Krise der Kommunalfinanzen

Kommunen: Kein Geld, keine Demokratie, keine Alternativen?

September 2010

Große Teile der Infrastruktur in den Kommunen sind durch die neoliberale Praxis dem Zugriff privater Investoren unterworfen worden. Der Zentralstaat belastet die schon strukturell unterfinanzierten Kommunen durch zusätzliche soziale Aufgaben und gleichzeitiges Spardiktat. Die kommunalen Eliten wirken mit, um die bisherigen Ansätze von politischer Gestaltungskompetenz und Demokratie zu unterhöhlen. Im Gefolge der staatlichen Bankenrettung setzen sich Konzepte neoliberaler Stadtentwicklung großflächiger durch als zuvor. Eine neue Welle von Privatisierungen ist eingeleitet. Die eigentliche Alternative zum längst gescheiterten „Sparen“ liegt auch für die Kommunen in neuen Einnahmen und neuen Formen der Demokratie.

„Sparen“ – gezielt sozial ungerecht

Seit der Bankenrettung 2008 und nach dem Antritt der CDU/FDP-Bundesregierung 2009 wird das seit Jahrzehnten in den Kommunen praktizierte „Sparen“ in noch heftigerer Form durchgezogen. Für die Haushalte 2011 werden noch härtere Einschnitte als bisher angekündigt, aber schon im Vorlauf zu den dafür notwendigen Beschlüssen der Stadträte kürzen die Verwaltungen jetzt bei Schulen, Bädern, Bürgerbüros, Jugendzentren und Theatern. Ganztagsplätze in Kindergärten und Horten werden gestrichen. Freien Trägern im sozialen und kulturellen Bereich werden die Zuschüsse gestrichen oder zumindest gekürzt, z.B. für die Beratung von Migranten und Senioren. Stellen für Streetworker und Schulsozialarbeiter werden gestrichen. Parks verwildern, wegen nicht reparierter Schlaglöcher werden Gemeindestraßen für den öffentlichen Verkehr gesperrt. Um ein paar Euro zu „sparen“, werden Öffnungszeiten von Bibliotheken um weitere Stunden verkürzt, in den Bädern wird die Wassertemperatur um ein paar Grad Celsius abgesenkt, die Straßenbeleuchtung wird in noch mehr Außenbezirken ausgeschaltet, Reinigungsintervalle in Schulen und Ämtern werden weiter verlängert. Makaber wird es, wenn etwa die Stadt Grevenbroich die Leichen ihrer armen Bürger, für die sie zuständig ist, in ein anderes Bundesland zur Verbrennung und Bestattung schickt, weil dies dort ein paar Euro billiger ist.

Genauso hilflos sind die Versuche, durch neue lokale Einnahmen dem Dilemma zu entkommen. Hotelübernachtungen und Bordellbesuche werden besteuert. Mehr Politessen werden eingestellt, um auf den zusätzlich markierten Parkplätzen noch mehr Bußgelder zu kassieren, und zu demselben Zweck werden noch mehr technologisch hochgerüstete Radarfallen aufgestellt. Der Eintritt in Museen und Konzerte wird ebenso weiter verteuert wie Straßenreinigung, Kindergärten, Urnenbestattung, Parkplatznutzung und das Ausstellen von Personalausweisen und Pässen. Die Grundsteuer wird erhöht. Spendable Bürger dürfen ihr Namensschildchen auf Parkbänke und Theaterstühle nageln, weil sie für 200 Euro den Bank- und Stuhl-Paten spielen. Und ein großer Versicherungskonzern übernimmt gnädigerweise für 15.000 Euro im Jahr die Kosten dafür, dass im Springbrunnen auf dem Marktplatz das Wasser weiter fließen kann, während andere Brunnen ausgetrocknet vor sich hingammeln.

Dabei ist klar, dass dieses „Sparen“ für den Haushalt keine Lösung bringt. „Gespart“ wird ohnehin nichts, der Begriff „Sparen“ ist missbräuchlich und demagogisch. Es wird kein Geld für zukünftige Ausgaben zurückgelegt. Vielmehr wird nur gestrichen, gekürzt. „Spar“beträge und neue Einnahmen, die sich im Bereich von jährlich zehntausend, hunderttausend oder einigen Millionen Euro bewegen wie im Falle der Stadt Köln, stehen angenommenen Defiziten im dreistelligen Millionenbereich gegenüber: Sie summieren sich bis 2014 auf 1,3 Mrd. Euro.[1]

Die Bewohner der Stadt haben von dieser Art „Sparen“ nichts außer zusätzlichen Belastungen. Das spüren insbesondere Eltern und Alleinerziehende, Kinder und Jugendliche, Arbeitslose, Migranten, Senioren und alle diejenigen, die wenig verdienen und am meisten auf kommunale Leistungen angewiesen sind. „Gespart“ wird ebenso perspektivlos wie gezielt bei den Bedürftigsten.

Gegenüber den Vermögenden wird selbst dort nicht „gespart“, wo sich günstige Gelegenheiten ergeben. Der Investor Esch-Oppenheim und die Stadt Köln hatten einen Vertrag über die 30jährige Anmietung der vom Investor zu bauenden neuen Messehallen geschlossen, Gesamtwert etwa 800 Millionen Euro. Der Europäische Gerichtshof (EUGH) erklärte den Vertrag für ungültig und verpflichtete die Stadt zur Rückabwicklung, weil es keine öffentliche Ausschreibung gab. Wenn die Stadt den Vertrag kündigt, die Hallen zum wirklichen Wert zurückkauft, die bisher unrechtmäßig gezahlte Miete aus fünf Jahren verrechnet, könnte sie etwa 300 Millionen Euro sparen. Dem Fonds und den Anlegern – zu ihnen gehören die Quelle-Erbin Schickedanz, der damalige Karstadt-Chef Middelhoff, der Eigentümer der Schuhhandelskette Deichmann und die Chefs der bankrotten Bank Oppenheim – wird nicht nur die Ausschüttung aus einer überhöhten Miete gewährt. Mit Hilfe der Stadtsparkasse Köln wurde ihnen auch ein für 30 Jahre geltender Steuervorteil in Form einer Verlustzuweisung auf Unternehmens- und Einkommensgewinne ermöglicht.

