Kennzeichnend für die heutige Lebenswirklichkeit ist, dass sich die realen gesellschaftlichen Geschehnisse hinter einem Netz von Deutungen verbergen, die dem individuellen Wahrnehmen, Erkennen und Denken als autoritative Orientierungen vorgesetzt sind. Sie entziehen sich weitgehend der Nachprüfung durch das einzelne Individuum – zumal ihnen insbesondere durch die Schriftsprache eine perennierende Existenzweise zuwächst. Diese Deutungsmuster operieren nicht selten mit fiktionalen Vorstellungen, die die Wirklichkeit verschleiern. Solche Vorstellungen verbinden sich mit dem Begriff Geschlecht, wenn es seinen ursprünglichen Gegenstandsbezug verliert und zu einer inhaltsleeren abstrakten Kategorie wird. (vgl. Gibson 1986, 256-263; Vaihinger 12f)
Dieser Begriff und die mit ihm verbundenen Deutungen sind Gegenstand der folgenden Ausführungen. Im ersten Teil (1) geht es um eine begriffliche Klärung der drei Termini „Frau“, „Mann“, „Geschlecht“, wobei die realen Gegenstandsbezüge dieser Begriffe klargestellt werden, sowie um eine Veranschaulichung unterschiedlicher Bedeutungen dieser Begriffe an zwei gesellschaftsgeschichtlichen Beispielen. Im zweiten Teil (2) wird der Entwicklungsgeschichte des inhaltsleeren, fiktionalen Geschlechterbegriffs bzw. des fiktionalen Geschlechterdenkens nachgegangen. Dabei wird davon ausgegangen, dass dieser Begriff seinen Bedeutungsgehalt im Verlauf der Zeit mehrmals verändert hat: seine ursprüngliche Bedeutung war allem Anschein nach die sog. genealogische, die eine „väterliche“ d.h. vater-determinierte verwandtschaftliche Geschlechtereinheit fingierte (patriarchaler Geschlechterbegriff oder Deutungsansatz); sie wurde abgelöst von einer Ausdeutung, die die Vorstellung eines „natürlichen“ Geschlechtergegensatzes propagierte (naturalistischer Geschlechterbegriff); in seiner jüngsten, feministischen, Fassung wird dieser Begriff schließlich im Sinn eines „sozial“ hervorgebrachten und in den „Geschlechterrelationen“ nicht unbedingt „herrschaftsförmigen“ Geschlechterverhältnisses verstanden (sozialkonstruktivistischer Geschlechterbegriff oder Deutungsansatz). (Becker-Schmidt in Becker-Schmidt/Knapp 2003, 47) Im dritten Teil (3) geht es darum, die ideologische Funktion des Geschlechterbegriffs herauszuarbeiten.
1 Reale Gegenstandsbezüge und gesellschaftliche Bedeutungen der Begriffe „Frau“, „Mann“, „Geschlecht“
Individuen auf Grund der Verschiedenheiten ihrer körperlichen Geschlechtseigenschaften zu unterscheiden, dürfte eine mentale Fähigkeit nicht nur der menschlichen Spezies sein. Eher schon dürfte die unterschiedliche lautsprachliche Kennzeichnung des jeweiligen Trägerinnen- bzw. Trägerkollektivs dieser Eigenschaften eine spezifisch menschliche Eigenart sein – aber wer weiß. Doch scheint eine solche Kennzeichnung noch in der Gegenwart nicht in allen menschlichen Gesellschaften Brauch zu sein. Tradition hat diese lautsprachliche Markierung allerdings in den Gesellschaften der „westlichen Zivilisation“ seit ihren (aufgrund von Schriftzeichen) nachweislichen Anfängen im Gebiet der sumerisch-akkadischen Kultur vor ca. fünftausend Jahren im Süden Mesopotamiens. Sicher reicht ein solcher Brauch noch hinter die neolithischen Vorläufer dieser Zivilisation zurück, und er ist sicher auch geographisch viel weiter verbreitet. So hat etwa die Entzifferung der Mayaschrift auch bei einer der Zivilisationen Altamerikas eine solche unterschiedliche sprachliche Kennzeichnung bekundet. Es ist hier nicht der Ort für eine Aufzählung verschiedensprachiger Begriffspaare für die nach ihrem Körpergeschlecht klassifizierten