Man kann die Bewegung von 1968 ideologisch auf unterschiedliche Weise entsorgen. Man kann sie, um nur einige Varianten zu erwähnen, als Scheitern einer von der Wirklichkeit abgekoppelten sektenhaften politischen Subkultur abhaken, als Vorschule des Terrorismus entlarven oder mit den Prügelaktionen der Nazi-Studenten während der Machtübernahme durch Hitler über einen Leisten schlagen. Die diskurspolitische Funktion dieser Varianten ist immer dieselbe. 1968 soll als etwas, was an die Möglichkeit erinnert, dass die Welt auch grundsätzlich anders aussehen könnte als sie ist, ein für allemal aus dem kollektiven Gedächtnis ausradiert werden.
Wer beerbt 1968?
Einen neuen Versuch, „1968“[1] zu entsorgen, hat jetzt der französische Philosoph André Glucksmann gemeinsam mit seinem Sohn Raphaël, einem 1979 geborenen Journalisten, in dem oben genannten Buch unternommen.
Wie nicht wenige Intellektuelle, die sich heute zu unerbittlichen Richtern über 1968 und seine angeblich so entsetzlichen Folgen berufen fühlen und alle Übel der Welt dem unheilvollen Treiben der 68er in die Schuhe schieben, kann auch André Glucksmann auf eine imposante Biographie als militanter Ultralinker eben jener Zeit zurückblicken, die heute wieder am Pranger der öffentlichen Diskussion steht. Glucksmann, der 1937 als Sohn jüdisch-österreichischer Emigranten geboren und dessen Vater von den Nazis umgebracht wurde, schloss sich zunächst dem kommunistischen Studentenverband UEC an, nahm an Seminaren des berühmten Soziologen Raymond Aron teil, arbeitete an der linken Zeitschrift „Action“ mit und war in der Studentenbewegung von 1968 aktiv, ehe er in die im gleichen Jahr gegründete maoistische Organisation „Gauche Prolétarienne“ („Proletarische Linke“) eintrat. Als führendes Mitglied dieser Organisation hatte er auch Kontakt zu Jean-Paul Sartre, der Anfang der siebziger Jahre mit dem Maoismus sympathisierte und sich gemeinsam mit Simone de Beauvoir für die verbotene maoistische Zeitung „La cause du peuple“ („Die Sache des Volkes“) engagierte.[2] Nach seinem maoistischen Abenteuer, das ihm nicht die erhoffte Karriere als Star einer revolutionären intellektuellen Elite verschafft hatte, brach er nicht nur mit seinen bisherigen ultralinken Auffassungen, sondern mit jedem links zu verortendem Denken überhaupt. Sein offensichtlich unwiderstehliches Bedürfnis, in der Gesellschaft eine bewunderte Rolle zu spielen und ständig im Rampenlicht der Öffentlichkeit zu stehen, konnte er nun befriedigen, indem er seit Mitte der siebziger Jahre als einer der Protagonisten der sogenannten „neuen Philosophie“ („nouvelle philosophie“)[3] die Aufmerksamkeit auf sich zog. Die „neuen Philosophen“ sahen ihre vorrangige Aufgabe darin, gestützt auf totalitarismustheoretische Prämissen, den Marxismus zu diskreditieren. Im Präsidentschaftswahlkampf 2007 engagierte sich Glucksmann dann öffentlich für den späteren Sieger Nicolas Sarkozy.[4] Der heutige Präsident ist auch der Adressat des Buches, auf das ich im Folgenden einen kritischen Blick werfen möchte. Wie lässt sich der verblüffende Zusammenhang zwischen 1968 und Sarkozy erklären? Die Antwort ergibt sich aus einer bizarren These: Sarkozy und kein anderer ist der authentische Erbe des Geistes von 1968. Dieser Geist besteht nach Auffassung von André und Raphaël Glucksmann im Wesentlichen in der Entschlossenheit, mit erstarrten Konventionen, eingeschliffenen Denkstereotypen und verknöcherten institutionellen Reglementierungen zu brechen, die alten Zöpfe unbekümmert abzuschneiden und der schöpferischen Phantasie freien Lauf zu lassen.
