Egal, ob man das deutsche Wort „Hungerrevolte“ oder den englischen Begriff „Food Riot“ bevorzugt – beide Begriffe charakterisieren die Erscheinung nur unvollkommen. Walton und Seddon (1994) belegten eindrucksvoll, dass in der Vergangenheit zwar eine enge allgemeine Beziehung zwischen Food Riots und Preiserhöhungen für bzw. Verknappungen von Lebensmitteln bestand. Eine unmittelbare zeitliche Verknüpfung zu Hunger als sozialem Phänomen (Hungersnot) bestand jedoch oftmals nicht. Die beiden Autoren, die sich vor allem mit den Food Riots der 70er und 80er Jahre im Kontext der vom Internationalen Währungsfonds (IWF) verordneten Strukturanpassungsprogramme befassten, kamen zu dem Schluss, dass der Zugang zu Lebensmitteln in der Regel nur einer von mehreren Gründen für den Ausbruch von Hungerrevolten war.
Was sind „Hungerrevolten“?
Food Riots haben eine Jahrhunderte alte Tradition. Vieles, was Walton und Seddon für die 70er und 80er Jahre beschreiben, trifft auch auf die aktuellen Vorgänge zu. Auch die Food Riots des 18. und 19. Jahrhunderts in England und Frankreich lassen sich mit den aktuellen vergleichen. Sie begleiteten gleichermaßen den Wirtschaftsliberalismus des 18./19. Jahrhunderts wie den Neoliberalismus des ausgehenden 20. und beginnenden 21. Jahrhunderts. So, wie Food Riots vor 100-200 Jahren eine Form des collective bargaining waren, bringen heute die betroffenen Bevölkerungsteile afrikanischer, asiatischer und lateinamerikanischer Länder mit Hungerrevolten bestimmte gesellschaftliche Rahmenbedingungen zur Verhandlung.
Aus Sicht der Massenmedien stellt sich das anders dar. Ihnen zufolge haben Hungerrevolten, wie Charlotte Wiedemann (2008) beschreibt, „keine Akteure, ... es ist der Hunger selbst, der revoltiert. Er bemächtigt sich der Menschen, lässt ihnen keine andere Wahl, als um sich zu schlagen. Ein dramatisches, bebendes Wort; ... es nimmt denen, auf die es gemünzt wird, leicht ihre Würde, macht sie zu bloßen Opfern, zu Getriebenen auf dem primitivsten Niveau menschlichen Aufbegehrens.“ Doch entgegen dieser gemeinhin in den Massenmedien anzutreffenden Darstellung sind Food Riots eben gerade das nicht: chaotische Gewaltausbrüche. Oftmals handelt es sich um die „mobilisatorische“ Ausnutzung einer zugespitzten Situation im Kontext länger währender politischer und gewerkschaftlicher Kämpfe. Trotzdem waren und sind die im Rahmen von Hungerrevolten erhobenen Forderungen in der Regel eher bescheiden bzw. auf kurzfristige Ziele orientiert (Walton und Seddon, S. 29).
