Staat, Ökonomie, Politik

Staatsgewalt und Recht

September 2008

Das Verhältnis von Staatsgewalt und Recht ist ein uraltes Thema, das immer wieder neu aufgeworfen und diskutiert wird. Nachdem 1990 viele davon ausgingen, dass nach dem Zusammenbruch des „Gewaltregimes“ im Osten eine Zeit des dauerhaften Friedens kommen würde, führten die USA 1999 den ersten NATO-Aggressionskrieg. Seit dem mörderischen Anschlag auf das World-Trade-Centre 2001 begann der „Krieg gegen den Terror“, dessen Ende nicht abzusehen ist und der das alte Völkerrecht zu sprengen droht, ohne dass ein neues Völkerrecht in Sicht ist. Deutschland wird „am Hindukusch verteidigt“, in einem Großfernsehfilm nach dem anderen werden die Kriege des dritten Reiches auf die deutschen Opfer fremder Gewalt fokussiert, die Ursache dieser Kriege verschwindet im Nebel von Pseudoerinnerung und Liebesdramen.

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Thomas Hobbes schuf die Grundlagen der modernen Gewalttheorie. Diderot schrieb in seiner Enzyklopädie: Er „stürzte endgültig das Idol der Scholastik, das Bacon zum Wanken gebracht hatte“.[1] Die heftigen Antagonismen seiner Zeit waren für ihn die Grundlagen des Staates. Hobbes erfuhr, wie Hermann Klenner in seiner Einführung zu der von ihm neu herausgegebenen berühmtesten Schrift von Hobbes schrieb, „die Kriegsform annehmenden Antagonismen seiner Zeit und seines Landes als ein Denkender: Genau in dem Jahr, in dem der seit Jahrzehnten schwelende Konflikt zwischen dem alten Adel (mit dem König an der Spitze) und dem jungen Parlament ... als Bürgerkrieg losbrach, im Jahre 1640 ... ließ er die erste Vision seiner Rechtsphilosophie ... kursieren“. Die dritte und reifste Version veröffentlichte er in London, unmittelbar bevor er aus seinem elf Jahre währenden Exil in seine Heimat zurückkehrte.[2] Seine Leistung erschöpfte sich nicht „in einem regional-temporalen Anliegen, sondern in der unversalhistorischen Problemstellung, aus dem Menschheitskrieg aller gegen alle ... in den Menschheitsfrieden aller mit allen ... überzuleiten, aus der Homo-homini-lupus (Der Mensch ist dem Menschen ein Wolf) – seine wohl am meisten zitierte Äußerung – in eine Homo-homini-deus (Gott) Gesellschaft“. Er hat damit als Erster „die Gesellschafts-, Staats- und Rechtsphilosophie ausdrücklich, vollständig und systematisch von Theologie und Ethik abgekoppelt“. (S. XVII) Schwierigkeiten erwuchsen ihm von papistischer wie von anglikanischer Seite. Der Vorwurf der Häresie wurde immer wieder erhoben; nicht zuletzt wegen der Behauptung, dass der ursprüngliche Naturzustand der Kriegszustand gewesen wäre (S. XXIII).

Die Überwindung dieses Kriegszustandes konnte für Hobbes nur durch eine Übertragung der gesamten Macht auf den Leviathan, den Staat, erfolgen, sei er monarchisch oder parlamentarisch. Diese Macht aber ist dann unwiderrufbar, unkontrolliert (S. XXVI-XXVIIIf.). Für das Recht gilt demnach, dass seine Grundlage nicht Wahrheit, sondern Macht ist: „authoritas, non veritas facit legem“ (S. XXXV). Die Staatenkriege allerdings wurden von Hobbes nicht in Frage gestellt, „die Leviathane unter sich duldeten keinen Überleviathan“ (S. XXXVII).

Marx und Engels haben sich in der „Deutschen Ideologie“ in ihrer Polemik gegen Max Stirner ausdrücklich auf Hobbes bezogen: „In der wirklichen Geschichte bildeten diejenigen Theoretiker, die die Macht als Grundlage des Rechts betrachteten, den direktesten Gegensatz gegen diejenigen, die den Willen für die Basis des Rechts ansehen. ... Wird die Macht als Basis des Rechts angenommen, wie es Hobbes etc. tun, so sind Recht, Gesetz pp. nur Symptom, Ausdruck anderer Verhältnisse, auf denen die Staatsmacht beruht. ... Der Ausdruck dieses durch ihre gemeinschaftlichen Interessen bedingten Willens ist das Gesetz.“[3]