Mit dieser Charakterisierung des Mai 68 spielen sie auf eine Rede von Nicolas Sarkozy im Präsidentschaftswahlkampf 2007 an, in der er wörtlich dazu aufgefordert hatte, „das Erbe von 1968 zu liquidieren“.[5] Wie aber ist die Paradoxie eines gleichzeitigen Bekenntnisses sowohl zu 1968 als auch zu Sarkozy möglich? Das Wunder ihrer Auflösung bringen die beiden Autoren dadurch zustande, dass sie, ohne auf die gegensätzlichen politischen Inhalte des Einen wie des Anderen Rücksicht zu nehmen, sowohl in der Bewegung von 1968 als auch im Diskurs von Sarkozy einen identischen Willen zum Aufbruch entdecken. Gleichgültig gegen die Frage, worum es den rebellierenden Studenten und dann den Millionen Streikenden, den Parteien, Gewerkschaften und Intellektuellen 1968 ging und worum es Sarkozy heute geht, fixieren sie sich auf die Ebene der symbolischen Repräsentation und Phänomenologie von 1968, die sie im aktivistischen Habitus von Sarkozy wiederzufinden glauben. Ihr Vorliebe gilt ausschließlich den mehr oder weniger geistreichen Losungen, die 1968 die Mauern der Sorbonne zierten, den spontanen studentischen Aktionen gegen das Establishment, dem Erproben neuer Lebensformen und den Regelverletzungen innerhalb und außerhalb des Campus.[6]
2. Das Feindbild
Den eigentlichen Feind des schöpferischen Aufbruchs von 1968 sehen André und Raphaël Glucksmann nicht in den Akteuren und Institutionen der herrschenden Klasse und deren politischen Alliierten, sondern in der Linken der Nach-68er-Generation, den „post-soixantes huitards“ (29). Ihre Polemik richtet sich deshalb gegen die 1970 erneuerte Sozialistische Partei (Parti Socialiste, PS), dann gegen das gemeinsame Regierungsprogramm („programme commun“) der beiden großen Linksparteien, also der Sozialistischen und der Kommunistischen Partei (PCF) im Jahr 1972[7] sowie gegen die gesamte Ära Mitterand (1981- 1995). Ihr werden alle nur erdenklichen Makel und Vergehen zugerechnet, vor allem aber ihre ideologische Permissivität gegenüber der Kommunistischen Partei vorgeworfen. Das Etikett der „post-soixantes huitards“ umfasst aber nicht nur das politische Spektrum der Sozialistischen Partei und des PCF, sondern auch die Anhänger ultralinker Organisationen und schließlich Intellektuelle wie Jean-Paul Sartre oder Régis Debray.[8] Sie alle fallen unter das Verdikt, die Botschaft vom Mai 1968 pervertiert und sich zu Komplizen verbrecherischer Regime und des Terrors gemacht zu haben. Insbesondere werfen Glucksmann/Glucksmann der Staatsführung unter Mitterand vor, für den Völkermord an der Bevölkerungsgruppe der Tutsi in Ruanda 1994 mitverantwortlich gewesen zu sein. Auch wenn dieser gegen die Präsidentschaft Mitterands gerichtete Vorwurf im Falle Ruandas durchaus berechtigt sein mag, rechtfertigt er keineswegs auch schon eine pauschale, das gesamte Buch prägende Diffamierung „der Linken“ als willige Vollstreckerin von Genoziden, Befürworterin stalinistischer Verbrechen und Saboteur jeder gesellschaftlichen Modernisierung. Mit ihrem Verständnis von „der Linken“ und von dem, was „links“ inhaltlich bedeutet, praktizieren André und Raphaël Glucksmann eine Art intellektueller Sippenhaft. Ungeachtet der jeweiligen konkreten politisch-historischen Kontexte, programmatischen Unterschiede, Ziele, Aktionsformen und inneren Differenzierungen werden PS, PCF, Trotzkisten, Ultralinke, Gewerkschaften, soziale Bewegungen, Grüne und Intellektuelle unter das pauschalierende Etikett „der Linken“ subsumiert und unter Generalverdacht gestellt. Gleichzeitig wenden sich die beiden Autoren gelegentlich auch gegen den Gaullismus und Neogaullismus, die sie ebenfalls als Feinde des Geistes von 1968 anprangern. Den Subtext ihrer Überlegungen bildet dabei durchgängig das ideologische Muster der Totalitarismustheorie. Ausgenommen von dem vernichtenden Urteil über die Linke werden Politiker wie Michel Rocard. Auf der einen Seite also François Mitterand, der ehemalige Mitarbeiter des faschistischen Vichy-Regimes und napoleonische Machtmensch[9], der mit den Stalinisten des PCF paktierte und den Völkermord in Ruanda zuließ, auf der anderen Seite der edle Michel Rocard, der sich neben anderen Vorzügen auch dadurch auszeichnete, dass er mit ehemals linken Intellektuellen wie Claude Lefort, Edgar Morin, Pierre Clastres und – last but not least – natürlich auch André Glucksmann sympathisierte (52). Aber war Rocard tatsächlich das leuchtende Beispiel einer Linken, die diese Namen auch verdient? Korrekturen der Idealisierung Rocards sind durchaus angebracht. So trat Rocard, Vorsitzender der kleinen Partei PSU (Parti Socialiste Unifié = Vereinigte Sozialistische Partei)[10], die im Mai 68 mit der antiautoritären Strömung der Studentenbewegung Tuchfühlung hatte, 1974 zum PS Mitterands über und unterstützte dessen Wahlkampagne im Präsidentschaftswahlkampf des gleichen Jahres. Er avancierte dann zu einem der prominentesten Mitglieder dieser Partei und wurde 1988, also zu Beginn der zweiten Amtsperiode von Mitterand als Staatspräsident, zum Premierminister (1988 – 1991) ernannt. Rocard zeichnete sich durch einen dezidierten Antikommunismus aus, war ein erbitterter Gegner des „programme commun“, lehnte die von diesem Programm vorgesehenen Nationalisierungen großer Industrieunternehmen und Banken ab und unternahm erste Schritte zum Abbau des Sozialstaats. So gesehen erstaunt es dann kaum, dass André und Raphaël Glucksmann diesen Politiker als Verkörperung einer „Linken“ nach ihrem Geschmack feiern. Mit einer „Linken“, die nicht nur auf Eingriffe in die Macht des Kapitals verzichtet, sondern auch, wie Rocard es getan hat, ausdrücklich den Kapitalismus als das Wirtschaftssystem bezeichnet, das ein Höchstmaß an Freiheit garantiere, können sogar André und Raphaël Glucksmann gut leben.[11]
3. Nach-68er und die „philosophische Revolution“
Ihre daran anschließende Argumentation beruht im Wesentlichen auf der Behauptung eines scharfen Kontrasts zwischen der Proteststimmung von 1968 zum einen und ihrer angeblichen Deformation und Pervertierung durch die folgende Generation zum anderen. Letztere wird mal als Post-68er, mal als „Generation AIDS“ („génération sida“) und mal als „Lib-lib“ (45)[12] bezeichnet. Die Post-68er haben in den Augen der Autoren nicht nur die seinerzeit auf Daniel Cohn-Bendit gemünzte emanzipatorische Losung „Wir sind alle deutsche Juden“ verraten, indem sie sich von den Schrecken der Welt narzisstisch auf sich selbst zurückzogen, sondern darüber hinaus sogar die durch 1968 erschütterten gaullistischen Herrschaftsstrukturen wieder stabilisiert und gleichzeitig mit der das sowjetische Gulag-System billigenden „kommunistischen Gegengesellschaft“ („contre-société communiste“, 62) kokettiert.
