine Akkumulation einerseits die Nachfrage nach Arbeit vermehrt, vermehrt sie andrerseits die Zufuhr von Arbeitern …“ (Marx, 1972a: 669).
Ist aufgrund dieser Faktoren die Zahl der Erwerbspersonen einmal gestiegen, ist wachsende Arbeitslosigkeit beim geringsten Rückgang der Beschäftigung unvermeidlich. Die in bestimmten Standorten beschäftigten Arbeitskräfte verschwinden nicht, wenn sie nicht mehr gebraucht werden, sondern bleiben Bestandteil des vermehrten Erwerbspersonenpotenzials. Lediglich Pendler kehren zurück und nur in diesem Falle sinkt die Inlands-Beschäftigung, ohne dass die Zahl der arbeitslosen Inländer steigt. Alle übrigen Arbeitskräfte tragen jedoch zum Anschwellen der Erwerbslosigkeit bei. Auf dem Arbeitsmarkt wirkt ein Sperrklinken-Effekt: Steigende Beschäftigung wird das Erwerbspersonenpotenzial in der Regel ausdehnen; sinkt die Beschäftigung, geht dieses Potenzial nicht im selben Ausmaß wieder zurück.
Räumlich-soziale und biografische Bindung der Arbeiter
In den meisten makroökonomischen Modellen wird der Arbeitsmarkt „punktförmig“ aufgefasst, wodurch die räumliche Differenziertheit und historische Prozesshaftigkeit der Faktoren, welche die Arbeitslosigkeit bestimmen, nicht erfasst werden können. Außerdem figuriert die Arbeit in ihnen als Produktionsfaktor und entbehrt damit jeglicher sozialen Einbettung. Für eine Arbeitsmarkttheorie ist jedoch nicht unwichtig, dass es nicht den Arbeitsmarkt, sondern viele, sich territorial, in Bezug auf Wirtschaftszweige und die erforderliche Qualifikation unterscheidende Arbeitsmärkte gibt. Anders als beim Kapital, dessen Eigentümern die Anlagesphäre gleichgültig ist, solange sie genug Profit abwirft, und das heute eine Mobilität und Flexibilität aufweist, die eine sekundenschnelle globale Umstrukturierung ermöglicht, ist die Arbeitskraft an eine Person gebunden, die biografische, familiäre, soziale und territoriale Bindungen aufweist. Während die Lebensdauer des Sachkapitals kaum mehr als einige Jahre beträgt, weist der Arbeiter eine Biografie auf, in deren Verlauf es nicht nur zu höherer Qualifikation und Berufserfahrung, sondern auch zu vertieften sozialen Bindungen sowie irreversiblen Alterungsprozessen kommt. Jeder beruflich bedingte Wechsel erfordert Zeit und verursacht Kosten und mitunter ist ein solcher Wechsel nach Ort, Tätigkeit oder Beruf weder möglich noch wünschenswert.
Diese soziale Gebundenheit drückt sich auch darin aus, dass trotz hoher Arbeitslosigkeit freie Stellen nicht besetzt werden. Es existiert fast immer eine Diskrepanz zwischen den Strukturen von Arbeitsangebot und Arbeitsnachfrage, die als Mismatch-Arbeitslosigkeit (mismatch = Fehlanpassung, Unausgeglichenheit) bezeichnet wird. Diese Arbeitslosigkeit kann sowohl vom Arbeitsangebot her entstehen, wenn die Bevölkerungs- und Qualifikationsentwicklungen in bestimmten Territorien nicht auf die entsprechende Nachfrage treffen (wie z.B. in vielen ostdeutschen Regionen), oder auch von der Arbeitsnachfrage her, wenn sich Veränderungen vollziehen, auf welche die potenzielle Erwerbsbevölkerung nicht flexibel reagieren kann.
Eine mehr sozial orientierte Wirtschaftspolitik würde auf Anpassungen und Veränderungen keineswegs verzichten, hätte aber diese soziale Gebundenheit gleichwohl zu berücksichtigen. Die politisch-ökonomische Prioritätensetzung bei der Kapitalverwertung führt jedoch dazu, dass diese Bindung als Hemmnis oder Rigidität im Hinblick auf Erfordernisse der Kapitalverwertung bewertet wird. Vertreter der Unternehmerseite kritisieren „Verkrustungen des Arbeitsmarktes“ sowie fehlende Mobilität und Flexibilität der Arbeitsuchenden und versuchen, diese durch Druck auf die Arbeitslosen zu erhöhen. Ihnen schwebt ein völlig flexibler und mobiler Produktionsfaktor Arbeit vor, der roboterhaft und zugleich kreativ jede Tätigkeit mit maximaler Effizienz an beliebigen Orten ausführt und dessen Einsatzwechsel keinerlei Transfer- und Informationskosten verursacht. Gefordert wird eine „allseitige Beweglichkeit des Arbeiters“, wie schon Marx beobachtet (1972a: 511). Dieses Wunschbild findet seinen theoretischen Ausdruck in der Unterstellung eines vollständig substituierbaren und homogenen Faktors Arbeit und stetig differenzierbarer Angebots- und Nachfragekurven.
