Staat, Ökonomie, Politik

Marx im Herzen und Keynes im Kopf?

September 2008

Geht es um die Differenz zwischen Keynes und den Neoliberalen, bin ich zu 100 Prozent Keynesianer; geht es um die Differenz zwischen Marx und Keynes, bin ich zu 100 Prozent Marxist. Natürlich kann man den Neoliberalismus, wie dies von politisch linken Ökonomen oft zu vernehmen ist, als Gegenstück theoretisch zum Keynesianismus und praktisch-politisch zum Wohlstandsstaat, zur sozialen Marktwirtschaft verstehen. Den Kern der Sache aber trifft das nicht. Neoliberalismus richtet sich theoretisch vor allem und direkt gegen Marx und politisch gegen den Sozialismus.

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Neoliberalismus ist ein dem Marxismus entgegengesetztes Konzept; es ist die Sicht auf die Ökonomie von der Zirkulation, dem Markte her, wobei im Unterschied zur Marxschen Sicht von der Produktion her Produktionsverhältnisse, Eigentumsverhältnisse, Mehrwert aus dem Blickfeld geraten. Wie auch bei Keynes. Praktisch-politisch zielte der in den 1940er/1950er Jahren kreierte Neoliberalismus darauf, auch ökonomisch Faschismus und realen Sozialismus in denselben Topf, den der „Zentralverwaltungswirtschaft“ bzw. Planwirtschaft, zu werfen. Nicht Kapitalismus und Sozialismus sollten als fundamental-alternativ angesehen werden, sondern Planwirtschaft und Marktwirtschaft, Diktatur und Demokratie. Theoretische Grundlegung dieser Geschichtsdeutung war die Schrift von Friedrich A. Hayek „Der Weg zur Knechtschaft“, erschienen 1944. Es sei gegen alle gerichtet, „die im Nationalsozialismus eine ‚kapitalistische’ Reaktion gegen die sozialen Tendenzen der Weimarer Republik sahen und sollte ihnen verständlich machen, dass es sich um eine Fortentwicklung des Sozialismus handelte.“ Auf Hayek ist zurückzuführen, dass in Politik und Medien der Bundesrepublik die Selbstbezeichnung der Hitlerfaschisten – „Nationalsozialismus“, die brutalste ihrer Lügen – zum üblichen Sprachgebrauch gehört.

Die wichtigste Übereinstimmung in den Lehren von Marx und Keynes besteht darin, dass beide die Ursachen kapitalistischer Wirtschaftskrisen in der Wirtschaft selber sehen, im Gegensatz zu den Neoliberalen, die diese Ursachen in außerökonomischen Verhältnissen und Vorgängen, in falschem Verhalten, falscher Politik, in Naturkatastrophen, Missernten, in demografischen Veränderungen sehen. Eigentlich brauchte es, so ihre Überzeugung, Wirtschaftskrisen überhaupt nicht zu geben. Zu ihren Fundamentalsätzen gehört das Saysche Theorem. Jean-Baptiste Say (1767-1832) versuchte nachzuweisen, dass sich gesamtwirtschaftlich Güterangebot und Güternachfrage in einem zwangsläufigen Gleichgewicht befänden; denn jedes Angebot erzeuge eine ebenso große Nachfrage. Die in einer angebotenen Ware enthaltenen Wertteile seien zugleich Komponenten von Nachfrage: der Lohn sei zugleich Nachfrage nach Konsumgütern, ebenso ein Teil des Unternehmergewinns. Vernutzte Maschinerie und der für Investition verausgabte Gewinn seien Nachfrage nach Investitionsgütern usf. Marx wies auf den entscheidenden Denkfehler Says hin: Wer verkauft, muss den Erlös nicht unbedingt auch gleich wieder ausgeben; so enthalte die Geldwirtschaft von vornherein die Möglichkeit des Auseinanderfallens von Güterangebot und Güternachfrage, damit die abstrakte Möglichkeit von Wirtschaftskrisen.

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Die unmittelbare Ursache der Wirtschaftskrisen ist für Marx wie für Keynes dieselbe: Das Zurückbleiben der Gesamtnachfrage hinter dem Gesamtangebot. Ob man das mit dem Begriff „Überakkumulation“ fasst oder mit dem Begriffe „Nachfrageschwäche“ halte ich für nicht sehr wichtig. Problematisch aber scheint mir, das erstere Marx und das zweite Keynes zuzuordnen und damit bestimmte Unterschiede zwischen den Auffassungen beider bezeichnen zu wollen. Was das Zurückbleiben der Gesamtnachfrage hinter dem Gesamtangebot angeht, gibt es keine Differenz zwischen Max und Keynes.