In diesem Zusammenhang wenden sich André und Raphaël Glucksmann gleichzeitig wütend gegen diejenigen Intellektuellen, die, wie zum Beispiel Régis Debray, die problematischen Folgen antiautoritärer, libertärer und eine „anything goes“-Mentalität verbreitender Tendenzen in der Bewegung von 1968 zur Sprache gebracht haben. Régis Debray war einer der ersten Intellektuellen, die sich mit der verhängnisvollen Vermarktung dieser Tendenzen durch die Medien und der damit einhergehenden Adjustierung des kollektiven Bewusstseins an die Gesetze des Marktes kritisch auseinander setzten.[13] Das wird ihm von André und Raphaël Glucksmann als kultureller Defätismus und Modernisierungsfeindlichkeit, als sogenannte „Bo-bo“-Attitüde angekreidet, wobei damit nicht etwa, wie man vermuten könnte, die in den USA als „bo-bo“ bezeichneten „Bourgeois-Boheme“, also die über Geld verfügenden Anhänger der „Erlebnisgesellschaft“ gemeint sind, sondern die Verfechter eines intellektuellen „Bolscho-Bonarpartismus“. Es handelt sich bei diesem von den Autoren erfundenen Neologismus um die Etikettierung von Intellektuellen, die sich dem neoliberalen Zeitgeist nicht anpassen wollen, dafür von André und Raphaël Glucksmann jedoch eines sterilen Konservatismus und einer Blockadehaltung gegenüber den Erfordernissen der gesellschaftlichen und politischen Erneuerung beschuldigt werden. Debray zeichne ein total schiefes Bild der französischen Gegenwartsgesellschaft; denn nicht Libertinage, Jugendkult und konsumistischer Hedonismus dominierten die Szene, sondern ein von der Linken zu verantwortender Bürokratismus, Apathie, Zukunftsneurosen und „Vertikalität“ („verticalité“, 71), also hierarchische Verhältnisse und Subalternität. Die Gegenwart hat, so glauben Vater und Sohn, das Erbe von 68, den Geist des Aufbruchs und der Erneuerung, verspielt, und statt dessen einen Zustand der Passivität, der Larmoyanz und der Akzeptanz eines „archaischen Staates“ (75) aufrecht erhalten. Der Hinweis auf einen „archaischen Staat“ enthält – zumindest implizit – einen Seitenhieb gegen sozialstaatliche Regulierungen, deren Abbau André und Raphaël Glucksmann vom neuen Präsidenten nicht zu Unrecht erhoffen dürfen. Sie fordern von ihm deshalb auch nicht weniger als die Fortsetzung einer „Revolution“, die 1968 begonnen habe, dann aber durch die etatistisch-autoritäre Politik des Neogaullismus und der Linken in den folgenden Dekaden unterbrochen worden sei. An was für eine Revolution denken sie dabei? Es geht ihnen nicht um tief greifende Veränderungen der Gesellschaft, eine Eindämmung oder gar Entmachtung des heutigen Finanzkapitalismus, die Errichtung einer Demokratie, auf die Konzerne und Medien keinen beherrschenden Einfluss mehr haben, oder um die Revolutionierung einer Kultur, die von Einschaltquoten und den Interessen privater Investoren abhängig ist. Nein, André Glucksmann, der das dritte Kapitel und damit den weitaus größten Teil des Buches allein verfasst hat, plädiert für die „Revolution der Geister“ („la révolution des esprits“, 87), die mit dem Alten, Passiven und Beharrenden radikal aufräumt. Da er aber nicht danach fragt, welche konkreten sozialen und politischen Inhalte mit dieser „Revolution“ verbunden sind, kann er sie mühelos mit Sarkozys Attitüde des politischen Draufgängers, Antitraditionalisten und Tabubrechers identifizieren. Nicolas Sarkozy, der Intimfreund der Großbourgeoisie, der Gegner des Gesetzes zur 35-Stundenwoche und der noch bestehenden sozialen Sicherungssysteme, der Propagandist des Wettbewerbsstaats und Verfechter autoritärer Lösungen der in den sozialen Brennpunkten aufbrechenden Gewalttätigkeiten, mutiert in der Wahrnehmung von André Glucksmann zum echten Revolutionär und damit zum authentischen Erben der Ideen von 1968.