Berichte

Rätedemokratie: aktuell oder überholt?

Konferenz zum 90. Jahrestag von Lenins „Staat und Revolution", Berlin, 13.10.2007

März 2008

Anknüpfend an die im April 2007 durchgeführte Marxismuskonferenz, sollte diese Tagung von Marx-Engels-Stiftung, SALZ e.V. und Marxistischem Forum Sachsen in bescheidenerem Maße den strömungsübergreifenden Ansatz der Marxismustagung fortsetzen, was aufgrund der veranstaltenden Gruppierungen und der eingeschränkten Teilnehmerzahl von ca. 50 Personen jedoch nur teilweise gelang. Thematisch ging es um die sich in diesem Jahr zum neunzigsten Mal jährende Oktoberrevolution und im engeren Sinne um das mit Lenins Werk „Staat und Revolution“ formulierte Rätekonzept als Grundlage der neu zu errichtenden Gesellschaft. Der Staatsfrage und ihrer marxistischen Konzeption am Vorabend der Revolution sollte in einer Plenarveranstaltung und zwei Workshops nachgegangen werden.

Robert Steigerwald (DKP und ME-Stiftung) hob die mit der Staatsfrage einhergehende Frage der Demokratie als entscheidend für Vergangenheit und Zukunft des Sozialismus hervor. Ob der Gedanke der Rätedemokratie vor dem Hintergrund der historischen Erfahrung weiter zentral sei, wurde von Steigerwald mit Fragezeichen versehen. Unzweifelhaft sei die sozialistische Ignoranz gegenüber der Gewaltentrennung ein Fehler gewesen. Verfassungsgerichte auf sozialistischer Grundlage, individuelle Klagemöglichkeiten, die Konkurrenz unterschiedlicher sozialistischer Fraktionen – der zukünftige Sozialismus müsse auf einem anderen Staatstypus fußen als der vergangene.

Im Gegensatz zu Steigerwald blieb für Manuell Kellner (SoZ, ISL) der Rätegedanke zentraler Anknüpfungspunkt sozialistischer Bewegungen, weil in ihm die Idee der Selbstorganisation der Massen enthalten sei. Dennoch bedürfe auch der sozialistische Staat über die Räte hinaus eines organisatorischen Aufbaus. Lenins Werk von 1917 wollte Kellner nicht als reales Programm des neuen Staats, dass dann hintergangen wurde, verstehen. Vielmehr sei es Lenin um eine Rekonstruktion der Gedanken von Marx und Engels und der Wendung gegen Kautsky gegangen.

Uwe-Jens Heuer (Marxistisches Forum) dagegen sah in Lenins „Staat und Revolution“ sehr wohl das Versprechen des demokratisch-revolutionären Rätestaates, das dann den Forderungen der Realität nach der Revolution nicht Stand halten konnte. Ziel von Lenins Werk sei es gewesen, den „Funken des Aufstands“ zu liefern. In seiner Schrift „Die nächsten Aufgaben der Sowjetmacht“ habe er dann – vor dem Hintergrund der neuen Realität – ein ganz neues Programm entwickelt.

Die Einheit von Demokratie und Sozialismus werde im Rätegedanken zum Ausdruck gebracht, weshalb sich Ekkehard Lieberam (Marxistisches Forum Sachsen) auch positiv auf ihn bezog, um gleich danach einige Fragzeichen zu setzen: So könne die reale Erfahrung aus 90 Jahren sozialistischer Versuche auch im Hinblick auf die Räte nicht einfach ignoriert werden. Auch zukünftig werde der Staat für den Sozialismus keine kurzfristige Angelegenheit sein, womit die Gefahr autoritärer Tendenzen auch fürderhin für sozialistische Versuche bestehen bleibe. Gerade deshalb sei jedoch die Bekräftigung des Rätegedankens (Wahl, Abberufung usw.) als Korrektiv des vorerst weiter notwendigen Staatsapparates so wichtig.

Für Thomas Wagner (Kultursoziologe) blieb das Prinzip der Selbstorganisation und damit der Rätegedanken zentraler und universalisierbarer Kern jeder Sozialismusvorstellung. Allerdings werde die Möglichkeit der herrschaftsfreien Gesellschaft aktuell gerade auch von kommunistischen Intellektuellen – Wagner nannte Losurdo und den anwesenden Heuer – ins Reich der Utopie verwiesen und der Staat zur unüberschreitbaren Notwendigkeit erklärt. Das Ziel einer immer weiteren Zurückdrängung des Staates müsse dagegen zentral bleiben.

Die anschließende Debatte schwankte zwischen den grundsätzlichen Fragen nach Räten und Staat in der marxistischen Theorie und den Folgerungen der Ausführungen für die Beurteilung der Entwicklung vom Herbst 1989, wie sie von Hans Modrow eingefordert wurde. Während dieser mit Fragen nach der Bewertung des Runden Tisches, einer möglichen „Doppelherrschaft“ im Herbst 89 und der Frage, ob die schon unter seiner Regierungsverantwortung begonnenen Prozesse auch gegen Repräsentanten der SED-Herrschaft als Umsetzung der in den Referaten geforderten Herrschaftskontrolle zu bewerten sei, den Fokus auf die unmittelbare Vergangenheit legte, konzentrierten sich andere Beiträge auf die Bewertung der Rolle des Staates, der demokratischen Beteiligung und den Erfahrungen aus der Realität von 90 Jahren Sozialismus. Heuer beharrte auf seiner Einschätzung, dass der Staat für eine nicht absehbare Zeit als zentrales Element erhalten bleiben werde, da er für die Organisation moderner Gesellschaften nicht zu ersetzen sei. Umso wichtiger sei es, so Lieberam, den Gedanken der Herrschaftsüberwindung als gegenläufiges Element nicht preiszugeben.

Die beiden Workshops vertieften die Debatten des Vormittags dann noch einmal, ohne grundsätzlich neue Aspekte zu berühren. Während Steigerwald und Kellner die historische Rekonstruktion von Oktoberrevolution und Kommunestaat ins Zentrum stellten, knüpften Heuer, Lieberam und Wagner im Workshop "Marxistische Staatstheorie – Perspektiven sozialistischer Demokratie" an die Debatte der Plenarveranstaltung um ein taugliches Demokratiekonzept für einen zukünftigen Sozialismus an.

Die Frage der marxistischen Staatstheorie, die Debatte um die Rolle des Staats und die marxistische Kritik an ihm ist auch jenseits der anlassgebenden Jahrestage ein zentrales Thema für die sozialistische Linke. Man würde sich hier einen breiteren Austausch der unterschiedlichen marxistischen und sozialistischen Richtungen wünschen, um den Impuls der Marxismuskonferenz vom Frühjahr 2007 produktiv aufzunehmen. Die Berliner Tagung war ein erster Versuch in diese Richtung, dem hoffentlich weitere folgen werden.