Man kann sicher „Überakkumulation“ Karl Marx, „Nachfrageschwäche“ John Maynard Keynes und „technische Neuerungen“ Joseph Alois Schumpeter in dem Sinne zuordnen, dass dies die jeweils bevorzugten Sichten dieser drei Autoren auf wirtschaftliche Entwicklungen gewesen sind; aber nicht in dem Sinne, dass eben diese Momente – und nicht die anderen – die konstituierenden Element ihrer Theorien gewesen sind. Man nehme zum Beispiel „technischen Fortschritt“ als den ausschlaggebenden Faktor der Produktivkraftentwicklung aus dem Marxschen Theoriegebäude heraus, und es fällt in sich zusammen.

Die englische Ökonomin Joan Robinson meint, die Keynessche Theorie als eine besondere Theorie hätte sich erübrigt, wenn die nach-Marxschen marxistisch orientierten Ökonomen die Marxsche Theorie folgerichtig weiter verfolgt, fortentwickelt hätten. Sicher hätte dies auch zur Keynesschen Idee einer durch staatliche Investitions- und Fiskalpolitik realisierten „antizyklischen Wirtschaftspolitik“ führen können. Berechtigter scheint mir aber die kritische Bemerkung an die Adresse von John Maynard Keynes zu sein, dass er die Herkunft seiner Hauptidee des Zurückbleibens der Gesamtnachfrage hinter dem Gesamtangebot aus der Marxschen Theorie nicht vermerkt. Er widerlegt das Saysche Theorem mit exakt demselben Argument, das vordem von Marx, und nur von ihm, entwickelt worden war, ohne Marx zu erwähnen. Keynes folgt hier der Borniertheit der etablierten bürgerlichen Ökonomie, die Marx durch Totschweigen glaubt erledigen zu können.

Das große Verdienst von Keynes ist zweifellos darin zu sehen, dass er das von Marx erstmals umrissene und von ihm begründete Phänomen einer hinter dem Gesamt-Angebot zurück bleibenden Gesamt-Nachfrage als erster unter den bürgerlichen Ökonomen ebenfalls akzeptiert und wiederholt hat. Es war dies zugleich eine Art Lebensrettung für die bürgerliche theoretische Ökonomie, für welche die Ende der 1920er Jahre einsetzende große Weltwirtschaftskrise ein ebensolcher Bankrott war wie die Bankenbankrotte. Mit auftauchenden Sonnenflecken und auf sie folgenden Missernten, die für frühere Wirtschaftskrisen verantwortlich gemacht wurden, war dieser wirtschaftliche Kollaps nicht mehr zu erklären. Und die Keynessche Theorie war der Wegbereiter, die Begründung einer neuen Politik, der Politik des „New Deal“. Die aber hat nach den Worten des amerikanischen Ökonomen John Kenneth Galbraith „den Kapitalismus gerettet“.

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Der Unterschied zwischen Marx und Keynes liegt in den Begründungen dieses Phänomens, worauf dann auch gewisse Unterschiede ihrer Vorstellungen über Krisenbekämpfung resultieren.

Marx leitete das Zurückbleiben der Gesamt-Nachfrage hinter dem Gesamtangebot aus dem Wesen des Kapitals ab, aus seiner Tendenz zur schrankenlosen Steigerung der Produktion einerseits und seiner gleichzeitigen Tendenz zur Lohnzurückhaltung, Kostenersparnis andererseits. Der hierdurch verursachte Widerspruch zwischen Produktion und Markt, die wichtigste Krisenursache, ist für ihn ein Reflex des Gegensatzes von Kapital und Arbeit in der Produktion.

Vom Gegensatz zwischen Kapital und Arbeit, von der sozialökonomischen, in den Eigentumsverhältnissen wurzelnden Ursache des Nachhinkens der Gesamtnachfrage hinter dem Gesamtangebot ist bei Keynes nirgends die Rede. Er erklärt dieses Phänomen zurückbleibender Gesamtnachfrage hinter dem Gesamtangebot mit gesellschaftsindifferenten Faktoren, allgemein menschlichen, vornehmlich psychologischen Eigenheiten, aus der „Sparneigung“ ebenso wie aus dem „Hang zum Verbrauch“ wie dem „Hang zur Liquidität“. Natürlich stehen dahinter auch ökonomische Interessen; Geldbesitz ist vorteilhafter als der Besitz von Waren, die verderben können, gelagert werden müssen, und eben kein allgemeines Äquivalent sind, das man gegen alle anderen Waren tauschen kann. Aber von spezifisch kapitalistischen Motiven ist nirgends die Rede. Völlig unbrauchbar erweist sich die Keynessche Theorie menschlicher „Sparneigung“ für die Erklärung der gegenwärtigen Finanz-, Banken-, Immobilienkrise.