Eine ähnliche Formulierung finden wir bei Max Weber: „Staat soll ein politischer Anstaltsbetrieb heißen, wenn und insoweit sein Verwaltungsstab erfolgreich das Monopol legitimen physischen Zwanges für die Durchführung der Ordnungen in Anspruch nimmt.“ Er werde dabei durch das Mittel und nicht durch den Zweck, der wechseln kann, definiert und reiche in einem jeweils begrenzten Gebiet vom „Raubstaat“ bis zum „Rechtsstaat“.[4]

Später haben Marx und Engels in den Auseinandersetzungen mit Michail Alexandrowitsch Bakunin und Eugen Dühring das Primat der Ökonomie gegenüber der Gewalt mit großer Entschiedenheit verfochten. In einem Brief an Theodor Cuno fasste Engels am 24. Januar 1872 die theoretischen Meinungsverschiedenheiten zusammen: Wir seien der Ansicht, dass der Staat eine Organisation der Kapitalisten und Grundbesitzer sei, Bakunin dagegen behaupte, der Staat habe das Kapital geschaffen, sei mithin das Hauptübel. „Da also der Staat das Hauptübel sei, so müsse man vor allem den Staat abschaffen, dann gehe das Kapital von selbst zum Teufel, während wir umgekehrt sagen: schafft das Kapital ... ab, so fällt der Staat von selbst.“ (MEW 33/388)

Während die These Bakunins, dass mit dem Staat auch das Kapital fiele, von Marx und Engels zutreffend bekämpft wurde (sie widersprach ihrer historisch-materialistischen Grunderkenntnis), stand die Gegenbehauptung, dass mit dem Privateigentum auch der Staat verschwinde, schon damals auf schwachen Füßen – inzwischen ist sie ja eindeutig widerlegt.

Auch im „Anti-Dühring“ blieb Engels dabei, „dass die Gewalt nur das Mittel, der ökonomische Vorteil dagegen der Zweck ist. Um soviel ‚fundamentaler’ der Zweck ist als das seinetwegen angewandte Mittel, um ebensoviel fundamentaler ist in der Geschichte die ökonomische Seite des Verhältnisses gegenüber der politischen“ (MEW 20/148). Inzwischen aber wurde das Mittel selbst zum Zweck. „Die Armee ist Hauptzweck des Staats ..., die Völker sind nur noch dazu da, die Soldaten zu liefern und zu ernähren“ (Ebd./158). Wirkt die politische Gewalt der gesetzmäßigen ökonomischen Entwicklung entgegen, „erliegt sie, mit wenigen Ausnahmen, der ökonomischen Entwicklung regelmäßig“. Allerdings sei die Gewalt auch „Geburtshelferin jeder alten Gesellschaft ..., die mit einer neuen schwanger geht ..., erstarrte, abgestorbne politische Formen zerbricht“ (ebd./170 f.).

Engels entwickelte dann sehr entschieden seine These vom Absterben des Staates. Sie soll hier hinterfragt werden. „Der erste Akt, worin der Staat wirklich als Repräsentant der ganzen Gesellschaft auftritt – die Besitzergreifung der Produktionsmittel im Namen der Gesellschaft – ist zugleich sein letzter selbständiger Akt als Staat. ... Der Staat wird nicht ‚abgeschafft’, er stirbt ab.“ (MEW 20/262)

Marx hatte bereits in seinem „Bürgerkrieg in Frankreich“ in den 72 Tagen der Pariser Kommune von 1871 die Möglichkeit einer nichtstaatlichen Ordnung gesehen, ohne die einmalig günstigen Momente in Rechnung zu stellen. Die Kommunalverfassung würde „dem gesellschaftlichen Körper alle die Kräfte zurückgegeben haben, die bisher der Schmarotzerauswuchs ‚Staat’, der von der Gesellschaft sich nährt und ihre freie Bewegung hemmt, aufgezehrt hat“ (MEW 17/336-341). Für Engels war die Pariser Kommune nach einem Brief an August Bebel vom 18./28. 3. 1875 „schon kein Staat im eigentlichen Sinne mehr“ (MEW 19/6).