[14] Es verwundert deshalb kaum, dass er retrospektiv einen Gegensatz zwischen der Bewegung von 1968 einerseits und einer von ihm konstruierten Allianz von PCF, dem ihm seinerzeit nahe stehenden Gewerkschaftsverband CGT und gaullistischem Staatsapparat („die Achse KP-de Gaulle“, 32) andererseits behauptet. Damit übernimmt er aber dasselbe Interpretationsmuster, dessen sich bereits 1968 die Akteure der Ultralinken, der „gauchistes“, zu deren Prominenz er ja selbst zählte, bedienten, um Politik und Praxis der Kommunistischen Partei und der CGT zu „entlarven“, obwohl es gerade diese Organisationen waren, durch die sich die große Mehrheit der kapitalismuskritisch eingestellten, kampferfahrenen und konfliktbereiten Arbeiter und Angestellten repräsentiert fühlte und die das gaullistische Regime und die bürgerliche Rechte deshalb mit gutem Grund als ihren eigentlichen Hauptgegner fürchteten.[15] Mit der Gleichsetzung von PCF und Gaullismus widerspricht Glucksmann nicht nur allen historisch-politischen Tatsachen, die den Antagonismus dieser beiden Kräfte beweisen, sondern auch sich selbst, da er ja, über die Feststellung eines politischen Gegnerverhältnisses zwischen Gaullismus und PCF noch hinausgehend, selbst die Existenz einer „kommunistischen Gegengesellschaft“ und damit eines seinerzeit tief in den sozialen Beziehungen, der Lebensweise und Kultur der französischen Gesellschaft verankerten Widerspruchs zwischen dem bürgerlichen Lager und dem durch die Kommunistische Partei repräsentierten Lager der Arbeiterklasse und der Arbeiterbewegung eingeräumt hat.
André Glucksmann gibt sich gern als getäuschter und enttäuschter Weggefährte der Linken, der sich nach einer Linken sehnt, die allerdings so wäre wie – Sarkozy. Er will dieser Sehnsucht zusätzlich Ausdruck verleihen, indem er die Studentenbewegung von 1968 nicht nur allgemein als geistige Revolution, sondern auch in einem spezifischen Sinn als „philosophische Revolution“ („révolution philosophique“, 106) versteht, die in Sarkozy ihre politische Verkörperung finden soll. Was will Glucksmann damit genau sagen? Er zielt auf eine Denkweise ab, die den krisenhaften Übergang einer tausendjährigen bäuerlichen Zivilisation („une civilisation paysanne millénaire“) zu einem Zustand moderner Entwurzelung („déracinement“) und „Unruhe“ („inquiétude“) artikuliert. Er will damit hervorheben, dass Frankreich erst mit und durch 1968 an der Schwelle zur Modernität angekommen sei, aber noch immer durch die Gralshüter der Vergangenheit daran gehindert werde, diese Modernität endgültig triumphieren zu lassen. Wie schon an mehreren Stellen zuvor greift er auf die philosophische Autorität von Sokrates zurück, um seinem Gedanken Gewicht zu verleihen; denn Sokrates habe der „Unruhe“, dem Aufbegehren und Bestreben der athenischen Jugend philosophisch Ausdruck gegeben, die Grenzen der Welt der älteren, etablierten Generation zu überschreiten und die Mauern ihrer Normen und Werte nieder zu reißen. Dass Sokrates’ Philosophie als „Demoralisierung der Jugend“ (107) empfunden und mit der Verurteilung zum Tode sanktioniert worden sei, verweise auf eine Situation, die sich im Prinzip historisch immer dann wiederhole, wenn eine Gesellschaft durch das Hereinbrechen einer fundamental neuen Lebensweise unvermeidlich mit moralischen Transgressionen konfrontiert werde.
4. „Postmoderner Marxismus“ als intellektuelles Verhängnis
Welche Schlüsse zieht Glucksmann daraus für die Funktion der Philosophie in der Gegenwart? Die Philosophie solle sich unbedingt normativer Setzungen enthalten und darauf verzichten, den Menschen vorzuschreiben, wie sie zu leben hätten. Stattdessen solle sie als Vektor geistiger Unruhe fungieren und im Sinne von Immanuel Kant als – so wörtlich – „Kampfplatz“ (108) betrachtet werden.
