Die Flut von Reformen, die in den letzten Jahren und Jahrzehnten über Schulen und Hochschulen hereingebrochen ist bewirkt eigentlich nur eines: alte, funktionierende Institutionen sturmreif zu schießen für die Eroberung durch die Bertelsmänner und andere neoliberale Privatisierer. In vielen Punkten ist die Kritik berechtigt. Nur: Wo wollen wir jetzt hin? Zurück in die fünfziger Jahre des letzten Jahrhunderts? Oder noch weiter zurück in die „gute alte Zeit“?
Schulen und Hochschulen
unter dem Diktat der Marktwirtschaft
Zentrale Prüfungen, Vergleichsarbeiten, Leistungsstandards, PISA, PIRLS, VERA und LAU, in den Schulen wird gemessen und gerankt, dass es nur so kracht. Da zählt Humboldts Bildung nichts mehr, denn es wird nur noch für die Tests gelernt, für das outcome und die performance in den internationalen Rankings. Gleichzeitig wird die gymnasiale Schulzeit um ein Jahr verkürzt. Da gilt alles als verzichtbar, was nicht in den zentralen Abschlusstests vorkommt. Aus den Deutsch-Lehrplänen in Nordrhein-Westfalen wird das Lesen anspruchsvoller Texte gestrichen, in Mathematik scheinen Exponentialfunktionen überflüssig zu sein, und in Geschichte kann die griechische Antike ebenso geschlabbert werden wie Europa als Traditionsraum, die Weimarer Republik oder das Thema Friedenssicherung. Und das alles von CDU und FDP, die zu rot-grünen Regierungszeiten in NRW nicht müde wurden, den Rückstand im Stoff gegen über Bayern und Baden-Württemberg zu beklagen.
Schulen und Hochschulen werden anscheinend aus staatlicher Gängelung befreit. Sie sind zwar noch öffentliche Einrichtungen, sollen sich aber als selbstständige Unternehmen gerieren. Als charakteristisch für die neoliberale „Reform“ gilt die vor sechs Jahren von der Bertelsmann-Stiftung in Nordrhein-Westfalen ausgerufene „selbstständige Schule“. Dieser nun beendete Schulversuch hatte wenigstens noch zwei Seiten: die unternehmerisch agierende Schule und den selbstständig lernenden Schüler – wobei der zugrunde liegende Begriff von Selbstständigkeit am sich selbst vermarktenden Arbeitskraft-Anbieter orientiert ist. Die nordrhein-westfälische CDU-FDP-Landesregierung hat das Projekt sang- und klanglos beerdigt und stattdessen ihr eigenes Label erfunden – die eigenverantwortliche Schule. Da geht es nur noch darum, dass Schulen wie Unternehmen geführt werden sollen – ein ideologisches Versprechen, das in der Realität nicht eingelöst wird, denn die Schulen werden mehr gegängelt als zuvor. Zum Beispiel, als einige Schulen die jüngst eingeführten Kopfnoten nicht übernehmen wollten – für jeden Schüler Noten in sechs „Disziplinen“. Sofort verlangte die Schulaufsicht, dass diese Schulen ihre Zeugnisse einsammeln und neue mit Kopfnoten ausgeben mussten. Hier kommt also das alte System bürokratische Gängelung zusammen mit dem pseudo-marktwirtschaftlichen Leitbild der unternehmerischen, wettbewerblichen Schule. Schulen im Wettbewerb um Sponsoren, um die besseren Schüler, die sie in den Rankings weiter nach oben bringen – das ist längst kein absurdes Horrorgemälde mehr, sondern Realität, etwa in England oder den USA.
Bildung als die Aneignung von Welt, als Persönlichkeitsentwicklung, Erziehung als ein personaler Prozess zwischen Lehrer und Schüler sind verloren gegangen, stattdessen geht es nur noch um die Ausbildung der eigenen Arbeitskraft und die quasi industrielle Produktion von Kompetenzen, um das „Humankapital“ der künftigen Ich-AGs.