Das Kriterium dafür, ob der Arbeitsmarkt als rigide bezeichnet wird, ist also keineswegs neutraler Natur. Er weist Rigidität im Hinblick auf die Verwertungserfordernisse auf. Aber könnte das Kriterium nicht anders gewählt werden? Müsste nicht das Kapital flexibler in Bezug auf soziale Erfordernisse werden, anstatt starr auf das Ziel der Maximalverwertung im Interesse der Kapitalbesitzer gerichtet zu sein? Oder warum soll – wie Rothschild provozierend vorgeschlagen hat – statt einer stabilen Inflationsrate nicht eine NAURI (Non-Accelerating-Unemployment-Rate-of-Inflation) die Zielfunktion der Politik sein (Rothschild 2006: 164)? Wer solche Forderungen als irrational oder utopisch abtut, verkennt, dass in manchen Ländern mit höherem Beschäftigungsgrad dies durch staatliche Investitionen und Beschäftigung in öffentlichen Betrieben erreicht wird. Das Beschäftigungswunder Westdeutschlands in den 1950/1960er Jahren beruhte zu einem guten Teil auf solchen staatlichen Investitionen z.B. in den Aufbau der Infrastruktur.
Azyklische Prozesse
Der Wirtschaftszyklus wird immer wieder durch unregelmäßige ökonomische und politische Ereignisse von unterschiedlicher räumlicher und zeitlicher Reichweite beeinflusst, welche die bestehenden Reproduktionszusammenhänge und Strukturen zerstören. Dies können Innovationen sein, außenwirtschaftlich bestimmte Änderungen z.B. von Preisen oder Konkurrenzkonstellationen, Konzentrationsvorgänge in einzelnen Industrien, politische Entscheidungen und andere. Marx hat eine Fülle von Beispielen angeführt und spricht von „unregelmäßigen Oszillationen“, die den Zyklus „durchkreuzen“ (1972a: 666).
Heute werden solche Störungen als Schocks bezeichnet, und die Neoklassik betrachtet sie als quasi außerökonomisch hervorgerufene Ereignisse, auf welche die Wirtschaft mit Anpassungsreaktionen in Richtung auf ein neues Gleichgewicht reagiere. Diese Anpassung könne eine oszillierende Bewegungsform haben und Wirtschaftskrisen werden deshalb im Rahmen der Real-Business-Cycle-Theorien als von solchen Schocks, also außerökonomisch verursacht, interpretiert. Reagiere der Arbeitsmarkt, also die Arbeiter, nicht flexibel genug, entstehe irgendwo Arbeitslosigkeit. Obwohl die Erklärung von Krisen mit außerökonomischen Ereignissen hier nicht geteilt wird, ist die Existenz solcher Ereignisse mit den entsprechenden Wirkungen auf Erwerbstätigkeit und Arbeitslosigkeit eine Tatsache. Die meisten dieser Schocks sind jedoch Prozesse, deren Ursachen innerhalb des Systems liegen und von ihm „produziert“ werden. Ob und wann die durch sie ausgelösten Folgeprozesse auf ein neues Gleichgewicht hinauslaufen, ist nicht ausgemacht und Marx hat sich mit dieser These gelegentlich seiner Kritik der Kompensationstheorie auseinandergesetzt (1972a: 461ff).
Die gegenwärtig wichtigsten azyklisch und räumlich differenziert wirkenden Prozesse sind der mit der Globalisierung und dem Produktivkraftumbruch verbundene Strukturwandel, der mit dem Wandel der Qualifikations- und Tätigkeitserfordernisse sowie der räumlichen und stofflichen Gliederung der Produktion einhergeht. Dieser Wandel erfordert lange Zeiträume und die politische Unwilligkeit, diesen Prozess auch im Interesse der Arbeitsbevölkerung zu steuern, erschwert die Senkung der damit verbundenen Mismatch-Arbeitslosigkeit. Mit der Liberalisierung der Kapitalmärkte wurden die Möglichkeiten der Kapitalanlage schlagartig erweitert, ein Prozess, der die Globalisierung erheblich forciert und überhaupt erst ermöglicht hat. Neben dem Kapitalexport in Form von Direktinvestitionen wurden neue Felder für Devisen- und Kapitalspekulationen geschaffen, wodurch die Investitionen in inländisches Sachkapital zugunsten kurzfristig hochrentierlicher spekulativer Anlagen gehemmt wurden. Ein für Deutschland einschneidendes Ereignis war die Zerstörung der ostdeutschen industriellen Basis nach 1990. Die damit verbundene Arbeitslosigkeit entstand schlagartig mit der Wirtschafts- und Währungsunion. Obwohl die Ostdeutschen seitdem eine historisch einmalige Flexibilität und Mobilität bewiesen haben, sind für die nächsten Jahre keine durchschlagenden Veränderungen zu erwarten, weil öffentliche Investitionen zurückgefahren werden.