Individuen; es seien lediglich die heute gebräuchlichen deutschsprachigen Termini „Frau“ und „Mann“ angeführt. Die Begriffe Frau und Mann haben einen realen Gegenstandsbezug: sie klassifizieren individuelle Menschen, die in Gesellschaften zusammenleben, nach ihrem Körpergeschlecht. Dabei kann eine Gesellschaft grundsätzlich als ein Spezialfall von Ökosystemen verstanden werden, nämlich als ein verhältnismäßig dauerhafter Zusammenhang der Individuen einer menschlichen Population in einem natürlichen Habitat – einer Population, die die Beziehungen ihrer Mitglieder untereinander und zu ihrer belebten und unbelebten Mitwelt in einem besonders großen Maß durch kulturelle Artefakte, darunter solche sprachlicher Art, vermittelt. Auch das deutschsprachige Wort „Geschlecht“, dessen originäre Bedeutung dem Duden-Herkunftswörterbuch zufolge allerdings in der Bezeichnung einer patrilinearen Abstammungslinie liegt, hat, wenn es – wie heutzutage daneben auch – als Bezeichnung für die körperlichen Prokreationseigenschaften der Menschen und anderer Spezies dient, einen realen Gegenstandsbezug, eben jene natürlichen Körperorgane und -funktionen. (Vgl. Duden, Bd. 7, 2006, 270f)
Die Sprache einer Gesellschaft gibt Hinweise darauf, welche Bedeutung dem Körpergeschlecht und seinen Unterschieden für das Zusammenleben der Individuen beigemessen wird und damit auch auf die realen Beschaffenheiten einer Gesellschaft. Semantik, Grammatik und Schriftzeichen geben diesbezüglich Auskunft, und vergleichende Betrachtungen lassen in dieser Hinsicht auch deutliche Differenzen zwischen Sprachen verschiedener Gesellschaften erkennen. In einer kurzen Gegenüberstellung seien hier beispielhaft offensichtlich unterschiedliche gesellschaftliche Gewichtungen aufgezeigt, die dem Körpergeschlecht sowie der Differenzierung ihrer Trägerinnen bzw. Träger einerseits in den altamerikanischen Maya-Gesellschaften und andererseits in denen der sumerisch-akkadischen Kultur in Südmesopotamien entgegengebracht wurden. Michael D. Coe hat in Hinblick auf die Maya-Sprachfamilie festgestellt, dass „es in der Grammatik tatsächlich zumeist keine maskulinen, femininen oder sächlichen Konstruktionen gibt. Ein und dasselbe Pronomen wird für ‚er’, ‚sie’, ‚es’ gebraucht. Doch werden männliche und weibliche Personennamen und Berufsbezeichnungen oft mit speziellen Präfixen versehen, die das Geschlecht anzeigen. Im Yucatekischen sind dies ‘ah’ für Mann und ‘ix’ für Frau.“[1] Und im Unterschied zur Indo-Europäischen Sprachfamilie hat er die der Maya sicher zutreffend als „ziemlich geschlechter-blind“[2] tituliert. (Coe 2000, 53) Eine eher gegenteilige Einschätzung scheint ebenfalls für die sumerische und die akkadische Sprache angebracht zu sein. Jedenfalls gab es nach Auskunft der frühesten überlieferten Keilschrifttafeln aus der Entstehungszeit der sumerischen Schrift (um 3100 v.u.Z.) schon zwei Zeichen, für die vermutet wird, „piktograpische Darstellungen der menschlichen Geschlechtsteile“ zu sein und für „weibliche [... bzw.] männliche Arbeitskräfte, oder auch ganz allgemein für ‚Frau’ und ‚Mann’“ zu stehen. (Nissen/Damerow/Englund 1991, 113) Jean Bottéro stellt für die im literarischen Genre fassbare sumerische Sprache fest, dass deren Grammatik zwar keine Differenzierungen zwischen „Geschlechtern“ kennt, wohl aber entsprechende Distinktionen im Sprachgebrauch: „sie ignoriert ein ‚weibliches Genus’, das als weibliche Form der männlichen gegenüber gestellt wäre. Da, wo die Individuen von Haus aus durch ihr Geschlecht unterschieden sind, bezeichnet sie jedes durch einen eigenen Begriff: ‚Mann’ heißt ‚lú’ und Frau ‚mí’; ‚junger Mann’ ‚shul’ und ‚junges Mädchen’ ‚ki.skil’“.