Berichte

Freejazz statt Dixieland

40 Jahre 1968. Die letzte Schlacht gewinnen wir. Kongress von Die Linke.SDS und linksjugend [‚ solid], 2. – 4. Mai 2008, Berlin

Juni 2008

Auf der Wiese im Innenhof sitzen bei strahlendem Sonnenschein eine ganze Menge Studierende, essen in Volksküchen selbst zubereitete Mahlzeiten, lesen Pamphlete von revolutionären und noch revolutionäreren Klein- und Kleinstgruppen, diskutieren engagiert über Perspektiven gesellschaftlicher Umgestaltung, Fragen von Organisation, Gewalt und Demokratie, Strategien revolutionärer Situationen und kultureller Hegemonie. Vierzig Jahre nach der Besetzung der Sorbonne am 3. Mai 1968 – ein Auslöser des Proletarischen Mai in Frankreich – scheint die Humboldt-Universität in Berlin den Geist eines nie selbst erlebten 1968 wieder aufleben zu lassen.

Unter dem Banner der Parole „40 Jahre 1968 – Die letzte Schlacht gewinnen wir“ fand vom 2. bis 4. Mai ein Kongress der linksjugend [’solid] und des Studierendenverbandes DIE LINKE.SDS statt. Man wollte mit über 1500 Studierenden, AktivistInnen, SchülerInnen und Alt-68ern einen Gegendiskurs zu den auf jeder sich bietenden medialen Plattform postulierten Interpretationsschemata von 1968 als „irgendwie demokratisch“ oder „irgendwie autoritär“ initiieren.

Wenn man sich der Chiffre 1968 im Lichte eines linken Gegendiskurses nähern möchte, bleiben zwei mögliche Erkenntnisinteressen: ein Strategie-exzerpierendes und ein mobilisierendes. Beim ersten begreift man das Phänomen als historisch-spezifische Verdichtung von politischen Forderungen und Zielen. Hierbei steht die Frage nach einer konkreten historischen Analyse gesamtgesellschaftlicher Zusammenhänge wie etwa der fordistischen Kapitalismusformationen mit ihrem starken Integrationspotential und Konstellationen der Zivilgesellschaft vor dem Hintergrund der Restauration alter und autoritärer Eliten in der Nachkriegsgesellschaft sowie der globalen Entkolonialisierungsprozessen im Zeitalter von Neoimperialismus und verschärfter Systemkonkurrenz im Zentrum, um daraus damalige Strategien einschließlich ihrer Fehlentwicklungen zu kristallisieren und für eine neue Linke als relevante Inspiration nutzbar zu machen.

Beim zweiten steht der Charakter einer Protest kanalisierenden und exemplarischen Situation im Vordergrund. Indem man willkürlich einige gesellschaftliche Aspekte auswählt, versucht man, eine (künstliche) Vergleichbarkeit der damaligen und heutigen Gesellschaftsformation zu konstruieren, um 1968 als Schablone für gegenwärtige politische Auseinandersetzungen anzuwenden. Durch die Argumentation für die Notwendigkeit eines neuen 1968 als Ausgangspunkt einer radikalen Umgestaltung der Gesellschaft werden historische Zusammenhänge auf wenige charakteristische Allgemeinplätze reduziert, um so zu suggerieren, dass die Situation für eine erfolgreiche Revolte gegeben sei und nur noch die soziale Mobilisierung als Auslöser fehle.