Wird die Arbeitslosigkeit im Aufschwung ungenügend abgebaut, werden nicht mehr voll anpassungsfähige Personen und junge, noch gering qualifizierte und wenig erfahrene Lohnabhängige zu Langzeitarbeitslosen, die auch beim folgenden Aufschwung nicht nachgefragt werden, weil sich mit der Dauer der Arbeitslosigkeit die Alterung, die Dequalifikation und die Demotivation verstärken. Die in Deutschland praktizierte Arbeitsmarktpolitik schafft ein zunehmendes Prekariat und erweitert die damit verbundene Exklusion. Egal, weshalb es zu dieser Arbeitslosigkeit, als Hysterese bezeichnet, einmal gekommen war, der Effekt verstärkt sich selbst. Marx behandelt diese Form unter dem Begriff des Pauperismus (1972a: 673).
Es ist klar, dass eine Globalsteuerung der Wirtschaft mittels Lohn-, Geld- und Finanzpolitik diesen strukturellen Problemen nicht gewachsen ist. Und infolge der Verlagerung von wirtschaftspolitischen Kompetenzen auf die internationale Ebene im Rahmen der EU wird sie diesen räumlich und zeitlich differenzierten Erfordernissen immer weniger gerecht. Auch die im Zusammenhang mit der post-keynesianischen NAIRU-Interpretation vorgebrachte Forderung nach „effektiv koordinierten Lohnverhandlungssystemen“ und nach einer „Organisation des Arbeitsmarktes sowie der Tarifverhandlungssysteme“ (Hein 2004: 64) dürfte nur sehr begrenzte Wirkungen haben.
Verteilung und Beschäftigung im Wirtschaftszyklus
Im NAIRU-Konzept kann weder der neoklassische Zusammenhang von Löhnen und Beschäftigung noch die Phillips-Kurve alleinige Gültigkeit beanspruchen. Auch bei Marx gibt es keinen unter allen Bedingungen gleichgerichteten Zusammenhang von Löhnen, Preisen und Beschäftigung. Die Verteilung des Neuwerts zwischen Arbeiter und Kapitalist drückt sich bei wachsendem Umfang der Akkumulation und damit der Nachfrage nach Arbeit, also im zyklischen Aufschwung, in steigenden Löhnen (über den Wert der Arbeitskraft hinaus) und Preisen (über den Wert hinaus) aus. In dieser Phase gehen also Beschäftigungswachstum, Senkung der Arbeitslosigkeit und Lohn- sowie Preissteigerungen Hand in Hand, ähnlich wie es Phillips beobachtet hatte. Erst nach einem time-lag, wenn steigende Löhne auf die Profitrate drücken, beeinträchtigen sie den Umfang der Akkumulation, was negativ auf die Arbeitsnachfrage und die Beschäftigung zurückwirkt. Im Abschwung ist die inverse Beziehung von Arbeitslosigkeit und Inflation dann wieder hergestellt: höhere Arbeitslosigkeit geht mit Deflation einher. Zwar sind in diesem Kontext die Grenzen, in die Lohn und Beschäftigung eingebannt bleiben, nicht quantitativ bestimmt, aber Marx lässt keine Zweifel daran, dass er das Steigen und Fallen der Geldlöhne als Schwankungen um den Wert der Arbeitskraft und die zyklischen Schwankungen der Arbeitslosigkeit als Bewegung um eine beständig gegebene Arbeitslosigkeit auffasste.
Er irrte allerdings bei der Einschätzung der langfristigen Reallohnentwicklung. Zwar schwanken die Nominallöhne gemäß Umfang und Energie der Akkumulation und damit der Bewegung der Arbeitslosigkeit um den Wert der Arbeitskraft, aber auch dieser Wert selbst weist eine Bewegung auf. Und obwohl er über die analytischen Instrumente zur Erklärung dieser Wertbewegung verfügte, unterschätzte er das historisch-moralische Moment und die Wertsteigerung infolge wachsender Reproduktionserfordernisse der Arbeiter im Zuge der Produktivkraftentwicklung. Obwohl der Wert der einzelnen Elemente des erforderlichen Güter- und Leistungsbündels vielleicht sinkt, wurde dieses Bündel selbst immer größer. Die empirisch gemessene Preisbewegung umfasst somit unterschiedliche Momente: Wertsteigerungen der Arbeitskraft (höherer Wert der Arbeitskraft, die komplizierte Arbeit verrichtet), die Bestandteil des Reproduktionsaufwands und damit des Werts der Güter ist, Preisschwankungen infolge Angebots- und Nachfragebewegungen im Verlauf des Zyklus, monopolistische Preisbildungsmomente und Geldmengenausdehnung. Dies erklärt zum Teil wohl auch die säkular überzyklisch steigende Preisbewegung.