[3] (Bottéro 1965, 164) Termini, die von sich aus keinen Hinweis auf eine sexuelle Eigenschaft geben, wie etwa „dingir“, das Wort für „Gott“ (164), werden als solche im männlichen Sinn gebraucht oder, wenn sie im weiblichen Sinn gebraucht werden sollen, mit einer entsprechenden Hinzufügung versehen, wie etwa „dumu.mi“ („Junge-Frau“) für „Mädchen“. Ganz ähnlich verhielt es sich auch beim Akkadischen, einer semitischen Sprache. So hält Bottéro fest: „Mehr noch bei den Semiten als bei den Sumerern offenbart die Sprache eine gewisse Geringschätzung des Femininen im Vergleich zum Maskulinen: die Frau ist dem Mann nicht gleichgestellt, sondern etwas Zweitrangiges und Minderes im Vergleich mit ihm.“[4] (165) Interessant ist auch, dass, wie Julia Asher-Grewe darstellt, für das sumerische Wort „mi“ dasselbe Schriftzeichen fungiert wie für das Wort „gal“, das „Vulva“ bedeutet, wobei am Ursprung des Schriftzeichens das Wort „gal“ steht. Demgegenüber ist das Schriftzeichen für „lu“ dasselbe, mit dem das Wort „stark“, „gurus“, geschrieben wird; es nimmt also keinen Bezug auf die körperliche Geschlechtseigenschaft, sondern auf ein Kraftpotential des menschlichen Körpers schlechthin, das hier aber nur den Männern zugeschrieben wird. Und „im Unterschied zu dem einen Ideogramm für Frau, feminin und Vulva gibt es mehrere [d. h. verschiedene, MTS] Ideogramme für Mann, Männlichkeit, Penis“. (Asher-Grewe 1985, 171) Den sumerischen Schriftzeichen zufolge werden allem Anschein nach in den sumerischen und wohl auch in den akkadischen Gesellschaften, wie Asher-Grewe formuliert, „Mann und Stärke als Synonym“ betrachtet (171) und, so kann fortgesetzt werden, ebenso Frau und weibliches Körpergeschlecht. Anders als in den Maya-Gesellschaften, so darf ausweislich der Sprachregime und Schriftzeichen der Gesellschaften in Sumer und Akkad die wohl nicht überzogene Schlussfolgerung lauten, gilt hier den körperlichen Geschlechtseigenschaften der Menschen eine große Aufmerksamkeit. Dabei werden Frauen und Männer hinsichtlich dieser und weiterer körperlicher Eigenschaften sprachlich unterschiedlich benannt. Pointiert ausgedrückt könnte gesagt werden, dass die Definition für den Mann heißt: er hat Geschlecht und zudem die Kraft, darüber zu verfügen, und diejenige für die Frau: sie ist Geschlecht und hat diese Kraft nicht. Diese sprachlichen Bestimmungen implizieren offensichtlich eine Überhöhung der Klasse Mann aufgrund seines Körpergeschlechts und eine Herabsetzung der Klasse Frau aufgrund des ihrigen und damit eine Konstellation der Über- und Unterordnung zwischen den Individuen der beiden Klassen. Abschließend sei noch betont, dass hier von begrifflichen Vorstellungen über die gesellschaftliche Wirklichkeit die Rede ist, nicht von dieser selber.
2 Geschichtliche Wandlungen des Geschlechterdenkens
Der inhaltsleere Begriff Geschlecht ist von seinem realen Geschwister, an das er sich gewissermaßen anlehnt, zu unterscheiden: er hat, wie wir hörten, keinen realen Gegenstandsbezug oder referentiellen Gehalt und fällt infolgedessen unter die erkenntnistheoretische Kategorie der Fiktion. Unter seiner Regie haben sich die prokreativen Eigenschaften realer menschlicher Individuen in das Substrat von sog. Geschlechtern verwandelt, von phantastischen Wesenheiten, die sich ihren Namen bei wirklichen Gegenständen geliehen haben. Denkanstrengungen, die sich bemühen, diesen inhaltsleeren Begriff theoretisch auszudeuten, möchte ich fiktionales Geschlechterdenken nennen.
