Ca. 80 bis 100 Teilnehmer folgten der Einladung der Loccumer Initiative, die sich 1994 im Umkreis von Peter von Oertzen, Michael Buckmiller (Hannover), Margaretha Steinrücke (Bremen) und Leuten aus Göttingen gegründet hatte, und der Assoziation Kritischer Gesellschaftsforschung (AKG), die 2004 als Reaktion auf die Marginalisierung linker Wissenschaft(ler) an den hiesigen Unis entstanden war und seitdem einen inhaltlich-organisatorischen Zusammenhang bildet (Alex Demirovic, Uli Brand, Katharina Pühl, Sonja Buckel, Stephanie Wöhl u.a.).
Die Intention der Veranstalter war, die „Erosionskrise“ der Subjekte bei Beschlagnahmung und Durchdringung ihrer Subjektivität durch neue Formen von Produktion, Ökonomie, Politik und technisch-wissenschaftlichem Fortschritt am Körper (Bio- und Sexualtechnologien) analytisch näher in den Blick zu nehmen und Schlussfolgerungen für einen kritischen Subjektbegriff in der linken Tradition zu ziehen.
Oskar Negt (Hannover) eröffnete die Tagung vor einem größeren Auditorium mit seiner Zeitdiagnose, dass die hohe Produktivität der gegenwärtigen Arbeitsgesellschaften unter kapitalistischen Bedingungen systemisch notwendig zu sozialstrukturellen Fragmentierungen, zu einer Erosion des Zusammenhangs von Arbeit und menschlicher Würde und zu massiven psychischen Beschädigungen (Erschöpfung, Depression) der Subjekte selbst führt. Er konfrontierte diese negativen Erscheinungen von Subjektivität mit einem emphatischen Subjektbegriff, wie er historisch in Polis, Renaissance und zu Beginn der bürgerlichen Gesellschaft aufschimmerte und plädierte gleichzeitig gemäß der Gramscischen Devise „Pessimismus des Verstandes, Optimismus des Herzens“ dafür, die Frage der Arbeitszeitverkürzung wieder als ein linkes zivilisatorisches Projekt aufzugreifen. Man hätte durchaus erwarten können, dass aus Kreisen derjenigen Linken, die einen klassisch bürgerlich-aufgeklärten Subjektbegriff – z.T. mit Rückgriff auf Feminismus, Queer-Studien oder Foucault – als blind gegenüber patriarchalischen Strukturen, Sexismus und Rassismus kritisieren und gerade in seiner Krisenhaftigkeit emanzipatorisches Potenzial in Richtung dezentrierte Subjektivität, Patchwork-Biografie und plurale Lebensformen sehen, Negts Beitrag als nostalgisch und traditionalistisch kritisiert wird. Das war aber nicht der Fall.
In einem ersten Diskussionsblock wurde von Alfred Krovoza (Hannover) geprüft, welchen Beitrag die Freudsche Psychoanalyse zur Erfassung gegenwärtiger Subjektformen leisten kann. Seine These: Die Dynamik des psychisch Unbewussten ist nicht mit gesellschaftlicher Unbewusstheit vermittelbar, daher auch seine große Skepsis gegenüber zeitdiagnostischen Zuordnungen wie bspw. des narzisstischen Sozialisationstyps im Spätfordismus, oder heute, unter Vermarktlichungs- und Selbstmanagementbedingungen, der zuerst gefeierte Arbeitskraftunternehmer als das „erschöpfte und depressive Selbst“. Hingegen versuchte Johannes Gruber (Basel), das Arbeitsprogramm der frühen Kritischen Theorie (Fromm, Marcuse, „Autorität und Familie“) für die Gegenwart zu aktualisieren und die subjektiven Folgewirkungen flexibilisierter Arbeits- und Lebensverhältnisse sozialpsychologisch als „corrosion of character“ (der flexible Mensch bei Richard Sennett) zu fassen.
Im Unterschied zu Vorbehalten gegenüber einer Verbindung von Psychoanalyse und kritischer Soziologie sehen sich Vertreter der Kritischen Psychologie in der Nachfolge von Klaus Holzkamp gegenwärtig darin bestärkt, neoliberale Subjektivierungsstrategien mit Hilfe der Grundbegriffe der kritischen Psychologie (Handeln, Lernen, Verstehen u.ä.) kritisch analysieren zu können und somit auch von marxistischer Seite aus (Zeitschrift Argument) einen Beitrag zur Stärkung politischer Handlungsfähigkeit leisten zu können. In diesem Kontext analysierte Christina Kaindl (Berlin) am Beispiel der TV-Reality-Show „Popstars“ prototypisch eine neoliberale „Mobilisierung der Subjekte“ für Leistung, Karriere und Erfolg. In der Diskussion wurde dabei kritisiert, dass brauchbare Aussagen über die Wirkungsweise solcher „Diskurse“ die Rezeption durch das breite jugendliche Publikum mit einbeziehen müsste.
Eine weitere Diskussionsrunde drehte sich um den Zusammenhang von Macht und Subjekt in subjektivierten Arbeitsverhältnissen. Alexandra Rau (Frankfurt) und Stefanie Graefe (Hamburg) analysierten mit Rückgriff auf Foucaults Gouvernementalitätsthesen die Wirkungsweise betrieblicher Psychopolitiken bei Beschäftigten mit Autonomie und Selbststeuerung und arbeiteten dabei die Paradoxien von Subordinierung/Zurichtung, aber eben auch Geltendmachen subjektiv-emotionaler Ansprüche an Arbeit heraus. Diskutiert wurde, wie diese z.T. bloß subjektiven und vereinzelten innerbetrieblichen Anerkennungskämpfe über Betriebsräte hinaus öffentliche Kämpfe werden können, bei denen evtl. Arbeitssituationen von Lidl-VerkäuferInnen mit denen von IT-Facharbeitern gemeinsam sichtbar und in politische Handlungsfähigkeit umsetzbar gemacht werden können. Als Gegengewicht gegen eine allzu einseitige Gewichtung der negativen und zerstörerischen Aspekte der Erosionskrise der Subjektivität unter dem Neoliberalismus hob Christoph Lieber (Hamburg) auf emanzipatorisches Subjektpotenzial sowohl im Fordismus als auch heute ab. Die Thesen der israelischen Soziologin Eva Illouz zum „emotionalen Kapitalismus“ wurden gegen eine einseitig repressive Lesart des Fordismus ins Feld geführt und zugleich darauf hingewiesen, dass in gewisser Weise der Neoliberalismus diese erhöhte Emotionalität und Subjektivität aus dem Fordismus in sein Ambivalenzmanagement von Prekarität und Selbstorganisation einbaut. Die Linke muss dieses Autonomiepotenzial von Subjektivität in den gegenwärtigen Arbeits- und Lebensverhältnissen konstruktiv für eine neue politische Kultur besetzen und darf die Einbindung der Subalternen unter dem Label „Kultur der Arbeit“ nicht einem Reorganisationsversuch des Neoliberalismus à la Sarkozy überlassen.