Die These vom Absterben des Staates flankierte Engels durch Überlegungen zu einer friedlichen Urgesellschaft, zu der man in gewisser Weise zurückkehren könne, wobei er sich auf Arbeiten von Lewis Henry Morgan stützte. Im „Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates“ schrieb er: „Der mächtigste Fürst und der größte Staatsmann oder Feldherr der Zivilisation kann den geringsten Gentilvorsteher beneiden um die unerzwungne und unbestrittene Achtung, die ihm gezollt wird. Der eine steht eben mitten in der Gesellschaft, der andre ist genötigt, etwas vorstellen zu wollen außer und über ihr.“ (MEW 21/166) Abschließend zitierte er Morgan: „Demokratie in der Verwaltung, Brüderlichkeit in der Gesellschaft, Gleichheit der Rechte, allgemeine Erziehung werden die nächste höhere Stufe der Gesellschaft einweihen, zu der Erfahrung, Vernunft und Wissenschaft stetig hinarbeiten. Sie wird eine Wiederbelebung sein – aber in höherer Form – der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit der alten Gentes“ (Ebd./173). Thomas Wagner verficht heute – sich auch auf Arbeiten des Musikwissenschaftlers und Anthropologen Georg Kneplers berufend – die Möglichkeit eines aktuellen Umstiegs zur herrschaftslosen Gesellschaft. Dabei ist für ihn vor allem der staatslose Zusammenschluss der indianischen Irokesen des 16. Jahrhunderts das Beispiel einer solchen Möglichkeit.[5]

Die Entwicklung seit der Oktoberrevolution gab keinerlei Anhaltspunkte für die Herausbildung eines Staates „im nicht eigentlichen Sinne“. Das betrifft nicht nur die Entwicklung in der Sowjetunion, wo der Staat immer mehr zur zentralen Antriebskraft wurde und die Zentralisierung der Macht einen welthistorischen Höhepunkt erreichte. Auch in den Ländern der Volksdemokratie erwies sich, dass das sozialistische Eigentum an den Produktionsmitteln eine staatliche Wirtschaftsplanung in mehr oder weniger dirigistischer Form erforderte, dass die Verteilung nach der Leistung der staatlich sanktionierten rechtlichen Regelung bedurfte, dass bei fortbestehenden Ausbeuterklassen Repression notwendig blieb, aber auch nach deren Enteignung fortbestand, dass vornehmlich die äußere Auseinandersetzung mit den bürgerlichen Nachbarn ohne Staat nicht auskam bis hin zum Extrem der Errichtung der Mauer an der Westgrenze der DDR. Diese Repression nahm sicherlich im Laufe der Jahre ab, blieb aber bestehen. Der Staat fiel keineswegs von selbst.

Domenico Losurdo bezeichnete die Überlegungen von Marx und Engels zum Absterben des Staates als anfechtbar. Sie hätten sich aus den historischen Erfahrungen mit den Militärdiktaturen in Frankreich einerseits und der für notwendig gehaltenen Abweisung anarchistischer Kritik andererseits ergeben. Es ging um den Versuch, „der drohenden Anklage des Etatismus zu entgehen“. Lenin hätte 1917 in „Staat und Revolution“ in der notwendigen Abrechnung mit dem Sozialchauvinismus den Marxismus auf den Anarchismus heruntergebracht.[6]

Die rasch wachsende Wählerzahl in Deutschland bestärkte den alten Engels immer stärker in der Zuversicht, dass bald, vielleicht sogar noch zu seinen Lebzeiten, in Deutschland die Sozialdemokratie, die Partei, auf die Marx und Engels gesetzt hatten, siegreich sein werde. „Die Sozialdemokratische Partei, die einen Bismarck gestürzt, die nach elfjährigem Kampf das Sozialistengesetz gebrochen, ... diese Partei steht heute auf dem Punkt, wo sie mit fast mathematisch genauer Berechnung die Zeit bestimmen kann, in der sie zur Herrschaft kommt“ schrieb er 1891 (MEW 22/250).

Die über hundert Jahre, die seitdem vergangen sind und in denen der Sozialismus begann und wieder unterging, aber die Gewalt immer fortbestand, reichen nach meiner Auffassung aus, um die Schlussfolgerung zu ziehen, dass der Staat nicht minder zählebig ist als die Gesetze des Marktes, jedenfalls solange es Knappheit gibt, dass er in aller absehbaren Zukunft fortexistieren wird.

