I.
Bereits um die Mitte der 60er Jahre wurde in Kreisen der linken Studentenbewegung, z. B. im Frankfurter SDS, die deutsche Übersetzung von Paul M. Sweezys „Theory of Capitalist Development – An Analytical Study of Marxian Political Economy“ gelesen.[1] Sweezy referierte dort einen Aufsatz von Ladislaus von Bortkiewicz[2] und rief damit eine Diskussion in Erinnerung, die nach dem Erscheinen des 3. Bandes des Kapitals zwischen bürgerlichen und marxistischen Ökonomen geführt wurde. Bekannt geworden ist dabei die vermeintlich vernichtende Kritik von Böhm-Bawerk, einem der führenden Vertreter der Wiener Schule der Grenznutzentheorie, die 1896 unter dem Titel „Zum Abschluss des Marxschen Systems“ erschienen war. Der russische Ökonom Tugan-Baranowsky zeigte 1905, dass die von Marx bzw. von Engels (als Herausgeber des 3. Bandes) versuchte Ableitung der Preise aus den Arbeitswerten fehlerhaft ist. Zwei Jahre später gab der in Berlin lehrende Statistiker v. Bortkiewicz dem Marxschen Transformationsproblem zum ersten Mal eine auf der Höhe der Zeit stehende mathematische Fassung und fand eine mathematisch korrekte Lösung. Obwohl er Marx gegen Tugan-Baranowsky verteidigte[3], waren orthodoxe Marxisten empört, weil er es gewagt hatte, den Meister zu „berichtigen“.
Man muss Sweezy dafür danken, dass er die Arbeit von Bortkiewicz der Vergessenheit entrissen hat. Denn es geht hierbei nicht nur um einen mathematischen Kalkül zur Umrechnung von Arbeitswerten in Preise, sondern auch um die Frage, wie die allgemeine Profitrate zu definieren ist und wovon sie abhängt. Sweezy stellt nämlich nach der Diskussion des 3-Sektoren-Modells von Bortkiewicz fest: „Die organische Zusammensetzung des Kapitals in Abteilung III (Luxusgüter) spielt keine direkte Rolle bei der Bestimmung der Profitrate“.[4] Dies war schon von Ricardo gesehen und mit anderen Worten ausgesprochen worden, aber Marx war in diesem Punkt anderer Meinung. Hier geht es nun wirklich um sehr viel, denn wie kann man guten Gewissens behaupten, dass die Profitrate steigen oder fallen wird, wenn nicht klar ist, wovon diese eigentlich abhängt?
Sweezys Buch ist zum ersten Mal 1942 erschienen. Heute sind Marxisten für die ökonomische Analyse besser ausgerüstet als Sweezy, wenn sie die bahnbrechenden Ideen von Piero Sraffa rezipiert haben.[5] Vielleicht hat Fülberth Recht, wenn er schreibt: „Sraffas Gegenposition zur Neoklassik basiert auf nicht-Marxschen Voraussetzungen“.[6] Aber welche Voraussetzungen sind hier gemeint? Eine wesentliche Gemeinsamkeit, die Sraffa mit Marx verbindet und beide von der Neoklassik trennt, ist doch die Auffassung der Wirtschaft als Kreislauf. Mit anderen Worten, beide betrachten ein Mehrsektorenmodell, in dem die Sektoren sich gegenseitig mit allen nötigen Produktionsmitteln versorgen. Hierbei stiess Marx auf ein mathematisches Problem, für dessen Lösung er von seinen Universitätsstudien her nicht vorbereitet war. Sraffa hatte gegenüber Marx den Vorteil, dass er durch einen Mathematiker in Cambridge beraten wurde. Im Folgenden wird zunächst der Zusammenhang zwischen Preisen und Profitrate in einem einfachen 2-Sektoren-Modell von Sraffa dargestellt. Danach wird das Vorgehen von Marx mit dem von Sraffa verglichen. Im letzten Abschnitt frage ich, warum Investoren nicht in Branchen mit niedriger organischer Zusammensetzung des Kapitals, z.B. in den Geigenbau, investieren, um die fallende Tendenz der Profitrate umzukehren.
II.