Der Kredit ermöglicht eine elastische Ausdehnung der Akkumulation über die vom Einzelkapital realisierten Profite hinaus; dies ist überhaupt die Funktion des Kredits, dessen notwendiges Gegenstück die Zunahme des Sparens ist. In den keynesianisch orientierten Theorien wird das Sparen durch die psychologisch bestimmte Sparneigung, die bei wachsenden Einkommen, also im Aufschwung, steige, erklärt. Hier liegt ein wesentlicher Unterschied zu einer marxistischen Erklärung, wo die Sparzunahme vor allem als Geldkapitalbildung die Kehrseite der akkumulationsbedingten Kreditausweitung ist. Die mit den wachsenden Profiterwartungen steigende Kreditnachfrage wird zur Grenze der Ausdehnung der Akkumulation, weil wachsende Zinsen die Realakkumulation zugunsten spekulativer Anlagen, also des Sparens, hemmen. Der Kredit wird zum „Haupthebel der Überproduktion und der Überspekulation …weil der Reproduktionsprozess, der seiner Natur nach elastisch ist, bis zur äußersten Grenze forciert wird.“ (Marx 1972c: 457) Die Zinsertrags-Erwartungen können nicht mehr durch das reale Wachstum des Neuwerts bedient werden und die Verwertung des produktiven Kapitals kommt durch Löhne und Zinsen in Bedrängnis; die Finanzblase platzt. Die Tatsache, dass im modernen Kapitalismus ein Sparen aus Löhnen möglich wird, erweitert zwar diesen Mechanismus, ändert ihn aber nicht prinzipiell; er existierte ja schon viel früher, als Lohneinkommen viel zu niedrig für eine Ersparnisbildung waren und Gläubiger und Schuldner, abgesehen von Außenbeziehungen, weitgehend derselben Klasse der Vermögensbesitzer angehörten.
Die Existenz einer staatlichen Nachfrage modifiziert diese Zusammenhänge, weil damit ein relativ eigenständiger Akteur von beträchtlicher Potenz ins Spiel kommt. Aber auch dieser Akteur kann seine Nachfrage nur aus Einkommen generieren. Diese steuerfinanzierte Nachfrage ersetzt somit private Konsum- und Investitionsgüternachfrage, auch wenn sie wegen der privaten Sparquote höher ausfallen wird. Soweit sie auf Kredit beruht, stellt sie nur eine weitere Kreditnachfrage dar, die – wie jede andere Kreditnachfrage – den Zins beeinflusst. Diese Aspekte spielten bei Marx kaum eine Rolle; das im Rahmen seines ökonomischen Hauptwerks geplante Buch vom „Staat“ blieb ungeschrieben.
Entscheidend für die Ableitung der Zusammenhänge von technischem Fortschritt, Löhnen und Beschäftigung in Auf- und Abschwung sowie in den Wendepunkten des Zyklus ist die Bewegung der Investitionen, die das auslösende Moment des Zyklus bilden. Die Akkumulation und nicht der Arbeitsmarkt liegt der Bewegung der Beschäftigungsentwicklung und der Produktion zugrunde. „Um mathematischen Ausdruck anzuwenden: die Größe der Akkumulation ist die unabhängige Variable, die Lohngröße die abhängige, nicht umgekehrt“ (Marx 1972a: 648). Im Aufschwung wachsen der Kapitalstock und dessen Auslastung; beide Faktoren führen zum Anstieg der Erwerbstätigkeit. Mit den Investitionen werden neue Kapitalgüter mit höherem Kapitalbedarf je Arbeitsplatz in den Produktionsprozess eingesetzt, so dass das Wachstum der Beschäftigung zwar positiv, aber langsamer als Kapital- und Auslastungswachstum sein wird. Im Abschwung ist die Akkumulation rückläufig; das Wachstumstempo der Kapitalausstattung wird sich jedoch nicht im selben Maße abschwächen, weil jetzt vor allem die Rationalisierung und die Konzentrationsbewegung für Einspareffekte und Synergien sorgen. Die Möglichkeit der Lohnabhängigen, Arbeitszeitsenkungen durchzusetzen, verschwindet und der Druck auf die noch Beschäftigten, ihre Arbeitsintensität zu erhöhen, steigt. Das Gesamtergebnis ist ein Rückgang der Beschäftigung.
