Gestern noch galt der Kapitalismus als „Ende der Geschichte“, heute wird niemand mehr leugnen, dass er ein krisenanfälliges System ist. Das „comeback der Krise“ ist auch Gegenstand dieses Heftes, wobei nicht die Finanzkrise, sondern die Nahrungsmittelkrise des Jahres 2008 im Mittelpunkt steht.
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Aber zuerst zur Finanzmarktkrise: Im August 2007 aus vergleichsweise geringfügigem Anlass – Zahlungsausfälle ‚suboptimaler’ Hypotheken in den USA – entstanden, hat sie sich im September 2008 dramatisch verschärft. Nur massive Staatseingriffe konnten einen Zusammenbruch des internationalen Finanzsystems verhindern. Jörg Goldberg skizziert ihren ökonomischen Hintergrund und diskutiert die Wechselwirkung zwischen Finanzmärkten und Produktionssphäre, die komplizierter ist, als es die in den Medien übliche Gegenüberstellung von Finanzoperationen und ‚Realwirtschaft’ vermuten lässt. Die Perspektiven sind derzeit schwer zu überschauen; die weitergehenden Folgen der Finanzmarktkrise werden Gegenstand eines Z-Heftes 2009 sein.
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Die im Schwerpunkt dieses Hefts behandelte Nahrungsmittelkrise hat zwar ihre eigenständigen Ursachen, ist aber ebenfalls mit der Finanzmarktkrise verflochten. Die internationalen Preise für Nahrungsmittel haben sich in den letzten Jahren verdreifacht und so das weltweite Hungerproblem dramatisch verschärft. Obwohl sie seit dem Höhepunkt Mitte 2008 u.a. im Gefolge der Finanzmarkkrise wieder deutlich gesunken sind – die Finanzanleger haben massiv Kapital abgezogen, was den Anteil der Rohstoffspekulation am Welthunger belegt – bleibt die mittelfristige Tendenz aufwärts gerichtet.
Fred Magdoff gibt einen Überblick über die Verflechtung der aktuellen Nahrungsmittelkrise mit langfristigen, strukturellen Verwerfungen und zeigt, dass Hunger vor allem ein Ergebnis von sozialen Machtungleichgewichten ist. Thomas Fritz untersucht den Zusammenhang von Rohstoffboom, Preissteigerungen und Hunger. Er geht den Ursachen der hohen Nahrungsmittelpreise und den seit Mitte 2008 zu registrierenden Preisrückgängen nach. Er verweist dabei auf langfristig wirkende Faktoren, die ein dauerhaftes Wiederabsinken der Preise unwahrscheinlich machen. Dazu gehört an prominenter Stelle die zunehmende Beanspruchung von Agrarressourcen für die Herstellung von Biosprit. Magdoff charakterisiert 2008 als das „Jahr des großen Hungers“, in dem sich die Zahl der weltweit Hungernden massiv erhöht hat. Wie sich die damit verbundenen Konflikte immer wieder in Hungeraufständen Luft machen, zeigt Klaus Pedersen, der einige Revolten der letzten zwei Jahre untersucht. Die neue Qualität der Aufstände, meint der Autor, besteht in der Internationalisierung ihrer Unterdrückung.
Pia Eberhardt geht auf demokratische Alternativen ein, die vor allem von Bauernbewegungen entwickelt werden. Basis ist der Begriff der Ernährungssouveränität: Ausgehend vom Grundrecht auf Nahrung wird der Zugang zu quantitativ und qualitativ ausreichender Nahrungsmittelversorgung für alle Menschen gefordert, was in der Konsequenz die gesamte Kette der Nahrungsmittelproduktion von der Dominanz kapitalistischer Warenwirtschaft befreien würde. Dass Hunger bei gleichzeitiger Überproduktion als ein Wesensmerkmal der kapitalistischen Agrarwirtschaft zu verstehen ist, behandelt Antonio Andrioli. Er zeigt am Beispiel Brasiliens, wie die bäuerliche Familienlandwirtschaft durch exportorientierte Großagrarier zurückgedrängt wird, wobei es hier insbesondere um Gensojaproduktion für den europäischen Fleischkonsum geht, die mit staatlicher Unterstützung angekurbelt wird. Auf der Grundlage des theoretischen Konzepts des sowjetischen Agrarwissenschaftlers Alexander Tschajanow unterstreicht Andrioli die Bedeutung und die Zukunftsfähigkeit der bäuerlichen Familienlandwirtschaft, auf deren Bedeutung für Alternativen der Nahrungsmittelproduktion und -versorgung in der Dritten Welt auch Eberhardt aufmerksam macht.