Deshalb fordern die Anleger jetzt für den Fall der Vertragskündigung eine Kompensation in dreistelliger Millionenhöhe.[2] Die Stadtoberen legen die Fakten nicht offen, vermeiden die Konfrontation, sie haben den Vertrag auch 10 Monate nach dem Urteil immer noch nicht gekündigt.[3] Sie verklagen die Berater von Ernst & Young nicht wegen Falschberatung auf Schadenersatz. Sie gewähren dem ehemaligen Oberstadtdirektor, der den Vertrag aushandelte und dann im zarten Alter von 50 Jahren als Geschäftsführer zu Esch-Oppenheim wechselte, immer noch eine Pension aus dem Stadthaushalt.

Die Stadtoberen trugen und tragen somit immer noch erstens zur Verschuldung der Stadt bei und zweitens dazu, dass auch die Steuerbasis des Gesamtstaates langfristig erodiert.

Neoliberale Versprechen I:
Privatisierung mit strategischem Partner

Die Kommunen sind strukturell und finanziell unterversorgt. In Verbindung mit dem Ende der 80er Jahre des vergangenen Jahrhunderts einsetzenden Privatisierungswahn war dies ein Einfallstor für neoliberale Versprechen: Wenn ihr die Verwaltung schlanker macht und wie einen Konzern betreibt (Konzern Stadt), wenn ihr öffentliche Unternehmen verkauft und Dienstleistungen an Private vergebt, dann werdet ihr gerettet!

So haben die Städte schon seit Beginn der 90er Jahre Arbeitsplätze in ihren Verwaltungen abgebaut, haben Anteile ihrer Stadtwerke an Energiekonzerne verkauft, haben Reinigungsdienste und Buslinien an Privatunternehmen ausgelagert, haben neue Gebühren eingeführt und Preise erhöht. Doch die Haushalte wurden damit nicht konsolidiert, Verschuldung und Arbeitslosigkeit sind noch höher als zuvor; die Bürger stehen einer noch intransparenteren Bürokratie gegenüber und zahlen noch mehr für jede kleine Dienstleistung.[4]

Der Verkauf von Anteilen der Stadtwerke wurde zusätzlich damit begründet, dass sie im deregulierten Markt von Energie und Verkehr nur mit einem strategischen Partner überleben könnten. Doch am besten haben seitdem die Stadtwerke überlebt, die nichts verkauft haben. Kommunale Stadtwerke mit Konzernbeteiligung stehen dagegen schlecht da: Der Berliner Senat hat 49,9 Prozent der Berliner Wasserbetriebe im Jahr 2000 für 1,68 Mrd. Euro verkauft. Doch die Berliner Wasserbezieher haben den Konzernen RWE und Veolia schon nach 10 Jahren über die erhöhten Wasserpreise und Abwassergebühren den Kaufpreis zurückgezahlt, und die Privaten können nun die restlichen 20 Jahre der Vertragslaufzeit Gewinne herausholen.

Den Kaufpreis haben die Privaten über Kredite finanziert und die Zinsen in den Wasserpreis eingerechnet, der inzwischen der höchste einer deutschen Großstadt ist. Dem Landeshaushalt entgehen hohe Einnahmen. Zusätzlich wurden 2.000 der 7.500 Arbeitsplätze der BWB abgebaut, die Investitionen wurden zurückgefahren, Reparaturaufträge werden an Subunternehmer der Investoren vergeben.[5] Als Dresden 1998 knapp die Hälfte der Stadtwerke an Energie Baden-Württemberg (EnBW) und Eon verkaufte, brachte das 82 Millionen Euro ein; allerdings gingen bis 2010 etwa 203 Millionen Euro für die Gewinnabführung an die Miteigentümer verloren.[6]

Auch in anderen Städten verfahren die strategischen Partner nach diesem Muster: Sie verhalten sich strategisch insofern als sie ihre eigenen Gewinne optimieren und damit global expandieren. Die europäischen Energiekonzerne Eon, Vattenfall, RWE, EnBW und Veolia haben sich in mehrere hundert Stadtwerke, Wasserwerke, Müllentsorgungsbetriebe u.ä. eingekauft. Sie bestimmen damit die Preise für Energie, die strategische Ausrichtung der kommunalen Unternehmen und entnehmen Gewinne. Das tun etwa die Mannheimer Verkehrsbetriebe AG (MVV), die zwar mehrheitlich der Stadt Mannheim gehören, sich jedoch wie ein großer Energiekonzern verhalten. Die MVV haben etwa bei den aufgekauften Solinger Stadtwerken ein Fünftel der Arbeitsplätze abgebaut, Dienstleistungsaufträge an eigene Tochterfirmen vergeben und den Gewinn eingesteckt, der sonst der Solinger Stadtkasse zugute gekommen wäre.[7]

Neoliberale Versprechen II: Strukturierte Finanzprodukte

Auch auf andere Weise haben die „Verantwortlichen“ ihre Kommunen und Bürger in finanzielle und strategische Abhängigkeiten manövriert. Über 100 vor allem große Städte haben Infrastrukturanlagen wie Kanalisationen, Schienennetze, Rathäuser und Messehallen im Rahmen von Cross Border Leasing an US-Investoren verkauft und mieten sie zurück. Bei diesem meist auf 30 Jahre angelegten Karussellgeschäft zwischen jeweils sechs Banken trägt die öffentliche Hand gegen eine Versicherungsgebühr von wenigen Millionen Euro („Barwertvorteil“) das Risiko für die Unterbrechung hoher Kredit- und Tilgungsflüsse zwischen den Banken.[8] Durch die teilweise Rückabwicklung aufgrund der Finanzkrise sind hohe Kosten entstanden, Risiken bestehen weiter.