Die Konzeption des Kongresses war durch einen breit gefächerten Kanon von Workshops, Diskussionen, Podien, kulturellen und aktionsorientierten Programmen gekennzeichnet. Dies sollte allen Teilnehmenden die Möglichkeit eines individuellen, auf verschiedenen Standpunkten basierenden Zugangs zur Thematik eröffnen. So wurden von grundlegenden Inhalten wie etwa „Die Veränderung des Kapitalismus von 1968 bis heute“ oder „Organisationsfrage damals und heute“ über spezifischere Aspekte beleuchtende Veranstaltungen (z.B. „Simone de Beauvoir und Clara Zetkin“ oder „Che Guevara und die kubanische Revolution“) bis hin zu kulturellen Angeboten, welche sich unter anderem mit den Fragen „Hat Kunst einen politischen Auftrag?“ oder „Mit Theater die Welt verändern? Das Theater Bertolt Brechts in bewegten Zeiten?“ beschäftigen, Zugangsmöglichkeiten für beide Erkenntnisansätze angeboten. Auch wurde einer Analyse von Schattenseiten Raum gegeben, um daraus Lehren zu ziehen und alternative Wege zu entwickeln. Einen festen Platz im Programm hatte deshalb auch die Konfrontation mit Helke Sanders Tomatenwurf und den patriarchalen Strukturen des historischen SDS oder das Scheitern des Marsches durch die Institutionen vieler ehemaliger AktivistInnen der Außerparlamentarischen Opposition.

Nicht zuletzt wurden auch zentrale Aspekte der Geschichte des historischen SDS intensiver beleuchtet. Begonnen bei der Entstehung der Neuen Linken Ende der 1950er Jahre und der damit verbundenen konstitutiven Rolle der linkssozialistischen Strömung für das Aufkommen der APO und der Verankerung des SDS in dieser, beschäftigte sich ein Workshop mit der Aktualität von Wolfgang Abendroth. Der Autor Richard Heigl referierte über die Einbettung des SDS in die Neue Linke und die Versuche Wolfgang Abendroths, der Studierendenbewegung zu vermitteln, dass man als eingreifender Intellektueller Wissenschaft in gesellschaftlicher Verantwortung und politische Aktivität an der Seite der Lohnabhängigen verbinden muss. Die Diskussion um das Konzept des eingreifenden Intellektuellen war mit Sicherheit charakteristisch für die Phase des historischen SDS vor dem Eintritt der Subversiven Aktion 1966 und kann ebenso zentral sein für den neuen Verband. Eng damit verbunden war das Streben nach breiten gesellschaftlichen Bündnissen als Kern der Politik des SDS vom Ende der 1950er Jahre an. Als Kulminationspunkt kann die Kampagne gegen die Notstandsgesetze, die in dem Sternmarsch auf Bonn 1968 ihren Höhepunkt fand, gesehen werden. Zu diesem Themenfeld referierte der ehemalige SDS Bundesvorsitzende Eberhard Dähne und wies dabei noch einmal anhand exemplarischer Verdeutlichungen darauf hin, dass neben fundierter theoretischer Grundlagenarbeit eine Offenheit für strategisch relevante Kooperationen nach außen hin essentiell für eine erfolgreiche Umgestaltung der Gesellschaft sei. Nicht nur während der Proteste gegen den Notstand der Demokratie, sondern vor allem auch nach 1968 waren die Gewerkschaften einer der wichtigsten Bündnispartner, womit sich Christiane Reymann in einem Workshop zur Politik der Gewerkschaftlichen Orientierung beschäftigte. Als interessanten Aspekt betonte sie, dass es in der PGO nicht ausschließlich darum ging, Studierende für gewerkschaftliche Arbeit zu motivieren, sondern vielmehr um den Abbau des elitären akademischen Dünkels und der avantgardistischen Vorstellung, die Intelligenz sei das revolutionäre Subjekt.

Einige der wohl prominentesten auf dem Kongress anwesenden Persönlichkeiten debattierten auf vier großen Podien im Audimax der HU zu zentralen Fragestellungen der Geschichte und der Perspektiven von 1968.