Zur Entwicklungsgeschichte dieses Denkens können hier keine umfassenden Ausführungen geleistet werden. Eine frühe Ausprägungsform des genealogischen Geschlechterdenkens dürfte sich in den weitverbreiteten und unterschiedlichen Formen von dynastischer politischer Herrschaft bekunden. „Königliche Herrscherfolgen“ solcher Art sind z.B. schon für die sumerische sog. frühdynastische Zeit (ca. 2800-2350 v.u.Z.) in Bezug auf verschiedene Stadtstaaten in den Quellen fassbar. (vgl. Fischer Weltgeschichte 2, 57-61) Dynastische Herrscherfolgen gründen bekanntlich in der Regel auf patriarchalen Abstammungslinien, den sog. Häusern, Familien oder auch Geschlechtern. Der genealogische Geschlechterbegriff liefert die theoretische Begründung dafür. Allerdings beschränkt sich genealogisches Abstammungsdenken, wie 1. Mose 10 zeigt, nicht auf dynastische Herrscherlinien. Ein patriarchales Deszendenzkonzept ist auch von Nutzen, wenn Erzväter wie Noach dazu berufen sind, ganze Erdstriche zu bevölkern. (vgl. Bibel 1997, 11) Meyers Konversations-Lexikon zufolge wurden in Deutschland seit dem Ende des 15. Jahrhunderts in zunehmendem Maße genealogische Studien betrieben und ein umfängliches, schließlich auch wissenschaftlichen Kriterien genügendes Schrifttum verfasst. Dabei ging es darum, „den Stammbaum berühmter Geschlechter auszumitteln“, wobei auch „die Ableitung mancher Adelsfamilien aus altrömischen Geschlechtern“ nicht unversucht blieb. (Bd. 7, 1894 295f) Eine solche Ausmittelung ist mit der Vorstellung von einem „Stammvater“ verbunden, der mit seinen Fortpflanzungsaktivitäten eine Linie väterlicher Abstammung initiiert, in der sich eine Generation auf die andere türmt. Wenn die an diesen Aktivitäten beteiligten Mütter auch nicht gänzlich vergessen werden und zumindest in den sog. genealogischen Tafeln (auch „Stamm“- oder „Geschlechtstafeln“ genannt) verzeichnet werden (295), so fungieren sie in dieser Vorstellung doch nur als außenstehende Zuträgerinnen zum väterlichen Stamm. Das männliche Geschlecht ist in dieser Vorstellung eine Wesenheit, die so beschaffen ist, dass sie sich der besonderen prokreativen Eigenschaften der Frauen als ihr gehöriger genau so bedienen kann wie derjenigen des eigenen, männlichen Körpers, eine Wesenheit, die infolgedessen ihr Dasein aus eigener Kraft bis in alle Ewigkeit erhalten kann. Die realen Menschen, lebendige Individuen unterschiedlichen Körpergeschlechts und Lebensalters, „Frauen“, „Kinder“ und „Männer“, werden gewissermaßen väterlich vereinheitlicht und in ihren Beziehungen zueinander vaterherrschaftlich ausgerichtet. Dieser patriarchale, genealogische Geschlechterbegriff transportiert das Wunschdenken einer patriarchalen Geschlechtereinheit – ein Denken, das in der westlichen Zivilisation allem Anschein nach eine lange Tradition hat und vermutlich bis in ihre Anfänge zurückreicht. Deutlich fassbar ist es im Buch Genesis des Alten Testaments, dessen Aufzeichnungen in den Zeitraum vom 10. bis 5. Jahrhundert v.u.Z. datiert werden. (Vgl. Lerner 1991, 206) In Deutschland wird, den lexikalisch-historischen Forschungen von Ute Frevert zufolge, der abstrakte gegenstandslose Begriff Geschlecht „im frühen 18. Jahrhundert noch vorrangig oder gar ausschließlich im genealogischen Sinn gebraucht“. (Frevert 1995, 51)