Der eigentliche Kern dieser Botschaft besteht in der Instrumentalisierung der Philosophie für eine neoliberale Politik, die mit den bisherigen sozialstaatlichen Aktivitäten und Strukturen tabula rasa macht und die Menschen dazu antreibt, sich ohne Atempause und rücksichtslos gegen andere und sich selbst als Unternehmer ihres eigenen Lebens zu verausgaben. Der experimentier- und risikofreudige, sozial indifferente, in seinem Handeln nur auf sich selbst gepolte Juppie des Mittelklassenmilieus ist, auch wenn das nicht direkt so gesagt wird, der eigentliche und privilegierte Adressat und zugleich die Verkörperung der von Glucksmann gepredigten „philosophischen Revolution“. Sie richtet sich indes nicht nur gegen die politische Linke, die Gewerkschaften und sozialen Bewegungen, sondern überraschender Weise auch gegen Vertreter des postmodernen philosophischen Denkens, von denen man annehmen könnte, dass Glucksmann gerade ihnen nahe steht. Aber Glucksmann betrachtet die philosophische Postmoderne insofern als legitime Nachfolgerin des ihm verhassten Marxismus, als sie zwar nicht mehr auf die proletarische Aktion und das Paradies der Werktätigen setze, aber in ihrem Abscheu gegen die heutige Gesellschaft, gegen „das System“, der marxistischen Kritik verhaftet bleibe. Mit anderen Worten: postmoderne Philosophen – er nennt namentlich Jean-François Lyotard, Gilles Deleuze, Felix Guattari und Jacques Derrida – sind nach Glucksmanns Auffassung Verfechter eines resignativen, sich im Bunker der Gesellschaftskritik verschanzenden Marxismus. Diese abstruse Interpretation postmodernen philosophischen Denkens[16] fasst Glucksmann in folgende Worte: „Der postmoderne Marxismus gibt, mal mit großem Getöse (Lyotard), mal ohne dass es so aussieht (Deleuze und Guattari) die Beschwörung des sozialistischen Paradieses auf. Bleibt der Feind: ein abscheuliches ‘System’, das als etwas betrachtet wird, das den Planeten aussaugt und ebenso das Verhalten wie die Hirne der Zeitgenossen zynisch regiert.“ (112, Übersetzung L.P.). Unabhängig davon, wie die einzelnen, von Glucksmann erwähnten Postmodernen philosophisch und politisch zu beurteilen sind, entbehrt die von ihm unterstellte Kontinuität von Marxismus und postmoderner Philosophie schon jeder gemeinsamen epistemologischen Grundlage: der Marxismus ist materialistisch, historisch und systemisch. Für ihn basiert Vergesellschaftung wesentlich auf Arbeit, die wiederum eine objektive Voraussetzung des geschichtlichen Fortschritts darstellt. Dagegen ist postmodernes Denken nicht-materialistisch, unhistorisch und antisystemisch. Es ersetzt Vergesellschaftung durch Arbeit durch kommunikative, zeichengebundene Akte von „Sprachspielen“ und verwirft die Idee des Fortschritts als Relikt der zu dekonstruierenden „großen Metaerzählungen“.
5. Erlösung durch die „neue Philosophie“
Hält Glucksmann einerseits das postmoderne Denken für die zwangsläufige Fortsetzung des Marxismus, so besteht er andererseits auf einer strikten Grenzziehung zwischen Postmoderne und jener „nouvelle philosphie“, als deren Protagonist er neben Bernard-Henry Lévy, Alain Finkielkraut, Christian Jambet (auch ein ehemaliger Maoist), Maurice Clavel u.a. während der siebziger Jahre reüssierte. Obwohl es philosophisch gesehen durchaus Berührungspunkte zwischen Postmoderne und den „nouveaux philosophes“ (de „neuen Philosophen“) gibt (etwa hinsichtlich der Kritik am Vernunftbegriff der Aufklärung oder an einer Teleologie der Geschichte), insistiert Glucksmann auf ihrer Unvereinbarkeit. Der Grund dafür ist politisch motiviert. Da er selbst ein bellizistisches Menschenrechtsverständnis vertritt, wie zum Beispiel seine rückhaltlose Bejahung der militärischen Intervention des Westens in Afghanistan, der NATO-Bombardierung Serbiens oder des Irakkriegs der USA und ihrer Vasallen beweist[17], missfällt ihm der den Postmodernen unterstellte Pazifismus (126). Er verachtet ihn als Ausdruck einer moralischen Ambivalenz und eines politischen Defätismus insofern, als die Vertreter der philosophischen Postmoderne – die Existenz eines „Unentscheidbaren“, eines „indécidable“ (so der Begriff von Jacques Derrida) anerkennend – Verletzungen der Menschenrechte billigend in Kauf nähmen. Wie wenig dieser haarsträubende Vorwurf aber tatsächlich auf Derrida zutrifft, den Glucksmann besonders im Visier hat, zeigt schon allein die Tatsache, dass sich Derrida nicht nur gegen den Krieg im Irak, eine der wohl massivsten Verletzungen des Völkerrechts und der Menschenrechte im beginnenden 21. Jahrhundert wandte, sondern auch für die Entstehung einer „neuen Internationale“ eintrat, auf deren Agenda unter anderem der weltweite Kampf gegen Arbeitslosigkeit, Atomwaffen und internationale Mafia-Strukturen sowie für die Institutionalisierung universaler Rechtsnormen stehen sollte.[18] Wenn Derrida von „Unentscheidbarkeit“ spricht, macht er sich nicht zum Propagandisten moralischer Indifferenz, sondern versucht ins Bewusstsein zu rufen, dass sich das, was entschieden wird, niemals auf den Akteur der Entscheidung beschränkt und immer „den Anderen“, auf den sich die Entscheidung bezieht, mit einschließt.[19] Das alles übergeht Glucksmann, weil es nicht in sein Konzept passt, und er, würde er es zur Kenntnis nehmen, dann seine These aufgeben müsste, dass der „postmoderne Marxismus“ und die Linke den Geist von 1968 in eine Ideologie des moralischen Relativismus und der Passivität gegenüber den Verbrechen gegen die Menschlichkeit verwandelt hätten (130). Stattdessen geht er in seiner Polemik noch einen Schritt weiter, indem er einen kausalen Zusammenhang zwischen den politischen Diskursen der Linken einerseits und einer allgemeinen nihilistischen Regression andererseits behauptet: „Die Linken und die Ultralinken haben das Buch des totalitären Terrorismus zu schnell wieder zugeschlagen. Mit einer exzessiven Naivität nahm man an, um anständig zu bleiben, dass, nachdem die jakobinischen und bolschewistischen Prinzipien einmal ausgerottet waren, die verheerende Wut sich selbst ersticken würde. Die ‘absolute Negativität’ weicht nicht so leicht vom Platz.“ (163) Die Bereitschaft der Linken, die „absolute Negativität“ des Terrors zu leugnen, bezeichnet Glucksmann als Nihilismus: „Der Nihilist umschifft die Klippe. Er sagt und er sagt sich: es gibt kein Übel. Sein ‘alles ist erlaubt’ beruft sich nicht auf die Relativität des Guten, sondern auf die Nichtexistenz des Schlechten. Das ändert alles.“ (164/165, Übersetzung L.P) Die teilweise schwer nachvollziehbare, mit Assoziationen gespickte und sprunghafte Argumentation läuft auf folgendes Verdammungsurteil hinaus: Die Linke ist blind für Terrorismus, Völkermord und Unterdrückung der Freiheit. Sie will nicht wahrhaben, dass sich hinter Marx in Wirklichkeit de Sade und das absolut Böse verbergen. Damit rechtfertigt sie aber letztlich das absolut Böse.