Die spezifischen Wurzeln der Hungerrevolten der 1970er und 80er Jahre liegen nach Ansicht von Walton und Seddon in der internationalen Schuldenkrise und den daraus resultierenden Strukturanpassungsprogrammen (S. 23). Für diese Autoren ist das höhere Maß an Gleichzeitigkeit von Food Riots in verschiedenen Teilen der Welt ein besonderes Charakteristikum der modernen Hungerrevolten. Sie betrachten selbige als eine Art „Wiederholung“ nationaler Geschichte (des 18./19. Jahrhunderts) im internationalen Maßstab. Kaum überraschend, hat sich gerade dieses Merkmal weiter verstärkt. Unter Fortbestehen des Kausalzusammenhangs mit Schuldenkrise und Strukturanpassungsprogrammen kommt spätestens seit 2007 der Komplex „Ernährungskrise“ als verschärfendes Element hinzu. Dabei ist hinlänglich bekannt, dass die Ernährungskrise keine globale Produktionskrise, sondern eine Preis- und Verteilungskrise ist, deren aktuelle Ursachen, vereinfacht und grob zusammen gefasst, in Börsenspekulation und beginnender Agrotreibstoff-Bonanza zu suchen sind. Das wird auch dadurch unterstrichen, dass in einem Land wie Mali, dessen landwirtschaftliche Produktion in stärkerem Maße als die anderer Länder Länder auf die Selbstversorgung mit Nahrungsmitteln orientiert ist, die globale Ernährungskrise bislang relativ geringe Auswirkungen hatte. Gleichermaßen war die „Tortillakrise“ in Mexiko vom Januar/Februar 2007 in den südlichen Bundesstaaten Oaxaca, Chiapas (deren Bewohner zu einem größeren Anteil Selbstversorger sind), weniger zu spüren als im Norden Mexikos, der seit Jahren mit hochsubventioniertem US-amerikanischem Mais überschwemmt wird, welcher sich aufgrund des Agrotreibstoffbooms in den USA plötzlich verteuerte.
Hungerrevolten 2007/2008
Obwohl sich ein außerordentlicher Anstieg der weltweiten Nahrungsmittelpreise spätestens im Laufe des Jahres 2007 deutlich abzeichnete, begann die Welternährungsorganisation (FAO) erst im März 2008 öffentlich über eine globale Ernährungskrise zu sprechen. Die ersten Berichte über Food Riots waren zu diesem Zeitpunkt bereits wieder aus den Schlagzeilen verschwunden, sollten aber einen Monat später umso heftiger zurückkehren. In den beiden letzten Jahren gab es Hungerrevolten in nahezu 40 Ländern (GRAIN, 2008). Dazu gehörten Afghanistan, Ägypten, Bangladesh, Burkina Faso, Elfenbeinküste, Gabun, Guinea, Haiti, Honduras, Indien, Indonesien, Jemen, Kamerun, die Demokratische Republik Kongo, Marokko, Mauretanien, Mexiko, Mocambique, Sao Tome und Principe, Senegal, Somalia, Tunesien und Usbekistan. Andere Länder, wie die Philippinen, zählten nicht zu den „Riot“-Ländern, doch wurden dort Löschung und Binnentransport von Reislieferungen massiv militärisch abgesichert (die Philippinen müssen einen Großteil ihres Reisbedarfs durch Importe abdecken).
Tabelle 1 gibt einen chronologischen Überblick für ausgewählte Länder. Aus dieser Übersicht wird u. a. ersichtlich, warum Hungerrevolten gerade in den Monaten März und April 2008 in das öffentliche Bewusstsein der Länder des Nordens vordrangen und warum bei den Institutionen und Thinktanks der Herrschenden zeitweise die Alarmglocken schrillten: Innerhalb von zwei Wochen flammten Food Riots in mindestens sieben Ländern auf – ein bedrohlich erscheinendes Szenario globaler Instabilität.
Die Kette der Ereignisse riss Ende Mai nicht ab. Den Tagesnachrichten waren für Juni Proteste in Guatemala, Indien, Indonesien, Kolumbien, Malaysia, Nepal, Südkorea und Thailand sowie erneut in Ägypten und Burkina Faso zu entnehmen.
Tabelle 1: Hungerrevolten 2007/2008 (Auswahl)
Land Tag/Beginn der Erhebung
Lokalisation
31.01. 2007
Mexiko
Mexiko-Stadt u.a. Städte
23.09. 2007
Marokko
Sefrou und weitere Städte
16.09. 2007
Indien
Westbengalen
08.11.2007
Mauretanien
mehrere Städte
Januar 2008
Tunesien
Region Gafsa
25.02.2008
Kamerun
landesweit
30.03. 2008
Senegal
Dakar
30.03. 2008
Jemen
Dhala
31.03. 2008
Elfenbeinküste
Abidjan
03.04. 2008
Haiti
landesweit
06.04. 2008
Ägypten
landesweit, bes. Malhalla
08.04. 2008
Burkina Faso
die vier größten Städte
11.04. 2008
Bangladesh
Dhaka
05.05. 2008
Somalia
Mogadischu
31.05. 2008
Kenia
Nairobi
Nachfolgend wird versucht, mit einer näheren Betrachtung ausgewählter Bespiele die Unterschiede und Gemeinsamkeiten der Ereignisse in den einzelnen Ländern zu charakterisieren. Die Darstellung folgt der globalen Chronologie des Geschehens.