Ähnlich ergeht es hunderten von Städten, die der Deutschen Bank Spread Ladder Swaps abgekauft haben: Diese Zinswetten sollten der „Optimierung“ der Zinszahlung dienen, konnten aber naturgemäß auch verloren werden wie jede Wette. Natürlich hat die Bank die Wetten gewonnen und die Städte müssen Millionenbeträge zahlen; nur die wenigsten wagen es bisher, die Deutsche Bank wegen Falschinformation zu verklagen.[9]

Die rot-grüne Bundesregierung importierte 2003 aus Großbritannien das unter Tony Blairs New Labour entwickelte Finanzierungsmodell Public Private Partnership (PPP). Dabei übernimmt ein Investor den Bau oder die Sanierung von Schulen, Krankenhäusern, Straßen, Gefängnissen, Freizeiteinrichtungen u.ä., er übernimmt auch weitere Aufgaben, die traditionell bei der öffentlichen Hand liegen: Planung, Betrieb und Finanzierung. Dafür geht die öffentliche Hand langfristige Mietverträge ein, die Standardlaufzeit beträgt 30 Jahre. Dieses „Rundum-sorglos-Paket“ lassen sich die Investoren teuer bezahlen, die Transaktionskosten für Projektentwicklung, Finanzierungsdienste und eine Riege von Beratern sind hoch, und der Investor kann aufgrund seiner langfristigen und dominierenden Stellung leicht Nachforderungen durchsetzen. Dadurch werden für vergleichsweise wenige „Leuchtturmprojekte“ umfangreiche Mittel der überschuldeten öffentlichen Haushalte gebunden und fehlen für andere Ausgaben. Die beteiligten Banken können die Mietforderungen weiterverkaufen, z.B. an private Infrastruktur- oder an Private Equity Fonds.[10]

Cross Border Leasing, Spread Ladder Swaps und PPP wurden nicht eigens für deutsche Kommunen erfunden. Deutsche Bank, Goldman Sachs, UBS, Morgan Stanley und andere Investmentbanken haben solche strukturierten Finanzprodukte in den EU-Staaten und in den USA an tausende Kommunen und Staatsunternehmen verkauft. Nur wenige „verantwortliche“ Politiker wagen es, die Banken und Berater öffentlich wegen Falschberatung zu kritisieren oder gar zu verklagen – die Kommunal“verantwortlichen“ sind mehrheitlich Mittäter und Mitverursacher nicht nur der kommunalen, sondern auch der allgemeinen Finanzkrise.

Neoliberale Stadtentwicklung: Neue Heimat für Privilegierte

Der Staat stellt den sozialen Wohnungsbau ein. Bund, Bundesländer und Städte haben seit 2004 etwa 800.000 Wohnungen öffentlicher Unternehmen (Gagfah, Land Berlin, Deutsche Bahn, Land NRW, Stadt Desden...) an Private Equity-Fonds („Heuschrecken“) verkauft.[11] Dazu verfällt durch öffentliches Nichtstun die Infrastruktur insbesondere in den Stadtteilen, in der ein hoher Teil der armen und arbeitslosen Bevölkerung wohnt, während alte und neue Umverteilungsgewinnler eine sichere, moderne, kulturell abwechslungsreiche Urbanität befördern.

In dieser Situation werden neben den bereits genannten Abenteuern zwei „Lösungs“wege beschritten, bei denen private Investoren ebenfalls die bestimmende Rolle spielen. Zum einen sollen Leuchtturmprojekte den „Wirtschaftsstandort“ verbessern, das „Image“ der Stadt aufpolieren, zahlungskräftigem Publikum etwas bieten und auch überregional Besucher anlocken. Ein Beispiel dafür ist die Elbphilharmonie in Hamburg: Die spektakulär auf einem alten Kornspeicher am Hafen aufgesetzte Philharmonie, umgeben von einem Luxushotel, einer aufwendigen Aussichtsplattform und Luxus-Eigentumswohnungen, soll einmal einen der „besten Konzertsäle der Welt“ beherbergen.

Die „konservative“ Landesregierung hat den Vertrag mit dem Investorenpaar Hochtief/Commerzbank und Schweizer „Stararchitekten“ so hastig unterschrieben, dass aufgrund unvollständiger Planung die Nachforderungen sprudeln: So haben sich die Baukosten für die öffentliche Hand von ursprünglich veranschlagten 50 Millionen auf 500 Millionen verzehnfacht, was offensichtlich noch nicht das Ende darstellt, denn das Herzstück, der Konzertsaal, ist noch längst nicht fertig. Das verunsicherte Bürgertum feierte beim Richtfest etwas verhalten seine neue Attraktion, während die Finanzierung ungesichert ist und der Senat ebenso brutal wie perspektivlos peanuts-Beträge bei der normalen, vom Verfall bedrohten Infrastruktur und bei sozialen Diensten „spart“.[12]

Nicht nur Großstädte und Metropolen treten in Konkurrenz untereinander um die Ansiedlung von Unternehmen und qualifiziertem Personal, um Shopping Malls, Museen, Kongresszentren, Kulturevents und Touristenattraktionen (Feuerwerke, Museumsnächte, Kulturhauptstadt, Public Viewing, Karneval...). Auch Mittelstädte versuchen sich an städtebaulichen Prestigeprojekten und Neugestaltungen innerstädtischer Areale. Mit Ruhrbania will etwa Mülheim an der Ruhr ein ganz neues Stadtzentrum anlegen und „Zukunftsfähigkeit“ gewinnen. Investoren sollen am Fluss ein Geschäftszentrum errichten einschließlich einer Uferpromenade, eines Hafenbeckens für Motor- und Segelschiffe und Luxuswohnungen mit Fluss- und Grünblick.