Den Auftakt bildete nach der Eröffnungsrede von Gisela Notz die Frage nach der Stellung der Hochschule im Kapitalismus auf Basis der alten SDS Denkschrift „Hochschule in der Demokratie“, welche in ihren Kernelementen Anknüpfungspunkte für gegenwärtige Hochschulpolitik bietet. Wolfgang Nitsch, einer der Autoren der SDA-Denkschrift, Nele Hirsch, Bildungspolitische Sprecherin der Fraktion DIE LINKE und Alex Demirovic, Professor an der TU Berlin und Vorstand des BdWi diskutierten anhand der historischen SDS-Denkschrift den historischen Ansatzpunkt und die für heute nutzbaren Punkte dieses Textes. Nitsch machte den politischen Ausgangspunkt der Denkschrift als einem Eingriff in die konservative Bildungs- und Hochschulpolitik der Zeit deutlich, der nicht allein auf Deutschland beschränkt gewesen sei. Ähnliche Forderungen nach einer Demokratisierung der Hochschulen seien parallele in anderen Ländern entwickelt worden. Fragen wie Demokratisierung, Studienfinanzierung, Einfluss von Politik und Wirtschaft auf die Hochschulen seien gerade heute wieder aktuell. In diesem Sinne plädierte Hirsch dafür, die Struktur der Denkschrift für heutige Probleme zu adaptieren, wobei es ihr zufolge um drei Punkte gehe: 1. die Analyse, d.h. die Frage, wie Wissenschaft im Kapitalismus zur Ware wird, welche Widersprüche sich daraus ergeben und wie damit eine Politisierung der Wissenschaft erreicht werden kann. 2. könne die Hochschule auch heute nicht isoliert sondern als Teil der Gesellschaft betrachtet werden, womit die Frage nach der Rolle von Wissenschaft für die gesellschaftspolitischen Auseinandersetzungen gestellt sei. Schließlich enthalte die Denkschrift 3. Forderungen, die auch heute noch aktuell seien und die auch schon von Nitsch benannt wurden. Demirovic stellte die permanente Leistungsverdichtung (Ränking, Evaluation etc.) auf Seiten der Wissenschaftsproduzenten in den Mittelpunkt seines Beitrags, womit die Möglichkeiten reflexiven und kritischen Denkens generell in Frage gestellt würden. Entschleunigung sei hier eine wichtige Forderung, um überhaupt Raum für eine kritische Wissenschaft zu lassen. Mit dem Hinweis, dass Bildung kein Synonym für Emanzipation sei, warnte er vor zu einfachen linken Erwartungen bei der Forderung nach einem „Recht auf Bildung“.

Auf der Grundlage solcher Debatten möchte der neue SDS die Tradition der Denkschrift fortführen und eine neue entwerfen. Wie der letztendliche Charakter dieser neuen Denkschrift aussieht, wird maßgeblich davon abhängig sein, in welche Richtung sich die Strategiedebatten, welche sich permanent im Spannungsfeld der beiden oben skizzierten Konzepte gründlicher historischer Analyse auf der einen Seite und auf unmittelbare Aktion hinzielenden Reduktionismus auf der anderen bewegten, entwickeln. Für den Kongress lässt sich auf jeden Fall festhalten, dass letzterer Ansatz von einer relevanten Zahl der Teilnehmenden präferiert wurde. Infolgedessen überwog der Versuch, schablonenartig vor allem an den so genannten antiautoritären Flügel der damaligen Bewegung anzuknüpfen, wodurch häufig das volle Potential der Diskussionsangebote und Thesen nicht ausgeschöpft werden konnte, da man oftmals an der Oberfläche verharrte und interessante Impulse der damals Aktiven ihre Wirkung nicht voll entfalten konnten. Manchmal schien es, dass ein kurzatmiger Verbalradikalismus auf mehr Widerhall stieß als ein auf Kontinuität angelegtes kritisches Bewusstsein für die Traditionen vor und nach 1968.