6. Es geht um Sarkozy, nicht um 68
Dass Millionen Menschen gegen den Irakkrieg protestierten, Hunderttausende an den Weltsozialforen teilnahmen und soziale Bewegungen weltweit gegen Hunger, Vertreibung, Vergewaltigung und Terror kämpfen und dass das überall auch unter Beteiligung von Akteuren und Organisationen der Linken geschah und geschieht, wird von Glucksmann kategorisch ausgeblendet. Nur so kann er verhindern, dass sein Kreuzzug gegen die Linke den Schein der Glaubwürdigkeit verliert und seine ganze ideologische Konstruktion wie ein Kartenhaus zusammen fällt.
Wenn man sich die eigentliche Zielsetzung von Glucksmann vor Augen führt, nämlich sowohl dem, was er für links hält, eine Komplizenschaft mit allen Schrecken der Welt zuzuschreiben, als auch einer Politik zur Hegemonie zu verhelfen, die mit den Vorstellungen der Linken gnadenlos aufräumt, dann ist sein Buch (und das seines Sohnes) eigentlich gar kein Buch über 1968, sondern ein Buch für Sarkozy. Gerade er scheint für den glühenden Ex-Maoisten Glucksmann[20] die geeignete Figur zu sein, um diese hegemoniale Mission zu erfüllen. Dabei sekundiert der Sohn dem Herrn Papa aufs Allererfreulichste. So endet denn auch das Buch mit einem von Glucksmann junior verfassten (fiktiven) Brief an den neuen, „revolutionären“ Staatspräsidenten. Noch einmal wiederholt der Sohn, was der Vater schon zur Genüge ausgebreitet hat: Frankreich sei in einem politischen und geistigen Immobilismus gefangen, die Linke verschreibe sich weiter der Staatsgläubigkeit, dem Traditionalismus, der hölzernen Programmatik und der Kumpanei mit Terror und Menschenrechtsverletzung. Nun komme es darauf an, den subversiven Geist von 1968 wieder zu beleben und kühn zu neuen Ufern aufzubrechen. In der Sportlichkeit des neuen Präsidenten sieht Glucksmann junior ein viel versprechendes Signal dafür, den Schutt der Vergangenheit zu beseitigen und Frankreich einen neuen Mai 1968 zu bescheren – nur dieses Mal unter neoliberalem Vorzeichen. Die letzten Worte des Buches lauten deshalb: „Jogg schnell, Genosse Präsident, die alte Welt liegt hinter dir“ (233).
7. Schlussbemerkung
Vergleicht man das Buch von André und Raphaël Glucksmann zum Beispiel mit dem kürzlich unter dem zwielichtigen Titel „Unser Kampf 1968“ erschienenen Buch des Historikers Götz Aly[21], so erhält man oberflächlich den Eindruck, als würden beide Bücher die Bewegung von 1968 sehr unterschiedlich, wenn nicht sogar gegensätzlich beurteilen. Aber der Schein trügt. In ihrer ideologischen Essenz sind beide Bücher vielmehr identisch. Weder Aly noch André und Raphaël Glucksmann arbeiten die tatsächliche Vielschichtigkeit, die Widersprüche und Grenzen, aber auch die große produktive Bedeutung von 1968 für gesellschaftliche Fortschritte und Reformen heraus. Im damaligen Westdeutschland stieß die Bewegung von 68 unmittelbar und mittelbar einen vielschichtigen Reform- und Demokratisierungsprozess an. Das gilt für eine intensivere Auseinandersetzung mit der Nazi-Vergangenheit, für den Aufschwung der Frauenbewegung, Reformen des Straf- und Familienrechts, die Kritik an autoritären Erziehungsstilen, für eine Politisierung der Arbeiterklasse und eine neue Diskussion über Mitbestimmung und Partizipation, ein verändertes Wissenschaftsverständnis und eine Wiederbelebung der Kapitalismuskritik, die Öffnung des höheren Bildungssystems für die unteren Klassen, aber auch für Impulse der Außenpolitik („neue Ostpolitik“) usw. usw.[22] Dagegen war der Terrorismus nur ein Zerfallsprodukt der 68er-Bewegung. Dass die damalige westdeutsche Bundesrepublik überhaupt erst durch 1968 Anschluss an Prozesse einer demokratischen Modernisierung fand und Frankreich seinen bis dahin unangefochten dominierenden Staatsautoritarismus hinter sich lassen konnte, um mit dem Gemeinsamen Regierungsprogramm der Linksunion 1971 den Weg für ein Projekt der politischen Alternative zum modernen Kapitalismus zu öffnen, wie es das bisher in Westeuropa noch nicht gegeben hatte, das zu sehen und zu benennen zeigen sich die genannten Autoren weder fähig noch willens. Ihre Ignoranz und Verblendung ist aber insofern nur folgerichtig, als es ja in beiden Fällen letztlich darum geht, 1968 politisch zu entkernen und ideologisch zu entsorgen. Im Fall von Götz Aly geschieht das durch eine ebenso abstruse wie infame Gleichsetzung von 1968 mit den prügelnden Jungnazis von 1933 und im Fall von André und Raphaël Glucksmann dadurch, dass der „französische Mai“ für den Sieg der neoliberalen Hegemonie in Gestalt des Nicolas Sarkozy missbraucht wird.
