Berichte

Die Neugründung Boliviens? Die Regierung Evo Morales

Kassel, 19.-21. Juni 2008

September 2008

Die Teilnahme von rund 100 Personen an der Kasseler Fachtagung zur politischen Situation Boliviens machte das große Interesse am politischen Transformationsprozess in Bolivien deutlich, einem Land, das noch vor wenigen Jahren kaum Beachtung in der sozialwissenschaftlichen Diskussion hervorrief. Die Tagung war Ergebnis eines Projektseminars zu den politischen Veränderungen in Lateinamerika unter der Leitung von Stefan Schmalz. Zwei Schwerpunkte waren von Anfang an festgelegt: Die Ausrichtung einer wissenschaftlichen Fachtagung zu Lateinamerika und die Begleitung eines Schwerpunkthefts der Zeitschrift „Das Argument“ zu den dortigen Linkstendenzen. In der Veranstaltungsreihe Repensar América Latina[1], in dessen Rahmen bereits eine Tagung zu Venezuela stattfand, folgte nun mit Bolivien ein Land, das sich in einem tiefgreifenden Wandlungsprozess befindet, zu dem die sozialwissenschaftliche Forschung jedoch noch am Anfang steht. Somit war der Rahmen für eine sinnvolle Verknüpfung von Wissenschaft und Lehre gegeben.

Auf der Konferenz wurde die aktuelle Situation Boliviens aus thematisch und politisch verschiedenen Blickwinkeln untersucht. Bei der Behandlung soziologischer, politikwissenschaftlicher und ökologischer Fragen wurde immer wieder die Notwendigkeit der Betrachtung der historischen Strukturen des Landes betont. Die Analyse der sozialen Ungleichheit könne folglich nicht ohne die Berücksichtigung der tradierten Disparitäten, die meist entlang der Grenzen ethnischer Zuschreibungen verlaufen, erklärt werden. Tanja Ernst zeigte dabei, dass die indigene Bevölkerung nach wie vor am stärksten von Armut und sozialer Exklusion betroffen ist. Trotz des politischen Wandels, den Pablo Mamani in seinem Beitrag hervorhob, habe sich dieser noch nicht in einer substantiellen Verbesserung ihrer materiellen Lebensbedingungen niedergeschlagen. Gleichwohl habe jedoch ein bedeutender sozio-kultureller Wandel stattgefunden, der sich vor allem im Alltagsleben in Form eines selbstbewussteren Auftretens der indigenen Bevölkerung äußere und der als Mentalitätenwandel aufgefasst werden könne.

In einer immer noch stark agrarisch geprägten Gesellschaft wie der bolivianischen kommt der ‚Landfrage’ eine wichtige Bedeutung für die gesellschaftliche Entwicklung zu. Neben dem Problem des Zugangs zu eigenem Land, das von Juliana Ströbele-Gregor thematisiert wurde, ist vor allem die Frage der Qualität des Bodens von hoher Bedeutung. Luz María Calvo machte deutlich, dass die Gefahr der Desertifikation vor allem Klein- und Subsistenzbauern im Hochland bedrohte, während die qualitativ hochwertigen Böden im Tiefland Boliviens eine hohe Eigentumskonzentration aufweisen. Soziale und ökologische Prekarität verstärken sich demnach in Bolivien gegenseitig.

Stefan Schmalz analysierte die ökonomische Verflechtung Boliviens mit der Weltwirtschaft. Der Ressourcenreichtum des Landes mache es interessant für internationale Investitionen sowohl aus dem Norden (USA, EU) als auch aus Lateinamerika (vor allem Brasilien aber auch Venezuela). Der Rohstoffboom sei dabei eine günstige Ausgangsposition, welche die bolivianische Regierung über die Diversifizierung ihrer Handelsbeziehungen (China, Indien, Naher Osten) zu nutzen versuche.

Mit Spannung wurde das Panel zur neuen Verfassung Boliviens erwartet, auf dem mit Roberto Aguilar, Vizepräsident der verfassungsgebenden Konferenz Boliviens, und Stefan Jost ein Befürworter und ein Kritiker der neuen Verfassung aufeinander trafen. Aguilar verwies auf die bedeutende Ausweitung der Rechte der indigenen Bevölkerung als wesentliche Errungenschaft der neuen Verfassung. Jost sprach dieser hingegen die innere Kohärenz ab und beschrieb sie als Quelle von Rechtsunsicherheiten. Weiterhin sprach er dem Zustandekommen des Textes die demokratische Legitimation ab, was sowohl von Seiten des Fachpublikums, als auch von Aguilar bestritten wurde. Diese sehr politische Auseinandersetzung wurde von Jonas Wolff auf die akademische Ebene zurückgeholt, indem er die klassische demokratietheoretische Fragestellung nach dem Verhältnis von Freiheit und Gleichheit auf die Diskussion um die Verfassung anwandte. Der neue Verfassungsentwurf bedeute eine höhere Gewichtung von Gleichheit und Partizipationsrechten, ohne jedoch eine Gefahr für die liberalen Freiheitsrechte darzustellen.

Einigkeit herrschte auf der Konferenz darüber, dass der Amtsantritt Morales eine wichtige Zäsur in der Geschichte Boliviens darstellt. Die Zunahme des Selbstbewusstseins der indigenen Bevölkerung wurde immer wieder als bedeutende Errungenschaft dieses Prozesses gewürdigt. Der Rassismus der alten Eliten ist dabei ein besonders widerliches Relikt früherer Zeiten. Die Gefahr der Spaltung des Landes – symbolisiert durch die Autonomie- bzw. Separationsbestrebungen im media luna – macht jedoch die Widerstände gegen den politischen Prozess der Regierung Morales deutlich. Neben kulturellen Differenzen, geht es den regionalen Eliten vor allem um die Verhinderung einer tiefgreifenden Landreform und die Verfügungsgewalt über die Erdgaseinnahmen.

Auf der Abschlussdiskussion betonte Fabiola Escárzaga die Notwendigkeit der Kritik an der bolivianischen Regierung, um bestehenden Fehlentwicklungen entgegenwirken zu können. Die Konferenz bot Gelegenheit zur wissenschaftlichen Annäherung an ein Land zu dem bisher nur wenige sozialwissenschaftliche Arbeiten vorliegen und gab die Gelegenheit zur Diskussion des aktuellen politischen Prozesses in Bolivien. Folglich war diese gelungene Veranstaltung ein wichtiger Schritt auf dem Weg der Einlösung der Forderung von Escárzaga.

[1] Ein Kooperationsprojekt zwischen dem Fachgebiet für Internationale und Intergesellschaftliche Beziehungen an der Universität Kassel, der Universität Tübingen, und dem Diálogo Científico