In der gleichen Richtung werden auch die Hochschulen umgebaut: Die Hochschulfreiheit ist nicht mehr die Freiheit der Forschung und Lehre von materiellen oder administrativen Zwängen, sondern die unternehmerische Freiheit des selbstständigen Wirtschaftens auf dem Bildungsmarkt. Da teilt zum Beispiel die nach Heinrich Heine benannte Düsseldorfer Universität in einer Presseerklärung mit, dass sie Mitglied der „Innovations-Allianz“ geworden sei. Das ist ein Zusammenschluss von Hochschulen und Transfergesellschaften, die, wie es in ihrer Selbstdarstellung heißt – ein gemeinsames Label benutzen, nachfrageorientierte Angebote von Serviceleistungen bereitstellen, zur Profilschärfung beitragen, die Hochschule besser aufstellen – Marketing, Lobbying, Qualitätssicherung, man lässt keine Phrase des Hochschulmanagement-Jargons aus, und am Ende weiß man nur: Diese Heinrich-Heine-Universität möchte ihre Forschungsprodukte besser verkaufen, und zwar auf dem Gebiet der Life-Science, denn damit macht man Umsätze in Dimensionen, von denen ein Literaturwissenschaftler wahrscheinlich Alpträume bekommen würde.
Dass da nicht mehr in Einsamkeit und Freiheit geforscht wird liegt auf der Hand. Ein Bachelor-Studium ist in Module aufgeteilt, deren Ableistung in Workloads berechnet und mit Kreditpunkten honoriert wird. Aus dem Studium als Bildungserlebnis, als die Beschäftigung mit einer Sache um ihrer selbst willen wird die Zurichtung des Humankapitals auf „employability“, wie es in der Bologna-Reform gefordert wird – ein Begriff, der den Sonderprogrammen für Schulabbrecher entlehnt ist, die von einem Sozialarbeiter vors Werkstor begleitet werden müssen, aber kaum etwas zu tun hat mit den Zielen eines wissenschaftlichen Studiums.
Kritik des neuen Bildungsbegriffs
Von den Diagnosebögen und den Sprachstandstests im Kindergarten über PISA, die über den Hochschulen ausgegossene Sauce Bolognese bis zur Phrase vom Lebenslangen Lernen – all diese Pseudoreformen im Namen von Wettbewerb, Qualität und Effizienz ordnet Jochen Krautz in seinem Buch „Ware Bildung“[1] ein in das beängstigende Tableau einer marktförmigen und Profitinteressen unterworfenen Reorganisation von Bildung. Der Wiener Philosoph Konrad Paul Liessmann hat diese Entwicklung in seiner „Theorie der Unbildung“[2] beschrieben.
Krautz, Kunstpädagoge an der Universitär Wuppertal, unterzieht die Schlagworte des Reformsprech einer gründlichen Kritik: Die „Wissensgesellschaft“ zum Beispiel: was ist wirklich neu? Schon der Neandertaler brauchte Wissen für die Werkzeugproduktion, und auch heute funktioniert Wissensproduktion nicht ohne eine industriell gefertigte materielle Grundlage. Nur – sie wird halt meistens in Südostasien hergestellt, und so entsteht der Eindruck, die Hardware spiele wirtschaftlich keine Rolle mehr. Nicht die Verwissenschaftlichung der Industrie ist neu, stellt Krautz fest, sondern die Industrialisierung des Wissens. Und damit sind wir bei den Tests und Standards in der Schule, den computerisierten Lernpogrammen und den Modulen der reformierten Hochschule. Oder „Kompetenz“, der zentrale Begriff bei PISA: Warum spricht man nicht mehr von Qualifikationen? Kompetenzen umfassen auch Werthaltungen und Motivationen. Sie sollen gezielt vermittelt und dann abgetestet werden – da wird Lernen zu einem totalitären Formierungsprogramm.