Die Finanzierung ist auch hier ungesichert. Städtische Grundstücke sollen verkauft werden; es werden Tochterfirmen gegründet, die Kredite aufnehmen. Das Bundesland NRW und der Bund haben Zuschüsse zugesagt, auch die EU wird angezapft. Was die notwendigen Straßen und sonstige Baureifmachung kosten, wird erst gar nicht genau kalkuliert. Mit mehreren PPP-Projekten – Schulen, Medienhaus – hat Mülheim sich sowieso schon in langfristige Zahlungsverpflichtungen gestürzt.[13]

Das Leuchtturm-Projekt Zeche Zollverein in Essen, anfangs zudem mit EU-, Bundes- und Landesgeldern subventioniert, ist nicht mehr finanzierbar.[14] Vor einer ähnlichen Situation steht die ehemalige Bundeshauptstadt Bonn mit dem World Congress Center Bonn (WCCB): Der koreanische „Investor“ ist pleite und auf der Flucht, die Stadt muss die Bauruine mit explodierenden Kosten übernehmen; Staatsanwälte stochern im Gewirr unvollständiger Dokumente und leerer Briefkastenfirmen.[15]

Für die Opel-Stadt Rüsselsheim hat der ehemalige Rentenexperte und „Wirtschaftsweise“ der Bundesregierung, Prof. Bert Rürup, einen Plan zur „zukunftsfähigen Stadtentwicklung“ entworfen: Rüsselsheim 2020. Die Vision lautet „wirtschaftsfreundlich, modern und jung“. Leerstehende Fabrikhallen von Opel sollen sich als Kultur- und Einkaufszentrum neu beleben. Um junge und hochqualifizierte Selbständige anzulocken, soll die Stadt auf Grünflächen Eigentumswohnungen des gehobenen Standards bauen. Die Innenstadt soll zu einem hoch verdichteten Kauf-Event-Flanier-Genuss-Zentrum umgestaltet werden. Bürgerliche Mittelschicht, aufstrebende junge Familien und zahlungskräftige Rentner auch aus dem Umland sind die wichtigsten Zielgruppen. Stadtbücherei und Volkshochschule sind dagegen abzubauen, weil sie keine „Frequenzbringer“ sind. Die weniger attraktiven Stadtteile sollen „gesund“geschrumpft, Filialen der Volkshochschule und Kindergärten sollen geschlossen werden.[16]

Das Bund- und Länderprogramm Soziale Stadt, für das auch die EU Zuschüsse gibt, fördert neue Stadtentwicklungen, die von Immobilien- und Standortgemeinschaften (ISG) vorangetrieben werden. Die Kriterien hören sich teilweise gut an: Quartiersmanagement mit Freizeitangeboten und Bürgerbeteiligung, Verbesserung der Bauqualität, gesunde Wohnumgebung ohne Kriminalität, gute Versorgung mit ärztlichen Einrichtungen, Aufbau von Sicherheitsstrukturen. So bietet das ehemalige Franziskanerkloster in Essen unter dem Namen Unperfekthaus Raum für Kreative, für Maler, Musiker und Erfinder; ein Einkaufszentrum, ein Hotel und ein Restaurant sind angegliedert. Das „Soziale“ gilt nur für die Kaufkräftigen: „Neue Wohlfühlstadtteile“ für Privilegierte, „Neue Heimat“ für die Upper Class.[17]

Daneben prägen Investoren mit großen Townhäusern am Hafen, mit Luxus-Appartmentkomplexen an Flusslagen, mit Lofts und immer neuen Hotel- und Businesstürmen das neue Stadtbild.

Wie im Falle Rüsselsheim spielen Berater eine entscheidende Rolle. Sie kommen von der Stiftung des Bertelsmann-Konzerns,[18] Wirtschaftskanzleien wie Freshfields gestalten die Verträge, Wirtschaftsprüfer wie KPMG und Ernst & Young suchen die Investoren aus und beraten sie gleichzeitig,[19] Rödl & Partner erstellen Gutachten für Schulschließungen.[20] Architektenbüros entwickeln im Auftrag von Industrie- und Handelskammern einen Masterplan für die Neugestaltung der Innenstädte. So hat der Bauunternehmer Paul Bauwens-Adenauer, gleichzeitig Präsident der IHK Köln, den Verein Unternehmer für die Region Köln e.V. gegründet und den Masterplan des Architektenbüros Albert Speer & Partner finanziert. Der Stadtrat hat sich den Plan mehrheitlich zu eigen gemacht.[21]

Ein anderes Konzept verfolgt die ECE Projektmanagement GmbH des Versandhändlers Werner Otto (Otto-Versand). ECE ist mit der Errichtung und dem Betrieb von 116 innerstädtischen Einkaufs- und Eventzentren Marktführer in Europa. Es geht nicht nur um Einkaufen: Stadtplaner, Landschaftsarchitekten und Lichtkünstler gestalten das Umfeld, mit Vorliebe werden historische Bauten wie etwa das entkernte Braunschweiger Schloß und Flusslagen einbezogen. Wenn Rathäuser neu gebaut werden, dann werden sie in das Einkaufszentrum integriert: Das Rathaus wird zu einem Büro unter anderen in einem Meer von Dienstleistungsanbietern. Über die Stiftung Lebendige Stadt bindet ECE bundesweit zahlreiche Kommunalpolitiker wie den Kölner Oberbürgermeister Schramma ein.

So wiederholt sich das neoliberale Muster in verschiedenen Varianten: Die Innenstädte werden unter privater Regie, mit öffentlicher Ordnungshilfe und staatlichen und EU-Zuschüssen privatisiert und für junge und alte Krisengewinner aufgewertet. Gleichzeitig löst sich die öffentliche Präsenz insbesondere in den armen, aber auch den Mittelstandsvierteln auf, die ihrem Selbstlauf überlassen werden. Wie in einer feudalen Residenzstadt konzentriert sich alles Schöne, Teure und Glänzende in einem zentralen und dichten Inszenierungs-Raum; hier herrscht intensiver Konsum, Genuss, Sauberkeit, Kultur und Ordnung, Bettler und kritische Straßenmusikanten werden dezent, aber mit fester Hand ferngehalten. Wie die Mehrheit der Städter außerhalb des Zentrums arbeitet, wohnt und lebt, soll unsichtbar bleiben.