Dann schiebt sich in den Lexika „allmählich flächendeckend“ (51) mit der Deutung des Geschlechterverhältnisses als einer natürlichen, männerherrschaftlichen Beziehung der naturalistische Geschlechterbegriff in den Vordergrund. Es wird nun „das Weib“ in einem „geschlechtlichen Verhältnis“ mit „dem Mann“ dargestellt. (vgl. 41) Und „‚das Verhältniß der beiden Geschlechter’“ wird als „‚das allgemeinste und wichtigste Verhältnis der menschlichen Gesellschaft’“ angesehen, das „‚die tiefsten und wichtigsten Grundlagen der ganzen gesellschaftlichen Ordnung’ berühre“. (Frevert 1995, 50) Wen wundert es, wenn Frevert herausstellt, dass dieses Verhältnis „– und hier vor allem die Position der Frauen – alles andere als unumstritten“ war und „ganz offensichtlich [...] Frauen das interessantere – oder zumindest das fragwürdigere“ Geschlecht waren. In offensichtlich allgemeiner Frontstellung gegen die „Emancipation der Frau“ wird „‚das Verlangen der gleichen Stellung von Mann und Weib [anscheinend einhellig als] unvernünftig und unnatürlich’“ gebrandmarkt. (45, 43, 42) Und kurz und bündig weist Meyers Konversations-Lexikon Ende des 19. Jahrhunderts der Frau die ihr zukommende „würdige Stellung“ und den entsprechenden „segensreichen Wirkungskreis“ zu: „Dem Mann der Staat, der Frau die Familie!“ (Bd. 6, 1894, 822) Des weiteren werden Männern und Frauen kollektiv „unterschiedene Charaktere“, wenn nicht gar gegensätzliche „Geschlechtscharaktere“ zugeschrieben, die ihnen „von Natur“ zukommen. (Frevert 1995, 43, 48) Es ist hier nicht erforderlich, diese Charaktere im Detail wiederzugeben. Es genügt: Zum einen mit Frevert auf das wenigstens seit dem 18. Jahrhundert sich durchhaltende „argumentative Grundmuster“ zu verweisen, das lautet: „Die Frau [...] Gebärerin [und Schutzbedürftige], der Mann [...] Ernährer und Beschützer“; sowie eine in den 20er Jahren des 19. Jahrhunderts der Frau neu zugeschriebene Eigenschaft hervorzuheben, nämlich diejenige, „Repräsentantin der Liebe“ zu sein (Frevert 1995, 47, 46); und zum anderen festzuhalten, dass den Forschungen dieser Historikerin zufolge im Verlauf des 19. Jahrhunderts die Definition der Geschlechtscharaktere eine immer stärkere „biologische“ Ausrichtung erfährt und diejenige der „Differenz“ zwischen den „Geschlechter[n ...] auf allen Ebenen der psychischen, geistigen und sozialen Organisation“ zunehmend durch „Dichotomisierung und Polarisierung“ geprägt ist. (Frevert 1995, 52) Auf welchen Nenner lassen sich diese Äußerungen über „Frauen“ und „Männer“ bringen? Im Unterschied zum patriarchalen, genealogischen Geschlechterbegriff hat im naturalistischen der Mann in seiner überhobenen Vater-Funktion ausgespielt und ist die Geschlechterfolge in ein Geschlechterverhältnis transformiert. Die Frau wird wie der Mann als eigenständiges Geschlecht behandelt, und beide zusammen werden in einem unauflöslichen Verhältnis präsentiert, eben dem Geschlechterverhältnis. Dieses soll, auf Grund der natürlichen Unterschiede in den prokreativen Körpereigenschaften, ein Zusammenhang sein, der von Natur aus durch Gegensätzlichkeit und Über- und Unterordnung bestimmt ist. Dabei soll die Natur nicht nur so ungerecht sein, ausgerechnet der Seite, die die Hauptlast der Fortpflanzung trägt, auch noch die Last der Aufrechterhaltung des familialen Zusammenhangs aufzubürden. Sie soll der Frau zudem auch noch die Unterordnung unter den Mann bescheren. Der naturalistische Geschlechterbegriff verbindet diese Vorstellung eines naturgegebenen Geschlechterverhältnisses mit einer Vorstellung von Gesellschaft, der zufolge diese mehr oder weniger als natürliche Ordnung erscheint.