Sraffa beginnt sein Werk Warenproduktion mittels Waren mit der Betrachtung eines Modells einer sehr einfachen Volkswirtschaft, in der nur Weizen und Eisen produziert wird. Die Produktivität ist so gering, dass kein Mehrprodukt erzeugt wird. Es gibt also auch keinen Profit. Die Arbeiter werden nicht mit Geld entlohnt, sondern mit Weizen. Die Tätigkeit eines Jahres wird durch das folgende Schema beschrieben:
Produktionsmittel Produkt
8 t Eisen 120 t Weizen 20 t Eisen
12 t Eisen 280 t Weizen 400 t Weizen
Die Eisenindustrie produziert also über den eigenen Bedarf hinaus 12 t Eisen, die sie gegen 120 t Weizen eintauschen muss, um ihre Arbeiter zu bezahlen. Die Landwirtschaft ihrerseits braucht gerade 12 t Eisen und kann ihren Überschuss von 120 t Weizen der Eisenindustrie verkaufen. 1 t Eisen muss also gerade soviel kosten wie 10 t Weizen, damit das ganze System sich reproduzieren kann. Man kann es auch anders formulieren: Wenn in jedem Wirtschaftszweig Einnahmen und Ausgaben gleich sein sollen, müssen die Preise p1 für 1 t Eisen und p2 für 1 t Weizen den Gleichungen
8 p1 120 p2 = 20 p1
12 p1 280 p2 = 400 p2
genügen. Das ist immer dann der Fall wenn p1: p2 = 10 : 1 ist.
In Kapitel II modifiziert Sraffa das obige Modell derart, dass mit den gleichen Mengen an Produktionsmitteln wiederum 20 t Eisen, aber 575 t Weizen produziert werden. Man kann sich etwa vorstellen, dass eine ertragreichere Weizensorte gezüchtet wurde. Würden sich die Preise nicht ändern, dann könnten die Agrarunternehmer 175 t Weizen exportieren und dadurch einen Gewinn machen, und die Eisenindustrie ginge leer aus. Es gehört aber zum Wesen des Kapitalismus, dass die Profitraten in allen Zweigen sich angleichen, indem die Preise sich dem technischen Fortschritt anpassen. Genauer: die Preise müssen am Ende so sein, dass alle Kapitaleigner die gleiche Profitrate erzielen können. Im Folgenden wird vorausgesetzt, dass die Arbeiter nur den Subsistenzlohn erhalten und die Kapitaleigner die maximale Profitrate R erzielen. Dann muss der Erlös aus dem Verkauf des Jahresprodukts (1+R)mal den Produktionskosten gleich sein, also:
(1+R)( 8 p1 120 p2 ) = 20 p1
(1+R)(12 p1 280 p2 ) = 575 p2
Man kann leicht nachrechnen, dass dieses Gleichungssystem mit R = 0,25, p1 = 15, und p2 = 1 gelöst wird. Nach einer Übergangsperiode, in der sich die Preise an die neue Situation anpassen, erzielen also die Kapitalisten in beiden Branchen eine Profitrate von 25 Prozent, obwohl sich in den materiellen Produktionsbedingungen der Eisenindustrie nichts geändert hat. Dieses einfache Beispiel zeigt die Unhaltbarkeit der neoklassischen Kapitaltheorie, wonach der Profit dadurch zustande kommt, dass das Kapital (Geld) „arbeitet“.
III.
In dem Kapitel über die Verwandlung der Warenwerte in Produktionspreise (Das Kapital, Band III, Kap. 9) betrachtet Marx fünf Branchen mit unterschiedlicher organischer Zusammensetzung des Kapitals, aber gleicher Mehrwertrate, nämlich 100 Prozent. Wenn es zwischen diesen Branchen überhaupt keinen Warenverkehr gibt, dann kann man mit Marx für jede einzelne Branche die ihre eigene Profitrate ausrechnen und erhält der Reihe nach 20, 30, 40, 15 und 5 Prozent. Unbegründet ist aber Marx’ Annahme, die allgemeine Profitrate wäre das arithmetische Mittel dieser fünf Zahlen (22 Prozent). Die allgemeine Profitrate kann nämlich nicht berechnet werden, ohne dass die Art der Verflechtung zwischen den Branchen in Betracht gezogen wird. Weil Marx an dieser Stelle keine Annahmen über die Verflechtung macht, erscheint seine Analyse etwas abgehoben von der Realität.
Man kann das Schema mit fünf Branchen etwas vereinfachen, um die wesentlichen Punkte umso deutlicher hervortreten zu lassen. Ich betrachte also eine Volkswirtschaft mit drei Branchen, die mit den drei ersten bei Marx zusammenfallen.