Diese Krise kommt wieder mal aus den USA. Seit Jahrzehnten stagnieren hier die Einkommen der Lohnabhängigen; der Konsum aber steigt kräftig und kontinuierlich. Dafür sorgen auch die Verlockungen der Kreditkartenkonzerne. Es genügen die vier Grundrechenarten, um heraus zu kriegen, dass dies auf Dauer nicht gut gehen kann. Was macht der Kreditkartenschuldner? Er nimmt Hypotheken auf sein Häuschen, seine Eigentumswohnung. Aber auch das schiebt das Desaster nur auf: Dann kommt es eben zu millionenfachen privaten Insolvenzen, Zwangsversteigerungen, untilgbaren Schulden, „faulen Krediten“. Bezahlen, das marode Finanzsystem retten, und zwar mit riesigen Summen, muss dann wieder das Volk, der Steuerzahler.

Aus den USA kommen auch die neoliberale Religion und Politik, der Reichtumskult: der Irrglaube, dass es Amerika gut geht, wenn es General Motors gut geht, dass die Reichen Amerika reich gemacht haben. Also: Höher die Massensteuern, die Mehrwertsteuer und gleichzeitig runter mit den Unternehmenssteuern, mit dem Spitzensteuersatz! Weil es ihr Interesse ist, glauben die Herrschenden offenbar wirklich, dass solche Umverteilung von unten nach oben die Wirtschaft voranbringt und Beschäftigung schafft.

Das direkte Gegenteil ist der Fall. Es gibt keinen anderen Ausweg aus dieser Krise, als mit dieser Art von Umverteilung endlich Schluss zu machen.

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Aus der Keynesschen Theorie sind Folgerungen für linke Sozial- und Wirtschaftspolitik gezogen worden. Natürlich würden Lohnsteigerungen das Nachhinken der Gesamtnachfrage hinter dem Gesamtangebot verringern, vermeiden. Das ist zwar eine legitime Folgerung aus der Keynesschen Theorie, aber nicht sie selbst. Die originär Keynessche Idee ist, dass der Staat in Zeiten der Wirtschaftsflaute durch von ihm finanzierte Investitionen, auch durch Staatsverschuldung, die Wirtschaft wieder ankurbelt, in Zeiten der Konjunktur dann die Schulden wieder abträgt.

Keynes empfiehlt durchaus keine Lohnsteigerungen. Er gibt vielmehr den pfiffigen Rat, Löhne nicht durch Herabsetzung von Nominallöhnen zu senken, sondern durch Preissteigerung. Näher liegt ihm die Idee, Arbeitslosigkeit auch dadurch zu vermeiden, dass das Schatzamt alte Flaschen unter städtischem Kehricht vergraben lässt und es dem freien Unternehmergeist überlässt, sie wieder auszubuddeln. Arbeitslosigkeit ließe sich auch bekämpfen, wenn die Reichen Paläste zur Beherbergung ihrer Leiber während ihres Lebens und Pyramiden zu deren Beherbergung nach dem Tode bauen ließen. Solche Rezepte konnten Marx natürlich nicht einfallen.

West-Linke mit ihrer Vorliebe für Keynes, ihrem Wahlspruch „Marx im Herzen, Keynes im Kopfe“, neigen dazu, das Gesamtkonzept linker Wirtschafts- und Sozialpolitik als Keynesianismus zu firmieren. Es sind dies Strategien, die ebenso und direkter von Marx hergeleitet werden könnten. Schließlich wäre das auch egal, könnte man meinen; die Hauptsache ist, dass es sich um linke Positionen handelt, antikapitalistische eingeschlossen. Wie sich zeigt, ist das so egal nicht.

Die keynesianische Sicht verengt den Blickwinkel auf den Keynesschen Hauptgedanken einer antizyklischen staatlichen Konjunkturpolitik, das gesamte wirtschafts- und sozialpolitische Konzept wird dann in das Prokrustesbett eines „Zukunftsinvestitionsprogramms“ gepresst. Die Gefahr nicht realistischer, weil real nicht finanzierbarer Forderungen ist dann naheliegend. Mit Marx im Kopfe wird solche Programmatik die wirklichen sozial-ökonomischen und politischen Ursachen der wirtschaftlichen und sozialen Misere im Blick haben. Und direkt auf die Verbesserung der Lebensbedingungen der Arbeitenden, der sozial Benachteiligten zielen.