Schließlich der sozialkonstruktivistische Geschlechterbegriff: Die feministischen Theoriebildungen, die Vorstellungen wie den eben geschilderten über eine gesellschaftliche Unterordnung der Frauen theoretisch den Boden entziehen wollen, übernehmen aus dem herrschenden Sprachgebrauch den abstrakten, inhaltsleeren Geschlechterbegriff, der sogar zum „Zentralbegriff“ erhoben wird, und ebenso denjenigen des Geschlechterverhältnisses. (Becker-Schmidt in Becker-Schmidt/Knapp 2003, 121) Sie lassen aber die naturalistische Begründungen von Geschlecht und Geschlechterverhältnis nicht gelten, sondern führen „soziale“ Entstehungsgründe ins Feld. So wird in der US-amerikanischen feministischen Diskussion unter Apostrophierung des Terminus „Zweigeschlechtlichkeit“ ein konstruktivistisches Konzept ins Spiel gebracht, wonach das „Geschlecht als soziale Konstruktion“ und die Zweigeschlechtlichkeit als gesellschaftliches „Ordnungssystem“ verstanden werden. (Gildemeister/Wetterer in Knapp/Wetterer 1992, 211-214; Becker-Schmidt in Becker-Schmidt/Knapp 2003, 76; vgl.: Trettin in Völger 1997; Heintz in Bühler u.a. 1993; Braidotti in Braidotti u.a. 1994; Knapp in Becker-Schmidt/Knapp 2003, 63-81) Die deutschsprachige Diskussion favorisiert ein Konzept, wonach „‚Geschlecht’ [... als] ein zentraler Bezugspunkt sozialer Schichtung“ definiert und auf Grund unterschiedlicher „sozialer Stellungen in der Gesellschaft“ zwei „soziale“ Geschlechter (in den US-amerikanischen Debatten: „gender“) unterschieden werden, die auch als „männliche“ bzw. „weibliche Genus-Gruppe“ bezeichnet werden. (Becker-Schmidt in Becker-Schmidt/Knapp 2003, 48). Demzufolge wird auch von „Geschlecht als Strukturkategorie“ gesprochen (35) und von „Geschlechterverhältnis [...] als eine[...m] sozialen Strukturzusammenhang“, der aus einer „Relationalität“ „zwischen den Genus-Gruppen“ erwachse. (Wetterer in Vogel 2005, 54; Becker-Schmidt in Becker-Schmidt/Knapp 2003, 47) Zum Terminus Relationalität heißt es: „‚Relationalität’ hat eine strukturgebende Funktion, indem sie Interdependenzen innerhalb des sozialen Statusgefüges schafft. Menschen, die nach bestimmten Kriterien zu sozialen Gesamtheiten zusammengefasst sind, [...] werden auf dialektische Weise miteinander verkoppelt: Kein Element einer Relation hat seine eigene Identität, es ist immer auch das Nicht-Identische des anderen; keines hat als selbständiges seine soziale Stellung in der Gesellschaft, sondern gewinnt sie erst aus der Entgegensetzung zum anderen.“ (Becker-Schmidt in Becker-Schmidt/Knapp 2003, 47f) Diese „Verkoppelung“ wird – wie in der US-amerikanischen Diskussion – konstruktivistisch erklärt: „Das Geschlechterverhältnis ist ein ideelles Gebilde, eine symbolische Ordnung und ein Sozialgefüge, das eine materielle Basis hat. Die beiden Konstruktionen sind nicht identisch, verweisen aber aufeinander. Sie stützen sich wechselseitig ab, haben eine gemeinsame Sozialgeschichte und sind beide durch übergreifende Gesellschaftsformationen vermittelt.“ (61) Zum Verhältnis zwischen den Geschlechtern wird weiterhin ausgesagt, dass „die Ausgestaltung dieser Relationen sozialem Wandel“ unterliege, „relativ ausbalanciert sein“, aber „auch von Disparitäten durchzogen und herrschaftsförmig organisiert sein“ könne – eine Kennzeichnung, die für die Gegenwartsgesellschaften und deren „Geschlechterordnung“ gelte, die auf „Dienstbarkeit und Subordination von Frauen beruhe.