[1] Zur Entwicklung der Studentenbewegung 1968 in Frankreich und ihrer Ausdifferenzierung vgl. sehr materialreich und informativ, wenn auch in der Deutung teilweise diskutabel Ingrid Gilcher-Holtey:“ Die Phantasie an die Macht. Mai 68 in Frankreich, Frankfurt am Main 1995.
[2] Vgl. zum Beispiel das gemeinsame Interview von Jean-Paul Sartre und André Glucksmann aus dem Jahr 1970 unter der Überschrift „Bürgerkrieg in Frankreich?“ in Jean-Paul Sartre: Plädoyer für die Intellektuellen. Interviews, Artikel, Reden 1950 - 1973, Reinbek bei Hamburg, S.714-732.
[3] Die „Neue Philosophie“ bzw. die „neuen Philosophen“ („nouveaux philosophes“) bekämpften den Marxismus als ihren Hauptfeind. Sie gaben sich antitotalitär, fortschrittsskeptisch, antipazifistisch und anti-etatistisch. Ihr Einfluss begann Anfang/Mitte der siebziger Jahre und hatte Mitte der achtziger Jahre seinen Höhepunkt überschritten. Bekannte Vertreter dieser philosophischen Richtung waren neben André Glucksmann vor allem Bernard-Henri Lévy, Alain Finkielkraut und Maurice Clavel. (Vgl. Günther Schiwy: Poststrukturalismus und „Neue Philosophen“, Reinbek bei Hamburg 1985)
[4] Vgl. dazu meinen Beitrag: Von der „Proletarischen Linken“ zu Sarkozy? Intellektuelle, Medien und Präsidentschaftswahlen in Frankreich. In: Z 70, Juni 2007, S.22-35.
[5] André Glucksmann/Raphaël Glucksmann: Mai 68..., a.a.O., S.15.
[6] Vgl. Ingrid Gilcher-Holtey: „Die Phantasie an die Macht“...,a.a.O.
[7] Gemeinsames Regierungsprogramm der Französischen Kommunistischen Partei und der Sozialistischen Partei vom 27.Juni 1972. Einleitung von Georges Marchais, stellvertr. Generalsekretär der FKP, Frankfurt/Main 1972.
[8] Régis Debray, geb. 1940, studierte an der Eliteuniversität „École normale supérieure“ (ENS), war Mitstreiter von Che Guevara in Bolivien, wo er 1967-1971 im Gefängnis saß. Später arbeitete er u.a. als Berater von Staatspräsident Mitterand und nahm unterschiedliche Funktionen im Wissenschaftssystem wahr. Er gilt als der wichtigste Vertreter der Forschungsrichtung der Mediologie, die sich interdisziplinär mit den Bedingungen und Wirkungsweisen der Medien im kulturellen Wandel beschäftigt. Heute ist er Direktor des Europäischen Instituts für die Wissenschaft der Religionen in Paris.
[9] Dass François Mitterand aber bereits während seiner Tätigkeit in der Verwaltung (für die französischen Kriegsgefangenen) des Vichy-Regimes Verbindung zur Widerstandsbewegung („Résistance“) aufgenommen hatte, dann mit General Henri Giraud ein Widerstandsnetzwerk für aus der deutschen Kriegsgefangenschaft geflohene Franzosen aufbaute, von der Gestapo gesucht wurde, illegal nach London ging, um sich dort der Exilregierung de Gaulles anzuschließen, scheint den beiden Autoren aus durchsichtigen Gründen keiner Erwähnung wert zu sein.
[10] Der PSU entstand 1960 aus Dissidenten der damaligen großen sozialistischen Partei SFIO, christlichen Linken und ehemaligen PCF-Mitgliedern. Mit der Studentenbewegung von 1968 verband den PSU unter anderem das Thema der „autogestion“ („Selbstverwaltung“) in Betrieben und gesellschaftlichen Einrichtungen. Gegenüber dem Gemeinsamen Regierungsprogramm von PCF und PS verhielt sich der PSU ablehnend. Sein politischer Einfluss in der Linken war größer als es sich in seinen Wahlergebnissen niederschlug. 1974 schloss sich die Mehrheit der Partei dem PS an. Der Rest-PSU löste sich 1989 auf.