Tabelle 1: Separate Profitraten für drei verschiedene Branchen nach Marx
Tabelle sie Datei zum Download!
Das arithmetische Mittel der Profitraten ist hier 30 Prozent, aber es ist, wie sich zeigen wird, irrelevant. Man kann sich vorstellen, dass es sich zunächst um isolierte (autarke) Agrarwirtschaften ohne fixes Kapital (Gebäude, Maschinen) handelt, von denen die erste zum Beispiel nur Rinder, die zweite nur Getreide und die dritte nur Kartoffeln für einen städtischen Markt und die Ernährung der eigenen Landarbeiter produziert. Dann kann man die Kapitale und die Produkte jeder Branche in physischen Mengen der gleichen Art ausdrücken: aus 100 Rindern am Beginn des Jahres, davon 80 für die Zucht (konstantes Kapital) und 20 für den Naturallohn der Rinderhirten (variables Kapital), werden 120 Rinder am Ende des Jahres, aus 70 t Saatgut und 30 t Brotgetreide für die Landarbeiter werden am Ende des Jahres 130 t geerntetes Getreide, usw. So kann man die drei Profitraten ohne Rückgriff auf Werte oder Preise berechnen. Wenn die drei Branchen unterschiedliche organische Zusammensetzung haben und autark sind, dann gibt es drei verschiedene Profitraten, und es ist nicht einzusehen, was mit dem arithmetischen Mittel der Profitraten bezweckt werden soll. Eine Angleichung der Profitraten könnte nur stattfinden, wenn die Grundstückspreise die unterschiedlichen Produktivitäten ausdrücken und die Grundrenten von dem Bruttogewinn abgezogen würden. Da aber Marx den industriellen Kapitalismus analysiert hat, kann die Grundrente bei ihm nicht die Ursache für den Ausgleich der Profitraten sein.
Im Normalfall, wenn die Branchen verflochten sind, können jedoch separate Profitraten für jede einzelne Branche gar nicht sinnvoll definiert werden. Vielmehr gibt es dann eine gemeinsame Profitrate für das ganze System, aber diese ist nicht das arithmetische Mittel von irgendwie berechneten separaten Profitraten autarker Branchen, sondern hängt in komplizierter Weise ab von den Elementen der Verflechtungstabelle. Die Berechnung der gemeinsamen Profitrate erfordert im einfachsten Fall, wenn nur zwei Branchen verflochten sind, die Lösung einer quadratischen Gleichung, aber in fast allen anderen Fällen die Anwendung eines iterativen Verfahrens, das nach einer gewissen Anzahl von Schritten zu einer brauchbaren Näherung führt.
Um sich von der unrealistischen Annahme der Autarkie der Branchen zu lösen, nehme man an, dass jede Branche Produkte der beiden anderen Branchen als Produktionsmittel und Nahrungsmittel der Arbeiter einsetzt, entsprechend der folgenden Tabelle:
Tabelle 2. Verflechtungstabelle für drei landwirtschaftliche Branchen
Tabelle siehe Datei zum Download!
Man sieht, dass insgesamt jedes Jahr 100 Rinder und je 100 t Getreide und Kartoffeln verbraucht werden, um 120 Rinder, 130 t Getreide und 140 t Kartoffeln zu produzieren. Das könnte dazu verführen, den einzelnen Branchen die Profitraten 0,2, 0,3 und 0,4 zuzuordnen und dem ganzen System die „Durchschnittsprofitrate“ 0,3. Dies ist aber nicht die „allgemeine“ Profitrate, zu der die faktischen Profitraten der einzelnen Branchen tendieren sollen, wenn die Theorie von Ricardo-Marx stimmt.[7] Denn wie schon Bortkiewicz wusste, müssen die Profitrate r und die Preise p1, p2 und p3 die Gleichungen
(1+r)(60 p1 15 p2 30 p3 ) = 120 p1
(1+r)(20 p1 65 p2 35 p3 ) = 130 p2
(1+r)(20 p1 20 p2 30 p3 ) = 140 p3
erfüllen. Diese Gleichungen, die zu den Gleichungen von Sraffa analog sind, drücken aus, dass der Erlös aus dem Verkauf der Produkte dem mit dem Faktor 1+r multiplizierten Aufwand für Produktionsmittel gleich ist. Da auf die Berechnungsmethode hier nicht eingegangen werden kann (man findet sie in Lehrbüchern der linearen Algebra oder der Matrizenrechnung in dem Kapitel über Eigenwerte und Eigenvektoren von Matrizen), muss die Angabe genügen, dass in diesem Beispiel r = 0,2837 ist. Wenn man den Preis eines Rindes als Einheit nimmt, dann hat der zugehörige Preisvektor die Komponenten p1 = 1, p2 = 1,098 und p3 = 0,567. Wer es nicht glaubt, muss sich durch Einsetzen dieser Zahlen davon überzeugen. Wir sehen also, dass hier eine allgemeine Profitrate von 28,37 Prozent resultiert und nicht 30 Prozent, wie man naiv annehmen könnte.