Nach der Bankenrettung: Alte Konzepte feiern Urständ

Allein die von der 2005 bis 2009 amtierenden CDU/SPD-Bundesregierung durchgezogene Steuergesetzgebung verursacht den Kommunen zwischen 2009 und 2013 etwa 20 Mrd. Euro Mindereinnahmen. Mit ihrem ersten Beschluss kürzte die seit 2009 amtierende neue Bundesregierung aus CDU, CSU und FDP den staatlichen Zuschuss zu den Mieten, die die Kommunen für die Bezieher des Arbeitslosengeldes II übernehmen müssen. Mit dem Wachstumsbeschleunigungsgesetz verursacht sie den Kommunen einen jährlichen Einnahmeausfall von 1,6 Mrd. Euro. 2010 kürzte die Regierung zusätzlich das Wohngeld und strich die Zuschüsse zur Rentenversicherung der Arbeitslosen ganz. Auch damit werden die Kommunen in Zukunft belastet, da sie nach der neueren Gesetzgebung auch die Grundsicherung im Alter (Aufstockung von Armutsrenten) übernehmen müssen.[22]

Im Steuerkonzept der Regierungspartei FDP heißt es: „Die Bürger sollen merkbar an der Finanzierung der gemeindlichen Aufgaben beteiligt sein.“ Gleichzeitig wollen FDP und CDU die Gewerbesteuer, also die wichtigste eigene Einkunftsquelle der Kommunen, abschaffen und durch eine zusätzliche kommunale Bürgersteuer ersetzen, die auf die Einkommens- und Körperschaftssteuer aufgeschlagen wird. Die Regierung will zudem entgegen dem Atomkompromiss die Laufzeit für Atomkraftwerke verlängern. Mit Blick auf das gesetzlich festgeschriebene Auslaufen der Atomkraft haben zahlreiche kommunale Energieunternehmen zusammengerechnet Milliarden in alternative Energie investiert. Diese Investitionen würden wesentlich entwertet.[23]

Auch die Landesregierungen, die 2009 hohe Zuschüsse an ihre insolventen Landesbanken gezahlt haben, kürzen ihre Zuwendungen an die Kommunen nach der Bankenrettung noch heftiger als vorher. In Sachsen etwa werden deshalb Stellen für Schulsozialarbeiter abgeschafft und der kostenlose Schülertransport beendet (aufgrund von Schulschließungen vor allem im ländlichen Raum müssen Schüler lange Wege auf sich nehmen, die nicht mehr zu Fuß oder mit dem Fahrrad zurückgelegt werden können).[24]

Obwohl der neoliberale Glaube angeknackst ist, feiern alte Konzepte neue Urständ. Das seit zwei Jahrzehnten ergebnislos durchgezogene „Sparen“ im sozialen und kulturellen Bereich und bei der technischen Infrastruktur wird jetzt noch härter angegangen. Eine neue Welle der Privatisierung wird losgetreten. Weil die Landesregierungen auch die Zuschüsse an die kommunalen und universitären Krankenhäuser kürzen, beschleunigen sie gezielt wie in Schleswig-Holstein deren Verkauf an private Klinikketten.[25] Für gebäudenahe Billig-Dienstleister wie den betriebsratsfreien Dussmann-Konzern, der sein Geschäftsmodell auf Niedrigstlöhner stützt, eröffnen sich in den Kommunen neue Chancen.[26] Die 2009 von der Bundesregierung gegründete „Partnerschaften Deutschland AG“,[27] zu deren Aktionären nicht nur die PPP-Lobby, sondern auch mehrere Städte und Bundesländer gehören, wirbt nicht nur auf Bundes- und Landesebene, sondern vor allem in den Kommunen verstärkt für Projekte nach dem gescheiterten PPP-Muster.[28]

Kommunale Autonomie: Zynismus und Verfassungsbruch

Nach Artikel 28 des Grundgesetzes genießen die Kommunen das Recht der Selbstverwaltung. Der Staat muss gewährleisten, dass dies auch nach den ebenso in Artikel 28 zitierten Grundsätzen des republikanischen, demokratischen und sozialen Rechtsstaates funktioniert.

Praktiziert wird jedoch das Gegenteil. Die Regierungen begehen laufenden Verfassungsbruch, was wie bei Kriegseinsätzen im Ausland und bei der staatlichen Bankenrettung zur Routine gehört. Neoliberale Praxis beinhaltet überhaupt systemischen Verfassungsbruch. In der Entwicklung zum Staat mit imperialen Zielen werden die Kommunen (und auch die Bundesländer) nach US-amerikanischem Vorbild ausgetrocknet; die für die Bevölkerungsmehrheit bedeutsame Infrastruktur verfällt in der Fläche gleichzeitig mit dem gezielten Verstoß gegen die republikanischen, demokratischen und sozialen Grundsätze.

Den Kommunen wurden und werden seit zwei Jahrzehnten bekanntlich immer mehr Aufgaben überwälzt, die den demokratischen und sozialen Grundsätzen entsprechen (sollen), aber gleichzeitig werden ihnen die dafür notwendigen Finanzen vorenthalten. Die Steuergesetze der SPD/Grünen-Bundesregierung aus dem Jahre 2000 und die Steuergesetze der nachfolgenden Regierungen haben schrittweise den finanziellen Spielraum der Kommunen eingeschränkt.