Krautz rückt noch einmal gerade: PISA testet nicht Bildung, denn das geht sowie so nicht, weil Bildung sich nur auf die einzelne Persönlichkeit beziehen kann – also unvergleichlich ist. PISA testet Kompetenzen, und die PISA-Betreiber behaupten auch nichts anderes. PISA ist das Produkt einer internationalen Wirtschaftsorganisation, der OECD, und der großen Testing-Institute, die den Test entwerfen und sich damit einen neuen Dienstleistungs-Markt erschließen. Sie führen an den Bürgern ebenso wie an den demokratisch legitimierten Institutionen vorbei einen neuen Bildungsbegriff ein, und der ist funktionalistisch, auf die Bedürfnisse der modernen Industrie ausgerichtet.
PISA setzt Maßstäbe. Alle bildungspolitischen Maßnahmen werden damit begründet, die frühere Einschulung in die Grundschule, die Verkürzung der Gymnasialzeit, die Einführung zentraler Abschlussprüfungen. Dabei hat all dies nichts mit den PISA-Ergebnissen zu tun. Während der grundlegende Skandal, den PISA belegt hat, die soziale Selektivität der Bildungsinstitutionen, vollkommen unbearbeitet bleibt. Nichts wird wirklich besser, aber die Testindustrie gedeiht.
Zurück in die fünfziger Jahre?
So weit, so treffend analysiert. Doch was setzen die Kritiker von PISA und Bologna, was setzen wir dem entgegen?
Ja, bei Humboldt ging es noch um die Persönlichkeitsbildung, heißt es. Im guten alten deutschen Gymnasium bemaß sich der Wert eines Unterrichtsfachs nicht daran, was es für das Pisa-Ranking bringt oder ob es junge Menschen fit macht für ein Betriebswirtschafts- oder Ingenieursstudium. Lerninhalte sollten jungen Menschen helfen, sich die Welt anzueignen und ihr Bild davon zu strukturieren. Deshalb alte Sprachen statt Neue Medien, die Suche nach Wahrheit und Sinn – statt gefälliger Präsentation auf Plakaten und in Power-Point-Folien. Denn das gehört heute zum Standard-Repertoire jeder, wie es gern im unternehmensberaterisch aufgehübschten Jargon heißt, „gut aufgestellten“ Schule. Im Lichte der Kritik an PISA und Bologna erstrahlen die alten Bildungsinstitutionen, einst von den demokratischen Reformern als reaktionär kritisiert, als Horte des Wahren, Schönen und Guten.
Ich habe Unterricht erlebt, der sich an den neuen Werten von
Methoden- und Sozialkompetenz orientiert: Realschüler, die
eine ganze Unterrichtsstunde
über ein Jugendbuch zur Drogenproblematik fast allein
bestritten. Dreiergruppen hatten Präsentationsplakate
vorbereitet – über den Inhalt des Buches, das
Drogenproblem, die Autorin. Wirklich beeindruckend –
vorbildliches selbstständiges Arbeiten wurde da
vorgeführt. Dann diskutierten sie. Nicht über den Inhalt
des Buches, sondern, wie das präsentierte Plakat aufgebaut
war, wie die Körpersprache der Vortragenden war und ob sie
auch ins Publikum geschaut hat. Das hat mich schon geärgert,
wie der Inhalt hinter der Form verschwindet. Die Kritiker haben
recht, die Bildung zur Ware verkommen sehen. Und ich kann die
Lehrer verstehen, die sauer sind darüber, dass der gute alte
Lehrervortrag und der fragend-entwickelnde Unterricht nun am
Pranger steht.
So sympathisch und einleuchtend die Kritik an der gegenwärtigen „Reform“ ist, man kommt doch ins Grübeln, wenn ihr Fazit lautet: Macht endlich Schluss mit den Reformen! Nach Bologna und PISA, nach der Verkürzung von Schul- und Hochschulbildung scheinen Reformen insgesamt in Verruf geraten zu sein. Sie gelten als Mittel, bewährte Institutionen sturmreif zu schießen für die Übernahme durch ein ideologisches und ökonomisches Machtkartell des Neoliberalismus – diesen Eindruck kann man bei der Lektüre der Reformkritiker Krautz und Liessmann bekommen.