Am Freitagabend trafen unter der Frage „Gesiegt – gescheitert – Was bleibt von 1968?“ zwei ganz unterschiedliche Sichtweise aufeinander. Zum einen Frank Deppe, der für einen historisch-analytischen Umgang mit 1968 warb, zum anderen Gerd Koenen, der das Moment des Scheiterns vor allem in einer sich zunehmend stalinisierenden Bewegung verortete. Hierbei führte er oftmals persönliche Erfahrungen aus seiner Zeit im Kommunistischen Bund Westdeutschlands und in maoistischen Diskussionszusammenhängen an. Frank Deppe hingegen betonte, dass es nicht darum ginge, die Positionen von 1968 zu verteidigen, sondern die konkreten Errungenschaften und Ziele. Dabei machte er den größten Fehler der damaligen Studierendenbewegung in der Positionierung fest. Er forderte in Anschluss an Wolfgang Abendroth, dass Intellektuell sich in Momenten, in denen sie scheinbar gesellschaftliche Macht haben, an der Seite des linken Flügels der Arbeiterbewegung verorten müssen, um gesellschaftliche Kräfteverhältnisse verändern zu können. Laut Deppe hat 1968 die Widersprüche der bürgerlichen Gesellschaft gezeigt, wohingegen Koenen den 68ern vorwirft, die Widersprüche nicht als Denkanstoß benutzt zu haben, so dass sie nicht mehr als die „radikalsten Kinder des Golden Age“ sein konnten.

Ein Blick über den Tellerrand der alten Bundesrepublik hinaus bot das Podium „1968 International“, worauf beträchtliche internationale Prominenz vertreten war. Den Anfang machte Alain Krivine (Ligue communiste révolutionnaire), der von den französischen Erfahrungen des proletarischen Mai berichtete. Im Zentrum seines Beitrages stand die Frage nach der Organisationsform in einer scheinbar revolutionären Situation. Der Herausgeber der Zeitschrift „Socialist Register“, der kanadische Politikwissenschaftler Leo Panitch betonte noch einmal den vielfältigen Charakter der Ereignisse von 1968 und deren geschichtliche Einbettung. So wies er darauf hin, dass in Deutschland der eigentliche Beginn im Godesberger Programm der SPD und der damit verbundenen „Zwangsausrichtung“ der linken Kräfte auf die APO liege; in den USA waren dies die Bürgerrechtsbewegung der Afroamerikaner, wilde Streiks der Werktätigen und Verwaltungsangestellten und der Vietnamkrieg. Die lateinamerikanische Perspektive skizzierte die venezolanische Ökonomie-Professorin Chela Vargas. Sie beschrieb die lateinamerikanischen Auseinandersetzung in Abgrenzung zu den europäischen, welche „eine romantische, eine poetische Bewegung“ gewesen seien, als ein „Prozess des bewaffneten Aufstandes“ einerseits, und als kultureller Widerstand, der den Grundstein für die heutigen sozialen Bewegungen legte, andererseits.

Das Abschlusspodium am Sonntagnachmittag litt zwar unter Zeitmangel, beschäftigte sich aber mit dem konstitutiven Element der APO, nämlich mit dem „Notstand der Demokratie – der Kampf gegen Sozial- und Demokratieabbau“. Allerdings diskutierten Lena Kreck, Hans-Jürgen Urban und Andreas Fisahn mehr oder weniger konsensual weniger über die Rolle des Kampfes gegen die Notstandsgesetzgebung in den 1960er Jahren, als über heutige Angriffe auf demokratische Grundrechte und Strategien dagegen.

Nach Abschluss des Kongresses bleibt zusammenfassend festzuhalten, dass er die Funktion, einen Gegenstandpunkt zu den herrschenden Interpretationsmustern von 1968 zu bilden, erfüllt hat. Der Organisation ist es gelungen, trotz durchaus divergierender Herangehensweisen an das Phänomen 1968 und dessen Bewertung, eine solidarische Streitkultur und eine positiv vereinende Grundstimmung zu erzeugen. Eins war also allen klar – die letzte Schlacht gewinnen wir! Damit nicht die heutige Bewegung das gleiche Ende nimmt wie die oftmals engagiertesten VertreterInnen der außerparlamentarischen Bewegung der 1970er, gab Frank Deppe einen metaphorischen Hinweis aus der Geschichte. Früher, so sagte er, gab es einige Free Jazz-Virtuosen, welche sich nachher zu den konformsten und langweiligsten Dixieland-Interpreten entwickelten. Darum gilt es heute, intensiv seinen Free Jazz zu lernen, damit daraus nicht noch ein Dixieland werden kann.