So hat der Bundestag beschlossen, daß die Kommunen bis 2013 für 35 Prozent aller Kinder unter drei Jahren einen Betreuungsplatz schaffen, für die ein- und zweijährigen sogar mit Rechtsanspruch. Das kann aber finanziell nicht realisiert werden. Dasselbe gilt für die Grundsicherung im Alter und etwa für die mit der Hartz IV-Reform verbundene neue Aufgabe der Kommunen, die Wohnungsmieten der Empfänger von Arbeitslosengeld II zu übernehmen. Unter dem ideologischen Deckmantel der Autonomie trägt der Staat Armut und Verwahrlosung in die Kommunen. Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble pflegt diesen Zynismus öffentlich: Um die nach Finanz- und Wirtschaftskrise wachsenden Sozialausgaben zu bewältigen, könne der Staat den Kommunen zwar kein Geld, aber „mehr Autonomie“ einräumen, damit sie „eigenständiger“ über die Verteilung des Wenigen „befinden“ können.[29]

Mit Blick auf die von den Bankenrettern ins Grundgesetz aufgenommene Schuldenbremse machen die kommunalen „Verantwortlichen“ bei diesen Praktiken bisher mehrheitlich und parteiübergreifend mit. Die meisten Stadtoberen insbesondere der Großstädte sind über ihre Parteizugehörigkeiten in die Komplizenschaft mit den Landes- und Bundesregierungen eingebunden. Ihre Proteste, auch etwa die des Deutschen Städtetages, sind zum hilflosen und auch demagogischen Ritual verkommen. Schon 1996 riefen die damaligen Oberbürgermeister von Köln (Burger/SPD), Stuttgart (Rommel/CDU), Frankfurt (von Schoeler/FDP) und München (Kronawitter/SPD) in einem Manifest parteiübergreifend zum „Aufstand der Städte“ auf; aber außer der großen Koalition der folgsamen Exekutoren der Regierungs- und EU-Politik kam dabei nichts heraus.

Leitungsnetze und Stadtwerke zurückholen ?

Nach den Erfahrungen mit den strategischen Partnern und den strukturierten Finanzprodukten kommt vielfach Re-Kommunalisierung auf die Tagesordnung. Doch für einen Rückkauf fehlt gerade heute in den meisten Fällen das Geld.

Ein Verbund von 50 Stadtwerken, geführt von Frankfurt, Hannover und Nürnberg, hat für drei Mrd. Euro die Thüga AG gekauft. Diese Holding bündelt 40 Stadtwerks-Beteiligungen, die vom Energiekonzern Eon im Laufe des letzten Jahrzehnts zusammengekauft worden waren. Ein solcher Verbund kann als Marktmacht für den Einkauf von Energie durchaus günstig sein; allerdings entfernen sich insbesondere die großen Stadtwerke von „ihren“ Städten und Bürgern, behindern alternative Energieproduzenten, setzen ihre Gewinne für überregionale und internationale Expansion ein. Die neue Thüga sucht zudem einen internationalen Großinvestor, der als strategischer Partner die Marktmacht absichern soll.[30] So wird aus einem kommunalen Verbund schnell ein neuer Konzern, der für die Bürger hohe Preise und keine ökologische Alternative bringt und den politischen Einfluss noch weiter einschränkt – das ist keine Re-Kommunalisierung.

Zwischen 2011 und 2015 laufen in Deutschland etwa 1.000 Konzessionsverträge aus, in denen Kommunen auf ihrem Territorium den Energiekonzernen für einen befristeten Zeitraum zwischen 10 und 30 Jahren den Bau und den Betrieb von Leitungsnetzen für Gas und Strom einräumten. Wenn die Kommunen die Netze selbst betreiben, ist der Gewinn daraus höher als die Abgaben, die sie von den Konzernen bekommen. Das wird jetzt allmählich begriffen. Allerdings sind für die Übernahme und den Betrieb Kapital und kompetentes Personal erforderlich, die jetzt nicht so einfach zur Verfügung stehen.[31]

In Hamburg läuft die Konzession an den Vattenfall-Konzern für das Energienetz 2014 aus. Die Initiative Unser Hamburg – unser Netz, zusammengesetzt aus Umwelt- und Verbraucherverbänden sowie kirchlichen Organisationen, fordert nicht nur den Rückkauf durch das Land Hamburg, sondern: Die Netze für Strom, Gas und Fernwärme sollen wieder in öffentliches Eigentum überführt werden.[32] Bisher ist der Rückkauf nur in einigen kleineren Städten gelungen.[33]

Die Interessen der Mehrheit und der gegenwärtigen Stadtoberen können durchaus zeitweise zusammenfallen. So wurde die Forderung des Stuttgarter Wasserforums, die 2002 an Energie Baden-Württemberg (EnBW) verkauften Neckarwerke Stuttgart (Gas, Strom, Wasser) zurückzukaufen, lange belächelt. Doch am 17.6.2010 beschloss der Stuttgarter Gemeinderat den Rückkauf. In diesem Fall ist Geld da, weil die 2002 erlöste Summe nicht ausgegeben, sondern angelegt wurde.[34] Ob und zu welchem Preis es zum Rückkauf kommt, ist offen.

Großinvestoren balgen sich gegenwärtig um die überregionalen und Hochspannungs-Netze. Vattenfall hat sein Hochspannungsnetz an den belgischen Netzbetreiber Elia und den australischen Infrastrukturfonds Industry Funds Management (IFM) verkauft, nachdem die Verhandlungen mit Goldman Sachs, Allianz und Deutsche Bank gescheitert waren.[35] Eon hat sein Netz an den niederländischen Netzbetreiber Tennet verkauft. Die EU treibt diese Verkäufe mit der Begründung voran, dass Transparenz und Wettbewerb gefördert werden. Doch Motiv und Ergebnis sind bisher ähnlich wie bei der vorherigen Phase der Deregulierung des Energiemarktes: globalisierte Oligopolbildung, die sich auf die Kommunen auswirkt.

Die einfache und intelligente Alternative

Bei aller inszenierten Dramatik wird das wahre Ausmaß der öffentlichen Verschuldung verheimlicht. Wie in den seit 1990 gebildeten Schattenhaushalten des Zentralstaats und der Banken schlummern in den Kommunen jahrzehntelange, heimliche Zahlungsverpflichtungen, die in Public Private Partnership -Verträgen, in Renommierprojekten, in Krediten privatrechtlicher städtischer Tochterunternehmen und in den Pensionen kommunaler Beamter[36] versteckt sind. Auch durch die zunehmende Nutzung von kurzfristigen Kassenkrediten wird das Ausmaß der Verschuldung verschleiert. Hier ist erst einmal ein Kassensturz nötig, der alle Tricks berücksichtigt.