Der empirisch zu beobachtende synchrone Verlauf von Investition und Beschäftigung (Leibiger 2007) zeigt, dass die Unterstellung der Substitutionalität zwischen Arbeit und Kapital, die für das Argument, sinkende Löhne führten zu höherer Beschäftigung, maßgeblich ist, so nicht stimmen kann. Obwohl steigende Löhne, wie auch Marx beobachtet hatte, den technischen Fortschritt und höhere Kapitalausstattung forcieren werden (Marx 1972a: 414f), gilt das nicht umgekehrt: sinkende Löhne werden keine Rückkehr auf einen niedrigeren Technisierungsgrad mit höherem Arbeitseinsatz herbeiführen. In der Begründung der NAIRU werden zwar die klassischen Angebots- und Nachfragekurven der Arbeit durch eine Lohnsetzungskurve- und eine Preissetzungskurve ersetzt (Franz 2003: 366, 370), aber faktisch hat letztere die grundlegenden Eigenschaften des neoklassischen Modells, obgleich nunmehr den Ursachen der Verschiebung dieser Kurven im Zeitablauf mehr Aufmerksamkeit als der Bewegung auf den Kurven geschenkt wird.
Krise und Arbeitslosigkeit
Was passiert in der Hochkonjunktur? Kann eine vielleicht durch koordinierte Lohn-, Fiskal- und Geldpolitik kontinuierlich steigende Nachfrage zur Verwirklichung des „Traums immerwährender Prosperität“ führen? Lassen sich also Profit- und Lohnansprüche dauerhaft bei Vollbeschäftigung harmonisieren, oder haben die NAIRU-Theoretiker recht, wenn sie das verneinen?
Die Aufforderung an die Unternehmer, zu akzeptieren, dass wachsende Löhne langfristig auch ihre Profite sichern, wird wohl auf taube Ohren stoßen; das Keynessche „Langfristig sind wir alle tot“ gilt auch für sie. Fehlt ein anders gerichteter staatlicher Zwang, zwingt die Konkurrenz alle Unternehmen zu Investitionen und Produktionssteigerungen über jede gegebene Nachfrageentwicklung hinaus und der Kreditmarkt ermöglicht diese Steigerungen. Eine Koordination dieser Entscheidungen oder eine konzertierte Aktion im Sinne des Stabilitätsgesetzes würde von den Einzelkapitalen unterlaufen, um zumindest zeitweilige Konkurrenzvorsprünge zu erringen. Dazu gehört auch, dass Löhne im eigenen Unternehmen Kosten sind und die Lohnstückkosten deshalb so niedrig, die Ausbeutung also so hoch wie möglich gehalten wird. Das Innovationsgeschehen, die Produktivitätsentwicklung und die Standortentscheidungen im Rahmen globaler Wirtschaftsräume bleiben außerhalb aller Koordinationsmöglichkeiten und eventuell höhere Verwertungsmöglichkeiten z.B. im Ausland werden rigoros genutzt. Der time lag bis zur der Profitrealisierung beim Güterabsatz verhindert zudem eine kurzfristig wirksame und flexible Rückkopplungsreaktion.
Bei Marx spielt der Fall der Profitrate infolge wachsender Zusammensetzung des Kapitals eine wichtige Rolle bei der Krisenerklärung. Er erklärt aber nicht (ein ewiger Diskussionspunkt unter Marxisten), weshalb diese Zusammensetzung rascher steigen sollte als die Mehrwertrate. In seiner Kredittheorie wird jedoch deutlich, dass auf dem Höhepunkt des Zyklus der Fall zunächst der Unternehmergewinne sich auch unabhängig von den technischen Bedingungen, unter denen sich die Akkumulation vollzieht, erfolgen muss und in der Folge auch die Profitrate sinken wird.