[11] Vgl. Michel Rocard: Le capitalisme éthique, un principe fragile, In: Le Monde, 10.Januar 2007.
[12] „lib-lib“ steht für „Libéraux-libertaires“ (etwa „Freie Libertäre“). So hatte angeblich Daniel Cohn-Bendit die Bewusstseinsverfassung der antiautoritären Strömung in der Studentenbewegung bezeichnet.
[13] Vgl. sein Buch „Voltaire verhaftet man nicht! Die Intellektuellen und die Macht in Frankreich“, Köln 1981. Debray beschreibt hier bereits wichtige Entstehungsbedingungen des sogenannten „Medienintellektuellen“, den heute u.a. André Glucksmann prototypisch verkörpert. „Medienintellektuelle“ definieren sich nicht mehr durch spezifische wissenschaftliche, künstlerische oder literarische Kompetenzen, sondern durch ihre mediale Performance. Was sie produzieren und wie sich dabei selbst inszenieren, ist abhängig vom Diktat der Medien, die ihrerseits wiederum von den Medienintellektuellen profitieren.
[14] Warum und wie es Nicolas Sarkozy gelang, 2007 einen überaus erfolgreichen Präsidentschaftswahlkampf zu führen, habe ich thesenhaft dargestellt in: Neoliberale Hegemonie in Frankreich. Wie wurde Sarkozys Wahlsieg möglich? Zehn Thesen. In: Z 71, September 2007, S.150-154. Zum Inhalt des neoliberalen Programms von Sarkozy und seinen Konsequenzen vgl. die Analyse von Joachim Bischoff/Elisabeth Gauthier: Sarkozy und die Hegemonie des Neoliberalismus. Supplement der Zeitschrift „Sozialismus“, Heft 12/2007.
[15] Zur Verankerung von PCF und CGT in der französischen Arbeiterklasse vgl. Laurent Salini: Frankreichs Arbeiter – Mai 1968, Frankfurt/Main 1970; Jacques Frémontier: Renault – die Arbeiterfestung, München 1975. Vgl. auch mein Buch: Klassenkämpfe in Frankreich heute, Frankfurt/Main 1972, insbesondere S. 65 – 94.
[16] Was im Allgemeinen in der Philosophie als Postmoderne bezeichnet wird, erweist sich bei genauerer Betrachtung jedoch als sehr heterogen, obwohl sich bei einigen Vertretern dieser Strömung auch Übereinstimmungen feststellen lassen. Der von André Glucksmann verwendete Begriff „postmoderner Marxismus“ ist allerdings abwegig und dient allein polemischen Zwecken.
[17] Zur Haltung von André Glucksmann und anderen Intellektuellen zum Problem des Terrorismus und seiner militärischen Bekämpfung vgl. meinen Beitrag: Die Intellektuellen, der Terrorismus und der Krieg. In: Z 50, Juni 2002, S.19-36.
[18] Vgl. Jacques Derrida: Marx’ Gespenster. Der Staat der Schuld, die Trauerarbeit und die neue Internationale (frz. Spectres de Marx, 1993), Frankfurt am Main 2004, insbesondere S. 115 – 134.
[19] Vgl. dazu sehr differenziert und ausführlich Stephan Moebius: Die Konstituierung des Anderen. Grundrisse einer poststrukturalistischen Sozialwissenschaft nach Lévinas und Derrida, Frankfurt/New York 2003, insbesondere das Kapitel über „hegemoniale Radikalisierungen“, S. 156-218. Moebius weist hier u.a. den Einfluss von Lévinas und Derrida auf das Konzept einer „radikalen Demokratie“ von Ernesto Laclau und Chantal Mouffe hin.
[20] Zwar verschweigt André Glucksmann seine maoistische Vergangenheit nicht, sondern gesteht, dass sie ihm noch heute die Schamesröte ins Gesicht treibt („me fait le rouge au front“, 118), aber bestimmte ideologische Stereotype aus dieser Zeit beherrschen nichtsdestoweniger auch sein heutiges Denken. Das gilt beispielsweise für die Abstraktheit und den Voluntarismus seines damals fanatischen und heute antitotalitären Revolutionsverständnisses. Dem entspricht heute außerdem ein Bekenntnis zur uneingeschränkten Liberalisierung der Märkte und eine demonstrative Gleichgültigkeit zum Beispiel gegen Dumpinglöhne und Standortverlagerungen, die er als Schwarzseherei der Linken abtut (vgl. seinen Artikel „Das Land der Europa-Nihilisten“ in „Die Welt“ vom 01.06.2005).
[21] Vgl. Götz Aly: Unser Kampf 1968 – ein irritierter Blick zurück, Frankfurt am Main 2008, insbesondere das Kapitel „Dreiunddreißiger und Achtundsechziger“, S. 169-184.
[22] Im Unterschied zu Götz Aly und anderen Autoren, die 1968 in der einen oder anderen Weise in Grund und Boden verdammen, weist Ingrid Gilcher-Holtey in ihrem lesenswerten Überblick über die 68er Bewegung zutreffend auf diese Funktion hin, ohne die problematischen Aspekte von 1968 zu verschweigen (vgl. Ingrid Gilcher-Holtey: Die 68er Bewegung. Deutschland – Westeuropa – USA, München 2001, insbesondere die S. 111-125).