“ (Knapp in Knapp/Wetterer 2002, 18f; Gildemeister in Vogel 2005, 77) Bezüglich dieser „Geschlechterungleichheit“ wird von einer „strukturellen Verankerung [...] in den Basisinstitutionen unserer Gesellschaft“ (Wetterer in Vogel 2005, 55) gesprochen, wobei offen bleibt, was damit gemeint ist. Das feministische, konstruktivistische Geschlechterkonzept eröffnet den wirklichen, lebendigen Menschen, den individuellen „Frauen“ und „Männern“ keinen Ausbruch aus den Gefängnissen der überkommenen fiktionalen Denktradition: nicht aus den Geschlechterfiktionen, die nun die Bezeichnung Genus-Gruppen bzw. gender tragen, und erst recht nicht aus der Fiktion Geschlechterverhältnis, das als solches jetzt durch eine „soziale Dialektik“ gestiftet sein soll. Es soll wie ehedem als „gesellschaftliches Ordnungssystem“ fungieren, das nun die Bezeichnungen „sozialer Strukturzusammenhang“ und „sozial(-konstruiert)e Zweigeschlechtlichkeit“ führt. Die theoretische Bestimmung dieser, dem Geschlechterverhältnis zugeschriebenen, Ordnungsfunktion soll in einer gegenseitigen „Verwiesenheit“ zweier sozialer „Konstruktionen“ bestehen: derjenigen eines „ideellen Gebildes“ oder einer „symbolischen Ordnung“ und derjenigen eines „Sozialgefüges“ auf einer „materiellen Basis“. Es ist hier nicht der Ort, in eine Diskussion dieser theoretischen Bestimmungen des Geschlechterverhältnisses einzutreten. Immerhin erlaubt der sozialkonstruktivistische Denkansatz, zugunsten der Frauen diesem Verhältnis insoweit sein hergebrachtes herrschaftliches Gepräge zu nehmen, als die Beziehungen zwischen den Geschlechtern im Prinzip als – wenn auch nur formal – gleichheitliche gedacht werden.
3 Zur ideologischen Funktion des fiktionalen
Geschlechterdenkens
Die verschiedenen Ansätze eines Geschlechterdenkens, die vorgehend behandelt wurden, operieren mit Begriffen, die, wie eingangs erläutert wurde, keinen realen Gegenstandsbezug haben und als Fiktionen bezeichnet werden. Wenn die abstrakten und inhaltsleeren Denkfiguren Geschlecht und Geschlechterverhältnis in der Tat Fiktionen sind und nicht unter den Begriff der „Hypothese“ fallen, (die, nach Vaihinger „ein adäquater Ausdruck der noch unbekannten Wirklichkeit sein und diese objektive Wirklichkeit zutreffend abbilden will“, Vaihinger 1924, 264), welche Funktion üben sie dann in der Wirklichkeit aus, wozu dienen sie? Diese Funktion kann hier nur in gebotener Kürze skizziert werden. Wie der patriarchale oder genealogische und der naturalistische Geschlechterbegriff zeigen, sind ihre Deutungsmuster auf die Beziehungen der Menschen in der Familie ausgerichtet, einer Institution insbesondere der westlichen Zivilisation, die bis heute ein patriarchales Gepräge hat. Der feministische Ansatz hat diese Fokussierung aufgegeben und stattdessen die Gesellschaft als – allerdings wiederum inhaltsleeres abstraktes – Ganzes in den Blick genommen. Die väterliche Gewalt wurde vermutlich in einem längeren Prozess einem sozialen Zusammenhang oder einer gesellschaftlichen Beziehung aufgeprägt, in dessen bzw. deren Mittelpunkt „Kinder“ mit ihren „Müttern“ standen, welche die Funktion wahrnahmen, für das Heranwachsen der nachfolgenden Generation Sorge zu tragen. Dieser Zusammenhang wurde in einen herrschaftlichen Zwangsverband verwandelt, in dessen Mittelpunkt nunmehr „Väter“ traten, die Verfügungsgewalt über Kinder und Ehefrauen ausübten. Der historische Werdegang ebenso wie der gesellschaftliche Charakter dieser väterlichen Verfügungsgewalt in der