Aufgrund des time-lag zwischen Investitionen und Profitrealisierung spielen für die Investitionen Profiterwartungen eine entscheidende Rolle. Kredite werden entsprechend dieser Erwartungen aufgenommen und vergeben, führen allerdings zu Zahlungsverpflichtungen. Da die Investitionen von konkurrierenden Unternehmen vorgenommen werden, ohne dass sie die Pläne ihrer Konkurrenten sowie die künftige Nachfrage kennen, wird so lange investiert, solange keine anders gerichteten Preissignale am Absatzmarkt existieren. Ab dem Moment, wo neu geschaffene Kapazitäten in Betrieb genommen werden, die Auslastung hochgefahren wird und die Realisierung erfolgen soll, zeigt sich, dass zwar die Absatzmöglichkeiten gesamtwirtschaftlich größer geworden sind, der Umsatzanteil des einzelnen Unternehmens aber zu gering ausfällt, um allen eingegangenen Zahlungsverpflichtungen nachkommen zu können. Ist das noch nicht der Fall, wird weiter investiert und die Auslastung weiter erhöht, aber irgendwann muss der Prozess stocken, was sich in der regelmäßig zu beobachtenden „Seitwärtsbewegung“ der Konjunktur nach einem Aufschwung äußert. Zuerst wird die Klemme bei der kontraktbestimmten Bedienung der Kredite fühlbar, deshalb wird die Krise durch eine Kreditkrise eröffnet. „In einem Produktionssystem, wo der ganze Zusammenhang des Reproduktionsprozesses auf dem Kredit beruht, wenn da der Kredit plötzlich aufhört und nur noch bare Zahlung gilt, muss augenscheinlich eine Krise eintreten, ein gewaltsamer Andrang nach Zahlungsmitteln. Auf den ersten Blick stellt sich daher die ganze Krise nur als Kreditkrise und Geldkrise dar.“ (Marx 1972c: 507). Der Zusammenbruch der Profiterwartungen, der „Grenzleistungsfähigkeit des Kapitals“ (Keynes), ist Folge des Zusammenbruchs der Profitrealisierung, durch den die bisherigen Zahlungsverpflichtungen nicht realisiert werden können und neue Kredite zu teuer sind. Es ist „zu spät“ und die Korrektur kann sich nur durch das Ausscheiden von Kapital und Erwerbstätigen aus dem Verwertungsprozess vollziehen; die Investitionen sinken. Ist die Bereinigung vollzogen und haben sich die Gewinne mit dem Abbau der Überproduktion und Überkapazitäten und vor dem Hintergrund dann sinkender Zinsen und Löhne wieder stabilisiert, sorgt der Ersatzbedarf bei den Ausrüstungen für wieder steigende Investitionen.
In der neu-keynesianischen Theorie wird der Spielraum in der Bewegung von Löhnen, Profiten und Zins nicht durch den Wert, um den die Preise schwanken, begrenzt. Die Profite werden durch eine Preisaufschlagskalkulation bestimmt, deren Grenzen durch die Preiskonkurrenz und die geldpolitisch determinierte Preisbewegung bestimmt sind. Aber welches Preisniveau stellt sich durch die Intensität der Konkurrenz letztlich ein? Wie hoch wird der Preis sein, wenn die Zentralbank ihre Geldpolitik nicht ändert? Diese Frage nach dem Regulativ der Wechselwirkung von Löhnen, Unternehmergewinn und Zins, die bei Marx durch den Wert, dessen Geldausdruck der Preis ist, beantwortet wird, beantwortet der Neu-Keynesianismus durch die Annahme einer Zielinflationsrate, d.h. einer normativen Bestimmung der Bewegung des Preisniveaus. In einer Theorie ohne Wert kann das Preisniveau bei Gleichheit von Angebot und Nachfrage nur durch eine dritte Größe bestimmt sein. Ist es nicht der Wert, kommen dafür nur die Geldmenge bzw. normativ bestimmte Preise oder Preisänderungen in Betracht.
Marx (und Engels, der den Band 3 des Kapitals bearbeitete) haben anhand einer minutiösen Analyse der Geldpolitik der Bank of England und der geldpolitischen Diskussion ihrer Zeit gezeigt, in welchem Sinne und mit welchen Grenzen „money matters“, wie man heute sagen würde. Dabei steht der Kredit im Zentrum der zyklischen Reproduktion und „die Zentralbank ist Angelpunkt des Kreditsystems“ (1972c: 587). Es wird gezeigt, wie eine restriktive Geldpolitik über ihre Zinswirkung im Aufschwung die Krise verschärft und inwiefern eine Geldmengenausweitung sie zu „brechen“ vermag (ebd. 570f). Aber Marx betont auch die Grenzen der heftig umstrittenen Geldpolitik. Faktisch „(dreht sich) der Streit um die mehr oder minder rationelle Behandlung des Unvermeidlichen“ (ebd. 588, Hervorhebung: J.L.). „Unwissende und verkehrte Bankgesetzgebung … kann diese Geldkrise (verschärfen – J.L.). Aber keine Art Bankgesetzgebung kann die Krise beseitigen.“ (Ebenda 507).