In Krautz’ Reformkritik treffen wir einige alt bekannte konservative Topoi wieder: „Wie soll die Abiturientenquote erhöht werden, wenn nicht zugleich eine wundersame Intelligenzvermehrung stattfindet?“[3] barmt er. Das sei nur durch Niveauabsenkung möglich. Ein Komplott von OECD und Alt-68ern. Letztere hätten den Irrglauben verbreitet, „dass Kinder dann frei und selbstständig würden, wenn man sie nicht mehr erzieht.“[4] Sie hätten alte und gültige Orientierungen zerstört. Beispiel: die reformierte Oberstufe, Anfang der siebziger Jahre eingeführt, habe den bewährten Bildungskanon aufgelöst. Sie verführe die faulen Schüler, also grundsätzlich alle, zur Wahl des bequemsten Weges. Die Folge: unsere Industrie hat zu wenige Ingenieure, weil alle nur noch Pädagogik und Kunstgeschichte studieren.[5] Und die Gesamtschule: Sie sei gescheitert, weil es eben nicht möglich sei, Menschen unterschiedlicher Begabungsstärke gemeinsam zu unterrichten.[6] Mit überzogenen Bildungsansprüchen schicken Eltern ihre Kinder aufs Gymnasium. Dort scheitern sie zwangsläufig und landen als Verlierer an der Hauptschule. Warum haben die Eltern nicht auf den Rat der Lehrer gehört und ihr Kind gleich auf die Hauptschule geschickt?[7]
Allgemeine Bildung ist für Krautz nicht wirklich allgemein, sondern doch nur wenigen Berufenen vorbehalten. Und die anderen? Er malt die Idylle einer Hauptschule, in der junge Menschen mit volkstümlicher Bildung zu arbeitsamen und kompetenten Facharbeitern herangezogen wurden, mit Rechen- und Lesefähigkeiten bestenfalls auf PISA-Kompetenzstufe II, mit ein wenig Religion und Heimatkunde, damit sie ihre unmittelbare Umwelt begreifen können.[8] Krautz’ Alternative also zu der in seinen Augen kaputt reformierten Schule: Zurück in die fünfziger Jahre. Wo bleibt da der hehre Humboldtsche Bildungsanspruch?
Begonnen hat für ihn das Unglück mit dem Sputnik-Schock, also mit der Ablösung der alten Volksschule durch die Hauptschule und mit dem Ansinnen, mehr Kinder aufs Gymnasium zu schicken. Denn die Absichten hinter der Bildungsexpansion, die Absichten von Picht und Dahrendorf waren bekanntlich grundböse: Sie wollten die BRD besser „aufstellen“ in der Konkurrenz mit den Sowjets. Und seitdem seien Schulen und Hochschulen Faktoren eines globalen Wettbewerbs. Von da an sind sie einem permanenten Reformprozess unterworfen, der niemanden mehr zur Ruhe kommen lässt, weder Lehrer noch Schüler, und in dieser Atemlosigkeit muss die Bildung untergehen, die ja etwas mit Muße zu tun hat. Von der Gesamtschule bis zu Bologna: Alles ist Reform und deshalb in Krautz Augen schlecht. Schade – andere Unworte seziert er sehr genau, doch den einst kritisch besetzten Begriff der Reform überlässt er umstandslos den neoliberalen Okkupanten.
War da nicht was, weshalb wir vor vierzig Jahren den Muff unter den Talaren vertreiben wollten? Weshalb wir Chancengleichheit für das katholische Arbeitermädchen vom Lande forderten? War die Professorenriege in ihrer vermeintlichen Einsamkeit und Freiheit damals nicht Teil eines zwar nicht unbedingt wirtschaftlichen, aber doch eines ideologisch-politischen Machtkartells, das man aus guten Gründen aufbrechen wollte? Ja, damals hatte man sich im Humboldtschen Sinne an Sachen um ihrer selbst willen abgearbeitet, aber nicht beim Nachbeten der 20 Jahre alten Vorlesungsskripte der Professoren, sondern in der Kritik daran, was sie den Studenten vorsetzten. Man kritisierte schon damals, dass das Studium mehr und mehr dazu diente, nützliche Arbeitskräfte heran zu bilden.