IV.
Nun könnte man sagen, die Differenz zwischen 30 und 28 sei ja nicht weltbewegend. Wenn man aber von einer langfristigen Änderung der Profitrate sprechen will, dann sind auch die kleinen Differenzen ernst zu nehmen (ebenso wie beim Klimawandel). Außerdem ist die untaugliche Methode, mit der Marx die allgemeine Profitrate berechnen wollte, sehr wahrscheinlich auch verantwortlich für seine Meinung, dass die Produktionsbedingungen der Luxusgüter Einfluss auf die allgemeine Profitrate hätten. Wenn dem so wäre, dann könnte das Kapital die Profitrate anheben, indem es in die Produktion von Luxusgütern investiert, die über-wiegend in Handarbeit hergestellt werden (niedrige organische Zusammensetzung des Kapitals). Es würde dann zum Beispiel in private Musikschulen und in den Geigenbau investieren, statt in die Produktion von Luxusautos und Handys mit Digitalkamera und TV-Empfang.
Den Grund dafür, dass heute die meisten Luxusgüter Produkte der Hochtechnologie sind, sehe ich in der Tatsache, dass die Grundlagen dieser Technologien entweder gratis von der Rüstungsindustrie geliefert werden (z. B. Navigationssysteme in Personenwagen), oder dass sie sowohl in Luxusgütern als auch in Produktionsmitteln Verwendung finden. Ihre Wirkung im Sinne einer Anhebung der allgemeinen Profitrate beruht aber nur auf ihrer Anwendung im Produktionsmittelbereich (z. B. Prozessrechner in der chemischen Industrie schon in den 60er Jahren), und zu diesem Zweck wurden sie ursprünglich entwickelt. Wenn ihre Anwendung auf Luxusgüter sehr profitabel ist, dann nur weil ein großer Teil der Entwicklungskosten von den Basisindustrien getragen worden ist.
[1] Sweezy, Paul M., Theorie der kapitalistischen Entwicklung (a. d. Engl.), Köln 1959.
[2] Bortkiewicz, L., Zur Berichtigung der grundlegenden theoretischen Konstruktion von Marx im 3. Band des ‘Kapitals’. Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik 1907, S. 319-335.
[3] Im Schlusswort seines Artikels schrieb er: „Tugan-Baranowsky hat also, indem er die Mehrwertrate in seinen Beispielen variieren liess, an derjenigen Marxschen These, gegen die sich seine Kritik in erster Linie richtet, vollständig vorbeiargumentiert. Der Beweis, dass die organische Zusammensetzung des Kapitals ohne Einfluss auf die Profitrate sei, ist ihm nicht geglückt.“
[4] Sweezy, S.96. Man kann fragen, warum Sweezy hier das Wort „direkt“ eingefügt hat. War er seiner Sache doch nicht ganz sicher? Kann es vielleicht eine „indirekte“ Abhängigkeit geben und was wäre damit gemeint? Die ungenaue Formulierung verrät eine Unsicherheit, die ich darauf zurückführe, dass Sweezy den mathematischen Hintergrund der Arbeit von Bortkiewicz nicht verstanden hat.
[5] Sraffa, Piero, Production of Commodities by Means of Commodities, Cambridge 1960 (deutsch: Warenproduktion mittels Waren, mit Nachworten von Bertram Schefold, Frankfurt a.M. 1976).
[6] Fülberth, G., Transformationsfrage: Problemlage. Z. 21, 1995, S. 190-198.
[7] Schon bei Ricardo hiess es: „Dieses unaufhörliche Streben aller Kapitalbesitzer, ein weniger profitables Unternehmen zugunsten eines vorteilhafteren aufzugeben, erzeugt eine starke Tendenz, die Profitrate aller zu egalisieren“.