Auch eine stabilitätsorientierte Lohnpolitik, die das Wachstum der Löhne mindestens am Wachstum der Produktivität und des Preisniveaus ausrichtet, ist zu befürworten, darf aber in ihren Beschäftigungswirkungen nicht überschätzt werden, zumal die Arbeitseinkommen nur einen Teil der Nachfrage ausmachen. Zwar wird die Höhe der Löhne ausgehandelt, nicht jedoch die Höhe und das Wachstum der Produktivität und der Preise, zumal die Geldpolitik das Preisniveau nicht allein bestimmen kann. Es liegt in der Natur der Konkurrenz, dass sich ein Gleichgewicht erst im Nachhinein, nach seiner Verletzung und auch dann nur für einen Moment herstellen kann, weil die Pläne von Konkurrenten sich nicht koordinieren lassen. Tendenziell werden die Löhne deshalb dem Verteilungsspielraum hinterherhinken. Steigen sie jedoch rascher, so dass sich die Lohnquote erhöht, können in der Tat die Finanzierungsmöglichkeiten der Investitionen beeinträchtigt werden. Soll dies durch eine expansive Geldpolitik und niedrigere Zinsen verhindert werden, könnte das steigende Preisniveau das Nominallohnwachstum durchaus kompensieren und zu wieder sinkenden Reallöhnen führen. Reagieren die Zentralbanken in anderer Richtung, um überdurchschnittliche Preissteigerungen, zu hohe Kapazitätsauslastung und das Entstehen von Überkapazitäten durch eine restriktive Geldpolitik und steigende Leitzinsen einzudämmen, verstärken sie die Kreditklemme und bewirken mit dem Rückgang der Realinvestitionen eine Eindämmung der Beschäftigung, zumindest ab jenem Punkt, wo die Unternehmen den Druck an die Lohnabhängigen nicht mehr weitergeben können bzw. deren Nachfrage zurückbleibt.
Verbesserte Verhandlungspositionen der Lohnabhängigen und steigende Reallöhne können Krisen, mithin konjunkturelle Arbeitslosigkeit, letztlich nicht verhindern. Dazu sei zu bemerken, so Marx, „dass die Krisen jedes Mal gerade vorbereitet werden durch eine Periode, worin der Arbeitslohn allgemein steigt und die Arbeiterklasse realiter größeren Anteil an dem für die Konsumtion bestimmten Teil des jährlichen Produkts erhält. Jene Periode müsste – von dem Gesichtspunkt dieser Ritter vom gesunden … Menschenverstand (womit er unter anderem den Unterkonsumtionstheoretiker Rodbertus meint – J.L.) – umgekehrt die Krise entfernen. Es scheint also, dass die kapitalistische Produktion vom guten oder bösen Willen unabhängige Bedingungen einschließt, die jene relative Prosperität der Arbeiterklasse nur momentan zulassen, und zwar immer nur als Sturmvogel einer Krise.“(1972b: 409f)
Es ist kein Widerspruch dazu, wenn Marx fast zeitgleich zur Arbeit an diesen Manuskripten für Lohnsteigerungen eintritt. „Besagt das etwa, dass die Arbeiterklasse ...ihre Versuche aufgeben soll, die gelegentlichen Chancen zur vorübergehenden Besserung ihrer Lage auf die bestmögliche Weise auszunutzen? ... Ich glaube nachgewiesen zu haben, dass ihre Kämpfe um den Lohnstandard von dem ganzen Lohnsystem unzertrennliche Begleiterscheinungen sind, dass in 99 Fällen von 100 ihre Anstrengungen, den Arbeitslohn zu heben, bloß Anstrengungen zur Behauptung des gegebnen Werts der Arbeit sind und dass die Notwendigkeit, mit dem Kapitalisten um ihren Preis zu markten, der Bedingung inhärent ist, sich selbst als Ware feilbieten zu müssen. … Gleichzeitig ... sollte die Arbeiterklasse die endgültige Wirksamkeit dieser tagtäglichen Kämpfe nicht überschätzen. Sie sollte nicht vergessen, dass sie gegen Wirkungen kämpft, nicht aber gegen die Ursachen dieser Wirkungen ... ; dass sie Palliativmittel anwendet, die das Übel nicht kurieren.“ (1972d: 151f).
Wie die Lohnpolitik, so weist auch staatliche Nachfragepolitik Grenzen der Wirksamkeit auf. Obwohl auch sie zum Aufschwung und wachsender Nachfrage beiträgt, darf nicht ignoriert werden, dass sie, sofern sie aus Steuern finanziert wird, die Kosten der Unternehmen erhöht und sofern sie als Defizit spending betrieben wird, mit steigenden Zinsen verbunden ist. Auch ihr Effekt bleibt also in Grenzen eingebannt. Diese mögen flexibel sein und eine makroökonomisch koordinierte Tarif-, Finanz- und Geldpolitik sollte ihre Chance haben. Aber solange die relevanten Entscheidungen unter privatwirtschaftlicher Hoheit mit dem Ziel der höchsten privatwirtschaftlichen Verwertung getroffen werden, solange wird den gut gemeinten Koordinationsbemühungen an den Toren der Unternehmen und Banken Einhalt geboten werden. Kurt W. Rothschild, namhafter österreichischer Keynesianer, hält höhere Beschäftigung für politisch machbar, warnt jedoch: „Die Hoffnung auf ungebrochene Vollbeschäftigung im Rahmen des herrschenden Wirtschaftssystems wird man wohl fahren lassen müssen.“ (Rothschild 1990: 102).