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Diese Einsicht bedeutet nicht, dass es auf dem Gebiete der Politik, der staatlichen Gewalt keinen Fortschritt gibt. Das mittelalterliche Denken hatte einen solchen Fortschritt abgelehnt. Aaron J. Gurjewitsch hat schon vor Jahren eine Darstellung des Weltbildes des mittelalterlichen Menschen vorgelegt und dabei die Rolle des Augustinus hervorgehoben. Augustinus formulierte „die Lehre vom unvereinbaren Gegensatz des irdischen Reiches ‚civitas terrena’ und des Reiches Gottes ‚civitas Dei’. Das Reich Gottes, die unsichtbare geistliche Gemeinde der Christen, sichtbar von der Kirche verkörpert, ist ewig; das irdische Reich, der Staat, ist vergänglich und sterblich. Jedes Reich geht seinen eigenen Weg, und wenn der Fortschritt des Reichs Gottes in der allmählichen Enthüllung der göttlichen Wahrheit besteht, dann gibt es in den menschlichen Dingen keinen Fortschritt. In der Gegenwart wie auch in der Vergangenheit und Zukunft erlebten, erleben und werden die Menschen große Not und Erschütterungen erleben.“ „Die Geschichte, der ewige Kampf zwischen Gut und Böse, verläuft bald auf der Erde, bald im Himmel, in der Zeit und außerhalb der Zeit.“[7] Ein irdischer Fortschritt sei also hinsichtlich der Gewalt nicht zu erwarten.

Im Gegensatz dazu ging die Aufklärung von einem widersprüchlichen, immer wieder von Rückschritten unterbrochenen Fortschritt in der Geschichte aus. Ihre Krönung waren die Arbeiten von Kant und Hegel. Immanuel Kant sah einen Grundwiderspruch: Der Mensch wolle sich einerseits vergesellschaften, andererseits vereinzeln, „getrieben durch Ehrsucht, Herrschsucht oder Habsucht“.[8] Er zieht den Schluss, dass „aus so krummen Holze, als woraus der Mensch gemacht ist, noch nichts ganz Gerades gezimmert werden“ könne, kommt aber dennoch zu dem Ergebnis, „dass immer ein Kern der Aufklärung übrig blieb, der, durch jede Revolution mehr entwickelt, eine folgende, noch höhere Stufe der Verbesserung vorbereitete“. Für Georg Friedrich Wilhelm Hegel war Kriterium des Fortschritts das Fortschreiten im Bewusstsein der Freiheit: „Sein Weltgeist wandert auf dem Planeten Erde umher, indem er den Höhen der Selbsterkenntnis immer näher kommt“ schrieb Arsen Gulyga. Der Weg des Weltgeistes endet dann in Preußen, in einer „bürgerlichen Monarchie, die es damals noch nicht gab“. So preist er das, „was in Preußen noch nicht Wirklichkeit geworden war“.[9]

Einen wichtigen Faktor bildet dabei die rechtliche Eingrenzung der Gewalt. Eben weil Recht Maßstab und Instrument der Politik ist, darf es ihr weder absolut untergeordnet, noch idealistisch übergeordnet werden. Der Rechtsstaat als Errungenschaft umfasst eine Reihe von Elementen, die unverzichtbar sind, damit das Recht seiner Rolle als Maß der Politik gerecht werden kann. Richard Bäumlin und Helmut Ridder fassen ihn deshalb als „demokratische Gesetzlichkeit und das Ensemble der historischen gegen den ‚Polizeistaat’ erkämpften, heute teils durch die Verfassung, teils einfach-gesetzlich normierten und aus diesem unter der Losung des Rechtsstaats geführten Kampf um eine humane politische Kultur gewonnenen Institute (vor allem justitiell-prozeduraler Art).“[10]

Der Begriff des Rechtsstaates hat in der Zeit des kalten Krieges als „Kampfbegriff“ gewirkt. Er diente und dient einer mystischen Überhöhung der politischen Ordnung der Bundesrepublik und hat in der Abwehr dieses Vorgehens zur Unterbewertung des Rechts in der Bevölkerung beigetragen. Hermann Klenner wandte sich gegen den Rechtsstaat als Alternative zum Machtstaat, weil auch er ein Machtstaat sei. Aber im Rechtsstaat, „in dem die Legislative an die Staatsverfassung samt Menschenrechten, die Exekutive wie die Judikative an die Gesetze gebunden sind“, bestünden „die besten Chancen für eine Demokratisierung von Staat und Gesellschaft, die geringsten Chancen für Absolutismen und Diktaturen“.[11] Nur durch eine solche „formale“ Sicht wird auch deutlich, dass der Rechtsstaat nicht alles ist. Für sich genommen garantiert er weder die Befreiung von der Geißel der Arbeitslosigkeit noch von der des Hungers, der Bürokratie, selbst des Krieges. Rechtsstaatlichkeit ist ein Faktor gesellschaftlichen Fortschritts. Aber sie garantiert ihn nicht. Auch eine unabhängige Justiz ist Bestandteil der Gesellschaft, ihres politischen Systems, wird von ihren politischen Kämpfen beeinflusst. Sie schließt, wie die Erfahrungen der Bundesrepublik zeigen, Berufsverbote, selbst Aggressionskriege nicht aus. Auf dem Boden des Rechtsstaates können Kämpfe für den Fortschritt geführt, aber auch Angriffe gegen ihn vorgetragen werden. Der politische Kampf wird dadurch kanalisiert und individualisiert.