Uwe Hoering zeigt, wie der mit dem Anstieg der Nahrungsmittelpreise verbundene Bedeutungsgewinn der Agrarfrage den Konflikt zwischen bäuerlicher Landwirtschaft einerseits und internationalem Agrobusiness andererseits verschärft hat. Er sieht heute Chancen, das Potenzial der bäuerlichen Landwirtschaft im Kampf gegen den Hunger zu nutzen und deren Verteidigung mit sozialen Bewegungen gegen die kapitalistische Globalisierung zu verbinden. Christa Wichterich verweist auf die Gender-Dimension dieser Kämpfe: Frauen, die in der Agrarproduktion eine zentrale Rolle spielen, folgen in ihrem ökonomischen Handeln einer Versorgungslogik, die untrennbar mit der Bewahrung lokaler Biodiversität verbunden ist. Da Frauen, wie auch Parto Teherani-Krönner zeigt, in den hungeranfälligen Ländern der Dritten Welt den Großteil der Nahrungsmittel produzieren, wird die Nahrungsmittelkrise nur dann gelöst werden, wenn Frauen besseren Zugang zu ländlichen Ressourcen erhalten.
Einen anderen Aspekt behandelt der Beitrag von Armin Paasch: Am Beispiel von Ghana wird deutlich, wie die Handelspolitik der EU mit dem subventionierten Export von Nahrungsmitteln lokale Produktion vernichtet und so die eigentliche Ursache der Hungers, nämlich den Mangel der Armen an Kaufkraft, vergrößert.
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Aktuelle und theoretische Aspekte von Staat, Recht und Demokratie sind Thema der Beiträge von Peter Römer, Ulla Plener und Andreas Wehr.
Peter Römer nimmt die Auseinandersetzungen um den von der SPD als zukünftigen Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts vorgeschlagenen, aber nicht gewählten Juristen Dreier (der das Gebotensein der Folter als verfassungsrechtliche Möglichkeit ins Spiel gebracht hatte) zum Anlass für grundsätzliche Überlegungen zur Stellung des Bundesverfassungsgerichts im bundesdeutschen Machtsystem. Ulla Plener erörtert mögliche Wege der allmählichen Transformation der kapitalistischen Verhältnisse in eine demokratische, sozial gerechte und humane Gesellschaft. Sie knüpft dabei an Überlegungen zu Wirtschaftsdemokratie und „Sozialisierung von unten“ an, die u. a. in Denktraditionen der westeuropäischen Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung des 20. Jahrhunderts wurzeln und im Zusammenhang mit dem Konzept der „Wirtschaftsdemokratie“ entwickelt wurden. Andreas Wehr gibt einen Überblick zu Domenico Losurdos inzwischen auf deutsch vorliegender Studie Demokratie oder Bonapartismus, in der die unterschiedlichen Staatsformen der bürgerlichen Gesellschaft, insbesondere die Geschichte der USA, Frankreichs, Großbritanniens, Deutschlands und Italiens der letzten 200 Jahre, unter herrschaftstheoretischen Gesichtspunkten untersucht werden. Dabei steht das Wahlrecht im Mittelpunkt.
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Weitere Beiträge: Kai Schmidt-Soltau analysiert in seinem Beitrag den Handel mit CO2 Emissionen. Dabei fragt er zum einen nach der ökonomischen Struktur dieses Handels. Zum anderen analysiert er anhand historischer und aktueller Fragen, wie der Umgang mit natürlichen Ressourcen eingebunden ist in spezifische koloniale und halbkoloniale Herrschaftsstrukturen. Vor allem denkt er die mit der Handelbarkeit von Verschmutzungsrechten eingeleitete Kommerzialisierung der Luft konsequent zu Ende.
Mit der Implosion der realsozialistischen Staaten sah sich das sozialistische Kuba Anfang der 1990er seiner wichtigsten Wirtschaftspartner beraubt. Eine lang anhaltende Krise setzte ein. Ist nun das Ende dieser Krise in Sicht, fragen Johannes M. Becker und Steffen Niese? Ihre These lautet: Nur wenn die ökonomische Konsolidierung auch eine veränderte Qualität der Produktion mit einschließt und sich mit Demokratisierungsprozessen verbindet, ist Kuba in der Lage, die Misere endgültig zu überwinden.
Aus Anlass von Lessings Geburtstag, der sich im Januar 2009 zum 280. Mal jährt, veröffentlichen wir das Lessing-Kapitel aus Wolfgang Försters kürzlich erschienener Einführung in die Geschichte der klassischen deutschen Philosophie (bei Peter Lang, Frankfurt/M. 2008), in dem der Verfasser „Lessing als Kulminationspunkt der deutschen Aufklärung“ vorstellt.
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Pia Eberhardt ist für die Beteiligung an der Redaktion des Schwerpunkts dieses Heftes herzlich zu danken. Z 77 (März 2009) wird u.a. Aspekte der Geschichte der Arbeiterbewegung, insbesondere der 90 Jahre zurückliegenden Novemberrevolution und ihrer Aktualität, behandeln. Dazu gehören auch Beiträge von der von Z mitgetragenen Tagung in Köln (1. November 2008) „90 Jahre Novemberrevolution – Was bedeutet es heute, revolutionär zu sein?“. Wir machen auf das Ende Februar/Anfang März stattfindende 2. Winterkolloquium der Heinz-Jung-Stiftung aufmerksam, das wieder in Verbindung mit dem Marxistischen Arbeitskreis (MAK) Marburg und Z veranstaltet wird und diesmal der Einführung in die Kritik der Politischen Ökonomie gewidmet ist.