Taugen nun die Reformuniversität des 19. Jahrhunderts und das Humboldtsche altsprachliche Gymnasium als Gegenbild? An den preußischen Universitäten des 19. Jahrhunderts wurde das Führungspersonal eines ökonomisch und politisch erfolgreichen Staates ausgebildet. Die alten Sprachen im Gymnasium, die Juristerei, ja, die Philosophie an den Hochschulen – diese Gegenstände dienten doch nicht dazu, Altphilologen oder Richter auszubilden, sondern Fähigkeiten des Systematisierens einzuüben, man lernte, Tatbestände zu verallgemeinern, unter Regeln zu subsumieren, diese Regeln auszulegen und anzuwenden– Fähigkeiten, die damals in der Verwaltung und den Unternehmen gefragt waren: Das war die Methodenkompetenz des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Heute lernt man andere formale Fähigkeiten an anderen Gegenständen, etwa die Gruppenarbeit in naturwissenschaftlichen Projekten und mit Power-Point-Präsentationen. Eben, weil auch andere Fähigkeiten gefordert sind. Ist der Unterschied zu früher wirklich so groß?
Der Kanon einer humanistischen Grundbildung lässt sich nicht mehr schlüssig ableiten. Er verkam zum Distinktionsmerkmal einer Klasse, deren Angehörige sich durch die Kenntnis von Zitaten und Bezügen vom Pöbel abhoben, einer bürgerlich-akademischen Intelligenz, die sich in Langemarck und im Reichssicherheitshauptamt skrupellos missbrauchen ließ. Da ist Günter Jauchs Ratespiel „Wer wird Millionär“ doch geradezu ein Zeichen für die Demokratisierung wenn nicht von Bildung, so doch immerhin von Wissen!
Bildung als Alternative
Nein, es gibt keinen Grund, dem alten Gymnasium, der alten Universität nachzutrauern. Da wurde gepaukt, damit man das Gelernte für die Klausur parat hatte und dann schnell wieder vergaß, nur hieß das damals noch nicht „teaching to the test“. Das Lernen von Griechisch und Latein war ebenso wenig Bildung wie heute die Beschäftigung mit Chemie oder Neuen Medien. Beides kann nur die Voraussetzung dafür schaffen, dass Menschen sich selbst bilden können. Das alte Gymnasium wollte das nur für bestenfalls fünf Prozent der Bevölkerung – mit welchem Erfolg, sei dahin gestellt. Die Reformen der sechziger und siebziger Jahre wollten diese Voraussetzungen für mehr, wenn nicht gar alle Menschen bereitstellen.
Aus Humboldts hehren Plänen wurden Anstalten zur Ausbildung des Führungsnachwuchses und zur Reproduktion einer herrschenden Klasse. Schulen und Hochschulen standen immer, mal mehr, mal weniger unter dem Diktat der Ökonomie: Die Entstehung der Realschulen, die Ausweitung der Volksbildung, schließlich die Bildungsexpansion nach dem „Sputnik-Schock“, hinter all dem waren ökonomisch-politische Interessen am Werke. Selbst die Reformpädagogik des 20. Jahrhunderts war eine Antwort darauf, dass die sture Paukschule nicht in der Lage war, den Anforderungen an Kreativität und Flexibilität gerecht zu werden. Heißt das aber, dass all dies Teufelszeug war und ist?
Verhindert die ökonomisch zugerichtete, portionierte und funktionalisierte Wissensvermittlung Bildung – und ist sie deshalb abzulehnen? Die zu Bildenden waren immer schon darauf angewiesen, den Kopf auch anders zu gebrauchen als es sich die Veranstalter von Bildung und Erziehung denken. Sie lernten, sich selbst ihr Bild von der Welt im Kopf zusammenzusetzen, selbst aufzubrechen aus der Unmündigkeit. Diese Anstrengung hat ihnen das alte Gymnasium nicht abgenommen, erst recht nicht die „Volksschule“.