Marokko[1]
In Marokko verdient, obwohl vom Umfang her relativ gering, die Erhebung am 23. September 2007 in Sefrou, einer Stadt in der Nähe von Fés, besondere Erwähnung. Hier wurden die Proteste von der urbanen Bevölkerung und den Bewohnern der umliegenden Dörfer gemeinsam artikuliert. Walton und Seddon (1994) stellten im Rahmen ihres historischen und zeitgeschichtlichen Rückblicks fest, dass gemeinsame Proteste der städtischen und ländlichen Bevölkerung eher die Ausnahme waren. Zwischen 2.500 und 4.000 DemonstrantInnen, vor allem Frauen und Jugendliche, versuchten zur Präfektur der Stadt zu gelangen, was durch den Einsatz von Polizei und Militär gewaltsam verhindert wurde. Die Bilanz des Tages waren 300 Verletzte, davon 20 schwer, sowie Dutzende von Festnahmen. Ansonsten verliefen die September-Proteste, die auch in mehreren anderen Städten Marokkos stattfanden, eher typisch: Ausgelöst wurden sie durch die offizielle Ankündigung einer Erhöhung des (staatlich subventionierten) Brotpreises um 30 Prozent am 10. September. Aber auch die gestiegenen Preise von Kaffee, Tee, Zucker und Milch – die während des moslemischen Fastenmonats Ramadan, in dem nach Sonnenuntergang Speisen und Getränke feierlich eingenommen werden, besondere Bedeutung haben – sowie die Verteuerung von Strom, Wasser und Gesundheitsversorgung wurden auf den Demonstrationen thematisiert. Zu den Initiatoren der Proteste gehörte die seit 1979 existierende marokkanische Menschenrechtsorganisation Association marocaine des droits humains (AMDH), die zunehmend das Recht auf Nahrung als grundlegendes Menschenrecht zum Gegenstand ihrer Arbeit macht. Das „Typische“ war, dass die Proteste massiv unterdrückt wurden – gefolgt von Zugeständnissen an die Demonstranten. Die Erhöhung des Brotpreises wurde Ende September zurück genommen.
Kamerun
In Kamerun wurde nicht gehungert, als im Februar Unruhen ausbrachen. Sie mündeten in einen spontanen Generalstreik, der das Land eine Woche lang weitgehend paralysierte. Im Kern wurde der Protest von einer weitgehend „anonymen Masse“ Jugendlicher (meist mit Abitur oder Realschulabschluss) getragen, die sich als Moped-Taxifahrer mehr schlecht als recht durchs Leben schlagen (Peltzer 2008). Laut Wiedemann (2008) soll es allein in Kameruns Wirtschaftsmetropole Douala 42.000 dieser Moped-Taxifahrer geben. Ende Februar waren die Benzinpreise erheblich angestiegen, was den ohnehin angestauten Frust über die allgemeine Teuerung und die von Präsident Paul Biya beabsichtigte Verfassungsreform so weit vergrößerte, dass es zur sozialen Explosion kam. Ursprünglich war der Streik von mehreren Transportgewerkschaften ausgerufen worden, die jedoch einen Tag später ihren Aufruf ängstlich zurücknahmen. Die zornigen jungen Männer hörten jedoch nicht darauf. Über Mobiltelefone gut vernetzt, hatten die Moped-Taxifahrer weder eine sichtbare Struktur noch erkennbare Führungspersönlichkeiten, auch keine nach außen vorgetragenen Forderungen. Doch sie koordinierten die Proteste so effektiv, dass die Millionenstadt Douala am Morgen des 25. Februars innerhalb einer Stunde lahm gelegt war. Diese Jugendlichen gehören laut Peltzer nicht zu den extrem marginalisierten Bevölkerungsteilen, sind aber ohne Perspektive und „im Übrigen auch diejenigen, die sich am ehesten an die Küsten Senegals und Mauretaniens aufmachen, um nach Europa zu gelangen.