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Einen wesentlichen Fortschritt bildete die Ächtung der Gewalt, die Aufhebung des „jus ad bellum“ der Staaten nach dem Sieg der Anti-Hitler-Koalition. Gemäß Artikel 2 Punkt 4 der Charta der Vereinten Nationen vom 26. 6. 1945 haben alle Mitglieder „jede gegen die territoriale Unversehrtheit oder die politische Unabhängigkeit eines Staates gerichtete oder sonst mit den Zielen der Vereinten Nationen unvereinbare Androhung oder Anwendung von Gewalt“ zu unterlassen. Von dem Gewaltverbot gibt es gemäß Kap. VII der Charta nur zwei Ausnahmen. Erstens hat jeder Staat bei einem bewaffneten Angriff auf ein Mitglied der Vereinten Nationen das Recht zur individuellen oder kollektiven Selbstverteidigung. Entsprechende Maßnahmen sind dem Sicherheitsrat sofort anzuzeigen (Art. 54). Zweitens kann der Sicherheitsrat – und nur er – feststellen, ob eine Bedrohung, ein Bruch des Friedens oder eine Angriffshandlung vorliegt und entsprechende Maßnahmen bis hin zu militärischen Sanktionen ergreifen (Art. 39 ff).

Der Schutz der territorialen Unversehrtheit und der politischen Unabhängigkeit erfordert von den früheren Kolonien oder Halbkolonien eine kluge Politik, die vor allem das eigene Volk überzeugt. Das gilt etwa für die Blockade Kubas, die Auseinandersetzung mit kolumbianischem Eindringen in Ecuador, die Separierungspläne der reichen Provinzen in Bolivien, wie für Terroranschläge in Tibet oder die Nichtachtung der Vereinbarungen über die Entwicklung Palästinas. Wenn aber die Bereitschaft zur Gewaltanwendung wächst – in Hoffnung auf internationale, vor allem US-amerikanische Unterstützung – ist die Bereitschaft zur Gegengewalt unvermeidlich. Es bedarf also sowohl der Verteidigung des geltenden Rechts gegen seine Verletzung, eines Kampfes, der auch juristisch zu führen ist, als auch des Bewusstseins, dass nur Macht „Machtmissbrauch wirklich zu verhindern“ vermag.[12] Auch der Weltsicherheitsrat steht nicht über den Interessen. Bei unterschiedlichen Grundinteressen kann man letztlich nicht juristisch argumentieren, muss man die Gefahren aufdecken, die von bestimmten Interessen ausgehen und gegen sie kämpfen.

[1] D. Diderot, Hobbismus oder Philosophie von Hobbes, in: Artikel aus der von Diderot und d’Alembert herausgegebenen Enzyklopädie, Leipzig 1984, S. 530.

[2] Thomas Hobbes, Leviathan, hrsg. und eingeführt von H. Klenner Hamburg 1996, S XIV f.

[3] K. Marx, F. Engels, Werke (MEW), Berlin 1956 ff., Bd. 3, S. 311.

[4] M. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft (1911-1913), Tübingen 1985, S. 29 f., S. 514.

[5] T. Wagner, Realität der Vergangenheit, Möglichkeit der Zukunft, in: Z. Zeitschrift marxistische Erneuerung 69, März 2007, S. 120, sowie sein Buch Irokesen und Demokratie, Münster 2004.

[6] D. Losurdo, Der Marxismus Antonio Gramscis, Hamburg 2000, S. 95-97, S. 109.

[7] A. J. Gurjewitsch, Das Weltbild des mittelalterlichen Menschen, Dresden 1978, S. 119, S. 121.

[8] I. Kant, Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, 1784, in: Von den Träumen der Vernunft, Leipzig und Weimar 1979, S. 208, S. 211, S. 220.

[9] A. Gulyga, Georg Friedrich Wilhelm Hegel, Leipzig 1974, S. 204, S. 208, S. 214.

[10] Bäumlin-Ridder, in: Kommentar zum Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland (Reihe Alternativkommentare), 2. Band 1984, S. 1389.

[11] H. Klenner, Rechtsstaat versus Machtstaat, aufklärungshistorisch betrachtet, in: Z. Zeitschrift Marxistische Erneuerung 29, März 1997, S. 38.

[12] H. Klenner, Machtapologie oder Freiheitstheorie? Neues Deutschland vom 11.12. 1999.