Bildung ist immer subversiv, aber sie nutzt das Gerüst an Wissen, Lernen, und vor allem an Beziehungen, die die Institution bietet: zu Mitschülern, Kommilitonen und zu Lehrenden, die sich als Erzieher und Mitstreiter verstehen. Menschen, die mit dem Hauptschulabschluss oder nicht einmal dem, mit unzureichenden Grundkompetenzen die Schule verlassen müssen, haben einfach weniger Chancen, ihr Leben zu gestalten, sich eine Perspektive aufzubauen, den Weg aus der – nicht selbst verschuldeten – Unmündigkeit zu gehen. Höhere Abschlüsse, und damit längere Bildungszeiten für mehr Menschen, für diejenigen, die sonst mit dem Hauptschulabschluss und einer noch unsichereren Perspektive abgehen müssen, bieten einfach ungleich bessere Bedingungen für Bildung im aufklärerischen Sinn.
Wir brauchen also einen differenzierteren Blick auf das, was heute als Bildungsreform verkauft wird: Was schafft wirklich bessere Voraussetzungen für mehr Menschen als bisher, damit sie die Welt verstehen und sich aneignen können, dass sie eine sichere und interessante Berufsperspektive haben? Dazu braucht es mehr Bildungszeiten und höhere Abschlüsse für alle, aber auch mehr Freiräume für Lehrende und Lernende. Die OECD fordert Deutschland dazu auf, mehr höhere Abschlüsse zu produzieren, natürlich in erster Linie, weil eine Ökonomie mit hochwertigen Dienstleistungen sie braucht. Wenn Vergleichstests und Bildungsstandards dazu dienen, jedem Besucher einer Schule eine bestimmte Grundausstattung an Wissen und intellektuellen Fertigkeiten zu garantieren, so können sie durchaus nützlich sein. Doch alle bisherigen Erfahrungen lassen das Gegenteil befürchten: Sie werden genutzt, um Bildungsansprüche weiter auszudünnen, siehe die Reduktion der Lehrpläne in NRW, und um Freiräume zu beschneiden.
Früher ließen Schulen und Hochschulen den Schülern und Studierenden mehr Zeit, um sich die wirklichen Bildungserlebnisse selbst zu organisieren. Sie ließen Freiräume für Exkursionen, Arbeitsgemeinschaften, für selbst organisierte Projekte, für die Kritik der gebotenen Lehrinhalte. Sie waren das Feld, in dem sich Beziehungen zwischen Schülern und mit den Lehrern entwickeln konnten – das waren die wirklichen Bildungserlebnisse. Von der heutigen Generation der Lehrenden, der Schüler und Studenten ist schon mehr Schläue gefragt, um die rigideren Regeln zu unterlaufen. Und die bisherigen Erfahrungen, etwa mit den bolognisierten Studium zeigen, dass sich die Erwartungen nicht erfüllen, dass nun Studierende in kürzerer Zeit zu normierten Zielen geführt werden und dass das auf „Employability“ getrimmte Studium eine bessere Anbindung an das Beschäftigungssystem brächte. Abbrecherquoten steigen sogar, gerade in den berufsorientierten Ingenieurstudiengängen. So ohne weiteres lassen sich junge Menschen auch heute nicht normieren. Viele von ihnen nutzen auch die neoliberal reformierten Institutionen als Gerüst, um sich weiter ihre eigenen Bildungserlebnisse zu verschaffen. Auch die neoliberalen Reformen werden von lebendigen Menschen unterlaufen, die in „reformierten“ Institutionen noch ihren eigenen Weg zur Bildung finden.
[1] Jochen Krautz, Ware Bildung. Schule und Universität unter dem Diktat der Ökonomie, München 2007
[2] Konrad Paul Liessmann, Theorie der Unbildung. Die Irrtümer der Wissensgesellschaft, Wien 2006
[3] Krautz, S. 47.
[4] Ebd., S. 52.
[5] Ebd., S. 47f.
[6] Ebd.
[7] Ebd., S. 71.
[8] Ebd., S. 70f: „Sie war auf solides Wissen, auf grundlegende Bildung für eine Tätigkeit in einem handwerklich-technischen Beruf ausgerichtet. Sie vermittelte solide Grundlagen..., (damit) Schüler ihr Leben verantwortlicher bewältigen konnten...“