“ Binnen kurzem breitete sich der Streik auf die zehn größten Städte aus, es kam zur Blockade der großen Überlandstraßen, und selbst der internationale Flughafen von Douala war zeitweise geschlossen. „Die Armee rückt aus, Kamerun befindet sich im Ausnahmezustand. Im Laufe der nächsten Tage werden 44 öffentliche Gebäude verwüstet, Rathäuser, Polizeikommissariate, Steuerbüros; Dutzende Tankstellen gehen in Flammen auf“, so Wiedemanns Beschreibung der Situation. Laut Le Monde (zitiert bei Schmid 2008) wurde „keiner einzigen ‚weißen’ Person ein Haar gekrümmt“, aber es kam zu zahllosen Attacken auf französische Firmen und auf Firmen, die zum Clan des verhassten Präsidenten Paul Biya gehörten. Die aufgebrachte Bevölkerung offenbarte damit ein grundlegendes Verständnis für die tieferen Ursachen ihrer Misere. Vieles aus diesen Februartagen in Kamerun ist typisch für die Eskalation sozialer Kämpfe in Afrika. „In Europa zielt ein Streik auf eine formell strukturierte Wirtschaft mit organisierter Produktion, mit festen Arbeitsplätzen und Arbeitszeiten. In Afrikas viel informellerer Wirtschaft ist der Streik nur eine Initialzündung. Um Druck zu machen, müssen die Streikenden schnell zulegen, müssen die Konfrontation suchen.“ (Wiedemann 2008) Nach vier Tagen ist die Revolte im Blut erstickt. Die mit massiver Gewalt unterdrückten Proteste (es gab laut Wiedemann keine abgestufte Taktik der Sicherheitskräfte) kosteten offiziellen Angaben zu Folge 40 Menschenleben. Nach Einschätzung der kamerunischen Menschenrechtsorganisation Maison des Droits de L’Homme waren es nahezu 200 Personen. Hinzu kamen Dutzende Schwerverletzte und 1.500 im Schnellverfahren Verurteilte. Das einzige unmittelbare Zugeständnis im Ergebnis dieses Aufstands war die ohnehin überfällige Erhöhung der Gehälter von 150.000 Staatsbediensteten.
Senegal[2]
Die Mobilisierung zu den Protesten in Senegal, die am 30. März 2008 stattfanden, wurden von zwei großen Verbraucherverbänden getragen, der Association des Consommateurs du Sénégal (ASCOSEN) und der Union Nationale des Consommateurs du Sénégal (UNCS). Die Verbraucherverbände reagierten damit auf die akute Erhöhung der Lebenshaltungskosten. Der Milchpreis hatte sich innerhalb weniger Monate verdoppelt, und der Preis für einen Sack Reis war im gleichen Zeitraum um das Anderthalbfache gestiegen. Für den vorletzten Tag des Monats März hatten die beiden Verbände eine Demonstration und ein Sit-In angemeldet. Beides war nicht genehmigt worden. Daraufhin luden die Verantwortlichen der beiden Verbände, Momar Ndao für ASCOSEN und Jean-Pierre Dieng für UNCS, zu einer „öffentlichen Pressekonferenz“ ein und setzten sich an die Spitze eines Marsches, der zum Ort dieser öffentlichen Pressekonferenz führen sollte. Als die beiden dabei verhaftet wurden, kam es zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen der Bevölkerung und den Sicherheitskräften. Noch Tage später befanden sich 24 Personen in Haft. Momar Ndao und Jean-Pierre Dieng wurden trotz massiver Unterstützung durch zwölf Anwälte als Verantwortliche für die nicht genehmigte Protestveranstaltung in einem Schnellverfahren zu je einem Monat Haft auf Bewährung verurteilt – für Senegal ein Besorgnis erregender Präzedenzfall. Seinerseits kündigte Präsident Abdoulaye Wade in einer Rede am 4. April 2008 an, dass die Behörden verstärkt gegen Spekulationen der Geschäftsleute vorgehen werden, und dass der Staat weiterhin Grundnahrungsmittel und Güter des täglichen Grundbedarfs subventionieren wird (die Einhaltung dieser Versprechen wurde für den vorliegenden Beitrag nicht recherchiert).