Bürgerhaushalte haben Konjunktur. Was Stadtobere zunächst strikt abgelehnt haben, nutzen sie heute gern für ihre Zwecke. Der im brasilianischen Porto Allegre entwickelte Bürgerhaushalt sollte ursprünglich der intensiven öffentlichen Diskussion und Beschlussfassung über den kommunalen Haushalt dienen. Dazu lud die dortige Stadtverwaltung zu großen Versammlungen ein.[37] Nach der begeisterten Aufnahme des Konzepts in Deutschland nahm sich auch die Bertelsmann-Stiftung der Frage an und nahm dem Bürgerhaushalt den alternativen Charakter.[38] So schmücken sich heute in Deutschland etwa 140 Stadtverwaltungen mit einem „Bürgerhaushalt“: Er wird ohne öffentliche Versammlungen durchgezogen. Die Bürger können sich – was ja viel „moderner“ ist – übers Internet beteiligen. Dabei wird aber z.B. die Frage, wie die Stadt vom Staat mehr Einnahmen bekommen kann, grundsätzlich ausgespart. Vielmehr sollen die Bürger nur vorschlagen, wie und wo „gespart“ werden kann: Es geht um „bürgerbeteiligte Haushaltssicherung“.[39]

Ein Widerstand, der sich für die Interessen der Einwohnermehrheit einsetzt, muss sich deshalb in aller Regel gegen die eigenen Stadtoberen und gegen die Ratsmehrheiten richten – sie waren und sind Mittäter und Mitverursacher der weiterdauernden Finanz- und Wirtschaftskrise. Bei ihnen sind die immer häufigeren Bürger- und Volksbegehren und -entscheide überhaupt nicht beliebt. Als neues Argument gegen Bürgerbegehren wird jetzt gehäuft die Finanzkrise herangezogen.

So setzt sich in Erftstadt eine Bürgerinitiative für den Erhalt der Schwimmbäder ein, weil sie auch für den Schwimmunterricht der Grundschulen und für den Vereinssport notwendig seien. Doch die Ratsmehrheit aus CDU, FDP und Grünen erklärte das Bürgerbegehren für unzulässig, weil der Kommune das Geld für die Bäder sowieso fehle und Bürgerbegehren nur zulässig seien, wenn sie auch eine Finanzierungsalternative bieten.[40]

So wird unverblümt wegen der Verschuldung die Demokratie ausgesetzt. Aber ohne neue Formen der Demokratie ist keine Verbesserung möglich. Dies ist kein leichter Weg, denn die Mehrheit der Bürger hat trotz der rituellen Beschwörung „Die Kommunen sind die Basis der Demokratie“ kaum das Bewusstsein, dass ihnen das kommunale Eigentum gehört.

Punktuelle lokale Abwehr-Bündnisse und Bürgerinitiativen gegen die alte und die neue „Spar“politik sind zahlreich, im Jahr 2010 zahlreicher als je zuvor. Abwehr war und ist häufig und häufig nicht erfolgreich, jedenfalls nicht langfristig. Gegenwärtig bilden sich jedoch konzeptionell neue Formen von Widerstand heraus. Einen systematischen Zugriff praktizieren die Initiativen gegen PPP-Projekte: Hier muss man sich exemplarisch mit einem ausgefeilten strukturierten Finanzprodukt auseinandersetzen und die bessere Alternative für Schulsanierung u.ä. begründen. Dabei hilft inzwischen eine 2009 gegründete bundesweite Kampagne, die Analysen, Aktionshilfen und Referenten bereitstellt.[41]

Ebenfalls an einem wesentlichen systematischen Punkt setzt der Berliner Wassertisch an. Er will über ein Volksbegehren die bei Privatisierungen und PPP-Projekten übliche Geheimhaltung[42] aufbrechen: Die oben geschilderten Verträge über den Verkauf von 49,9 Prozent der Berliner Wasserbetriebe (BWB) an die Konzerne RWE und Veolia sollen offengelegt, die üblichen und auch hier gegebenen staatlichen Gewinngarantien für die privaten Miteigentümer sollen der Öffentlichkeit präsentiert und endlich offen diskutiert werden, um die Legitimation infrage zu stellen.[43]

Die Stadtoberen und kommunalen Mehrheitspolitiker versuchen gegenüber Kritikern rituell mit der Frage zu punkten: „Welche realistische und intelligente Alternative habt ihr denn?“. Damit wollen sie sagen, dass es zur klischeehaften und gescheiterten „Spar“politik keine Alternative gibt. Dass eine einfache und sehr intelligente Alternative darin besteht, die bisherigen Mittäter und Mitverursacher der Misere abzulösen, können sie nicht verstehen. Das ist verständlich. Da helfen Argumente und Fakten nur begrenzt, da hilft nur Druck durch die Mehrheit, die sich aus dem illusionären Kuschelkurs der kommunalen Schicksals- und Volksgemeinschaft allmählich verabschiedet. Da hilft, mit anderen Worten, nur Demokratie. Wer nicht hören will, muß fühlen.

Den von Parteien und Investoren verwalteten Bürgern wird die Infrastruktur und der Reichtum der Stadt nicht geschenkt, sondern genommen. Die Verwalteten sind nun auf ihre eigene Aktivität verwiesen. So besetzen etwa nicht mehr Randgruppen, sondern zwangsverwaltete Arme, unterstützt von Wissenschaftlern und Stadtplanern, unbewohnte und zwangsversteigerte Häuser.[44] Gewerkschafter lernen, dass es nicht nur um Lohn und Arbeitsplätze geht, sondern dass sie sich auch um das Finanzieren einer sicheren öffentlichen Infrastruktur kümmern müssen.