patriarchalen Familie werden durch die fiktionalen Begriffe Geschlecht und Geschlechterverhältnis verschleiert. Sie dienen dazu, die realen gesellschaftlichen Gewaltverhältnisse natürlichen Körpereigenschaften unterzuschieben. In dieser Vertauschung liegt ihre ideologische Funktion. Indem in der feministischen Geschlechtertheorie diese realen patriarchalen Gewaltverhältnisse dem Blick entzogen und die Geschlechter und ihr Verhältnis ubiquitär im „sozialen Statusgefüge“ einer Gesellschaft angesiedelt werden, nehmen die Fiktionen Geschlecht und Geschlechterverhältnis den Schein von Absolutheit und Allgegenwärtigkeit an, aus denen es kein Entkommen gibt. Hierin liegt ein besonderer – und sicher unbeabsichtigter – Beitrag dieser Theorie zur ideologischen Verschleierung der realen gesellschaftlichen Gewaltverhältnisse. Dem sozialkonstruktivistischen Denken geraten diese Verhältnisse zu anonymen „institutionellen Geschlechterarrangements“ oder gender-“Unterscheidungen hervorbringenden sozialen Prax[...en]“ und die realen Individuen zu blinden Mitwirkenden „an den Prozessen des doing gender“. (Wetterer in Vogel 2005, 59; Gildemeister in Vogel 2005, 75, 77) Diese theoretischen Aussagen sind insoweit nicht von der Hand zu weisen, als sie zweierlei zur Geltung bringen: zum einen, dass die lebendigen Individuen mit Fügsamkeit heischenden gesellschaftlichen Verhältnissen und Autorität beanspruchenden Deutungsmustern konfrontiert sind, und zum anderen, dass ihr Vermögen, die Folgen ihres Tuns abzuschätzen, begrenzt ist. Doch lassen sie außer Acht, dass diesen Individuen immerhin ein solches Vermögen gegeben ist, dass ihnen die realen Verhältnisse immer auch ein Stein des Anstoßes sind und schließlich, dass die vorgegebenen Denkmuster immer auch ihren Widerspruch herausfordern. Das sozialkonstruktivistische Geschlechterkonzept nimmt diese realen gesellschaftlichen Gegensätzlichkeiten nicht zur Kenntnis. Und so geht der feministischen Geschlechtertheorie denn auch der reale Stein des eigenen Denkanstoßes, nämlich die, wie Gildemeister formulierte, „Dienstbarkeit der Frau“ unversehens verloren, wenn der abstrakte Begriff des Geschlechterverhältnisses diesen Stein den Zufälligkeiten eines „sozialen Wandels“ anheimgibt. (Gildemeister in Vogel 2005, 77; vgl. Engels 1962, 75) Auch in dieser Anheimstellung offenbart sich die ideologische Funktion der feministischen Geschlechtertheorie.
Literatur
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Völger, G., (Hrg.), 1997: Frauenmacht und Männerherrschaft, Sie und Er im Kulturvergleich, Köln
[1] „there really are no masculine, feminine, or neuter constructions in most of the grammar. One and the same pronoun is used for ‚he’, ‚she’, ‚it’. Nonetheless, male and female personal names and occupational titels are often prefixed by special particles indicating sex. In Yucatec, these are ‚ah’ for men, and ‚ix’ for women.”
[2] „fairly gender-blind”
[3] „il ignore un ‚genre féminin’ qui serait opposé morphologiquement au ‚masculin’. Là où, dans la nature, les êtres sont distingués par leur sexe, il designe chacun par un terme propre: ‚homme’ se dit ‚lú’ et ‚femme’ ‚mí’ ; ‚jeune homme’ ‚shul’ et ‚jeune fille’ ‚ki.skil’“.
[4] „Plus encore chez les Sémites que chez les Sumériens, la langue traduit [...] une certaine dépréciation du féminin par rapport au masculin: la femme n’est pas l’égale de l’homme, mais quelque chose de secondaire et d’inférieur par rapport à lui.“