Erst wenn die Grenze privater Entscheidungshoheit in der Produktion überwunden, statt der privaten Maximalverwertung Zielen wie der Beschäftigung erste Priorität auch auf einzelwirtschaftlicher Ebene eingeräumt und auch Investitionslenkung und staatliche Strukturpolitik betrieben wird, scheint ein größerer Effekt möglich zu sein. Dazu bedarf es öffentlicher Investitionen und eines relevanten staatlichen Sektors. In dieser Frage einer „ziemlich umfassenden Sozialisierung der Investitionen“ als dem einzigen Mittel, Vollbeschäftigung zu erreichen (Keynes 1964: 378) unterscheidet sich auch Keynes von vielen seiner Nachfolger. Es ist bezeichnend, dass, wie ein deutsch-skandinavischer Vergleich zeigt, in Ländern, die solche Instrumente nutzen, die Arbeitslosigkeit bedeutend niedriger ist (Heintze 2007), während die auf Flexibilisierung des Arbeitsmarktes gerichteten Reformen in Deutschland wenig bis nichts zur Reduzierung der Arbeitslosigkeit beitrugen. (Horn 2007).
Résumée
Gibt es eine NAIRU? Lässt sich eine Arbeitslosenquote für den Fall einer konstanten Inflationsrate aus empirischen Kurven statistisch herausfiltern? Daran kann es überhaupt keinen Zweifel geben. Aber diese Berechnungen zeigen schon jetzt das gleiche Schicksal wie die Phillipskurve. Die NAIRU ist im Zeit- und Zyklusverlauf nicht stabil und ihre Bewegung kann nicht vorausberechnet werden, weil die Planungen vor allem der Kapitaleigentümer nicht bekannt sind. Das in einschlägigen Publikationen zelebrierte Forschungsprogramm der Suche nach der Höhe der NAIRU läuft in die falsche Richtung. Wo private Entscheidungen mit dem Ziel maximaler Verwertung und die Konkurrenz grundlegende Systemmerkmale sind, wird die unvermeidlich produzierte Unsicherheit dazu führen, dass Gleichgewichte nur Momente einer permanenten Ungleichgewichtigkeit sein können. Ein brauchbarer Wert der NAIRU wird nicht zu berechnen sein. „Time to Ditch the NAIRU“, „begrabt die NAIRU“, forderte der jüngere Galbraith (Galbraith 1997).
Halten wir jedoch auch fest: Im Rahmen dieses Konzepts werden Zusammenhänge und Prozesse beleuchtet, die schon von Marx thematisiert wurden und von zentraler Bedeutung für das Verständnis der Ursachen und Dynamik der Arbeitslosigkeit sind. Dazu gehören die Existenz verschiedener Formen der Arbeitslosigkeit und der Inflation sowie die Grenzen der Wirksamkeit von Lohnpolitik, Geld- und Finanzpolitik bei der Bekämpfung von Arbeitslosigkeit. Auch bei Marx wird – obwohl anders begründet – ein kurzfristiger trade-off zwischen Reallohn und Beschäftigung konstatiert. Ähnlich wie in der marxistischen Ökonomie, nach der eine industrielle Reservearmee systembedingt ist, wird auf die Bedeutung des institutionellen Gefüges für die Existenz persistenter Arbeitslosigkeit hingewiesen. Die völlig andere theoretische Begründung hierfür führt jedoch dazu, dass die Ursachen des Beschäftigungsproblems nicht in ihrem Bezug zur Zielfunktion und zum privaten, konkurrenzgetrieben Entscheidungsprozess in der kapitalistischen Produktion und Zirkulation gesehen werden, sondern in einem institutionell bedingten Fehlverhalten der Arbeiter. Dementsprechend fallen die beschäftigungspolitischen Konzepte aus, die dann, wenn die Wirtschaftspolitik unter stillschweigender Akzeptanz der Priorität der Kapitalverwertung vor allem auf die Vermeidung von Inflationsschüben ausgerichtet wird, zu Sozialabbau, wachsenden sozialen Druck oder gar Arbeitszwang führen und damit auf die Legitimation neoliberaler Wirtschaftsstrategien hinauslaufen. Damit kann der weitere Abbau von Arbeitslosigkeit nicht gelingen und die Lage der Lohnabhängigen einschließlich ihrer Realeinkommen wird sich verschlechtern. In einer anderen theoretischen Einbettung ließe sich mit diesen Überlegungen aber auch schlussfolgern, dass der weitergehende Abbau der Arbeitslosigkeit nur möglich sein wird, wenn der Vorrang privater Verwertungsziele zurückgedrängt wird und die Forderung nach einer koordinierten Makropolitik zumindest um die Forderung öffentlicher Investitionen und eines starken öffentlichen Sektors ergänzt wird.
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