Wesentlicher Inhalt der Gegenbewegung ist der Bruch des zentralen Tabus der „Spar“politik. Nicht im „intelligenten“ d.h. sozial bornierten „Sparen“ liegt die Alternative, sondern in neuen Einnahmen. Dabei geht es nicht um solche wie die kommunale Bürgersteuer: Sie würde in neuer Form die bisher schon Geschröpften noch weiter schröpfen.

Die Gewerbesteuer muss erhalten bleiben, jedoch auf alle Gewerbetreibenden ausgedehnt, hohe Freibeträge müssen abgeschafft und Gewinnverstecke in Finanzoasen geschlossen werden. Es geht um Steuern auf die großen Gewinne, Transaktionen, Vermögen und Erbschaften, und es geht um die Abschaffung von Steuerprivilegien und Steuerhinterziehung. Auch ein kommunaler Schuldenerlass, ein Zinsmoratorium und ein (provisorischer) staatlicher Rettungsschirm sind Möglichkeiten auf der Höhe der Krisen-Zeit.

Wie diese einfachen Maßnahmen gegen die herrschende Praxis durchzusetzen sind, darin besteht die eigentliche Probe auf die menschliche Intelligenz: Sie wird von den gegenwärtig herrschenden Sachzwang-Akteuren mit Füßen getreten, kann sich aber in der Assoziation der Freien bekanntlich erst richtig entfalten.

[1] www.stadt-koeln.de/1/stadtfinanzen/haushalt

[2] Streit um die Kölner Messehallen spitzt sich zu, Frankfurter Allgemeine Zeitung 9.7.2010

[3] Peter Kleinert: Der größte Fall von „Colonia Corrupta“, www.nrhz.de 14.7.2010

[4] Vgl. Werner Rügemer: Privatisierung in Deutschland. Eine Bilanz. Münster 2008, 4. erweiterte Auflage

[5] www.berliner-wassertisch.net

[6] Neues Deutschland 18.3.2010

[7] Solinger Tageblatt und Solinger Morgenpost 18.2.2010

[8] Vgl. Werner Rügemer: Cross Border Leasing. Lehrstück zur globalen Enteignung der Städte. Münster 2005.

[9] Ders.: Bankster vor Gericht, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 8/2010

[10] Vgl. Ders.: „Heuschrecken“ im öffentlichen Raum. Public Private Partnership – Anatomie eines globalen Finanzinstruments. Bielefeld 2008

[11] Werner Rügemer: Profitable Schnäppchen, junge welt 15.2.2006

[12] Richtfest eines Skandals, Süddeutsche Zeitung 22.5.2010

[13] Planet der Trickser, Handelsblatt 6.5.2010; vgl. die informative website der mülheimer bürgerinitiativen www.mbi.de

[14] Was die Stadt zusammenhält, ver.di publik 5/2010

[15] Vgl. www.general-anzeiger-bonn.de: Artikelserie WCCB und Bericht des städtischen Rechnungsprüfungsamtes

[16] Vgl. Werner Rügemer: Rüsselsheim als selbstbewußte und demokratische Stadt. Eine Alternative zu „Rüsselsheim 2020“. Expertise im Auftrag Die Linke Liste Solidarität, Rüsselsheim 2008

[17] Das Jahrzehnt der Baukultur, Welt am Sonntag 7.3.2010

[18] Werner Rügemer: Bertelsheim, ver.di publik 12/2009

[19] Zu KPMG in Braunschweig s. www.bibs-fraktion.de

[20] Rechenpanne sorgt für Unmut, Sindelfinger Zeitung 15.1.2010

[21] www.masterplan-koeln.de

[22] Die Linke im Bundestag: Finanznot der Kommunen ist nicht hausgemacht, Kurzinformation 3/2010

[23] Handelsblatt 12.3.2010

[24] junge welt 15.6.2010; Frankfurter Allgemeine Zeitung 28.5.2010

[25] junge welt 27.5.2010

[26] junge welt 5.5.2010

[27] www.partnerschaften-deutschland.de

[28] Zum Scheitern in Deutschland und im Ursprungsland England vgl. Werner Rügemer: Public Private Partnership: Die Plünderung des Staates, Blätter für deutsche und internationale Politik 2/2010; zum Scheitern im internationalen Maßstab vgl. Dexter Whitfield: Global Auction of Public Assets. Public Sector Alternatives to the Infrastructure Market and Public Private Partnership. Nottingham 2010

[29] Süddeutsche Zeitung 9.7.2010

[30] Die neue Thüga öffnet sich dem Kapitalmarkt, Frankfurter Allgemeine Zeitung 18.6.2010

[31] Unterschätzte Risiken, Süddeutsche Zeitung 12.7. 2010

[32] www.unser-netz-hamburg.de

[33] Die Linke im Bundestag: Für starke Kommunen mit leistungsfähigen Betrieben, März 2010, S. 15

[34] www.s-wasserforum.de

[35] Vattenfall-Netz geht an Elia, Frankfurter Allgemeine Zeitung 13.3.2010

[36] Die Zahl der kommunalen Pensionisten steigt von 105.000 im Jahre 2005 auf 165.000 im Jahre 2035, Welt am Sonntag 21.3.2010.

[37] www2.portoalegre.rs.gov.br/portal_pmpa_novo/; Misereor u.a. (Hrg.): Vom Süden lernen. Porto Alegres Bürgerhaushalt wird zum Vorbild für direkte Demokratie. 2002

[38] Bertelsmann-Stiftung / Hans Böckler-Stiftung: Der Bürgerhaushalt. Gütersloh 2002

[39] Aus der Not in die Tugend, Die Zeit 8.7.2010

[40] Bürgerbegehren scheitert in Erftstadt an Geldmangel, Kölner Stadt-Anzeiger 8.7.2010

[41] www.ppp-irrweg.de

[42] Werner Rügemer: Geheimnisverrat ist Bürgerpflicht, junge welt 24.4.2010

[43] www.berliner-wassertisch.net

[44] Rob Robinson: Wir helfen Armen, Häuser zu besetzen, junge welt 8.7.2010