Elfenbeinküste[3]
Die Ereignisse am 31. März 2008 in Abidjan, der größten Stadt der Elfenbeinküste, waren relativ spontaner Natur. Zugleich erhellen sie schlaglichtartig den Prozess der Eskalation derartigen Geschehens. Zunächst versammelten sich im Kleine-Leute-Viertel Yopougon zahlreiche Frauen mit leeren Kochtöpfen und Essensschüsseln, um ihrem Ärger über die gestiegenen Lebensmittelpreise Luft zu machen. Zu ihnen gesellten sich weitere Personen. Die inzwischen erschienenen Sicherheitskräfte zeigten sich nervös, was zu wachsender Militanz der Protestteilnehmer führte. Straßenkämpfe zwischen einigen hundert Protestierenden und den Aufstandsbekämpfungseinheiten der Polizei brachen aus, Barrikaden wurden errichtet, Fahrzeuge und Reifen brannten. Schließlich hinterließ die gewaltsame Auflösung der Demonstration zwei Tote und 10 Schwerverletzte. Danach verabschiedete der Präsident, Laurent Gbagbo, ein Dekret, durch dass sich der Preis für einen Sack Reis halbierte.
Haiti
Die gegen die gestiegenen Lebensmittelpreise gerichteten Proteste begannen am 3. April 2008 in Les Cayes, der drittgrößten Stadt Haitis und griffen auf die Städte Petit-Goagve, Gonaives und Aquin über. Am 7. April erreichten sie die Hauptstadt Port-au-Prince und kulminierten einen Tag später. Reifen brannten, Barrikaden wurden errichtet, zahlreiche Lebensmittelgeschäfte geplündert, Gebäude angegriffen und verwüstet, der Verkehr kam tagelang zum Erliegen. Seit der Amtszeit des Interim-Premierministers Gérard Lartortue (2004-2006) war ein kontinuierlicher Anstieg der Lebenshaltungskosten (Mieten, Lebensmittel, Transport) zu verzeichnen – Ergebnis des im Juli 2004 verabschiedeten Strukturanpassungsprogramms Cadre de Cooperation Intérimaire (Schuller 2008). Schließlich, im Februar 2008, schlug das World Food Programme Alarm und informierte, dass 96 Millionen US-Dollar notwendig seien, um die ärmsten 20 Prozent der Bevölkerung Haitis mit dem Nötigsten zu versorgen. Bis Ende Mai kamen jedoch nur 12,4 Millionen zusammen – ein starker Kontrast zu den 535 Millionen US-Dollar, die für den MINUSTAH-Einsatz[4] allein im Jahr 2007 ausgegeben wurden (Marischka 2008). In Übereinstimmung mit dieser Prioritätensetzung ließen Sicherheitsrat und UNO-Generalsekretär die Erschießung von mindestens vier Menschen durch die UN-Truppen unerwähnt, als sie die Gewalt der Demonstranten in ihren Erklärungen vom 8. bzw. 9. April 2008 verurteilten. Als Konsequenz aus den Ereignissen trat am 12. April der Premierminister Jacques Edouard Alexis zurück – ein Schritt, der für die Bevölkerung nichts gebracht hat und dem rechten Flügel der politischen Klasse Haitis mehr Spielraum verschafft hat. Zu einer Entspannung der Lage ist es nicht gekommen. Vielmehr hat sich die Situation durch mehrere Tropenstürme, die über Haiti hinwegfegten, weiter verschärft. Neben mindestens 800 Todesopfern ist die Zerstörung von 60 Prozent der landwirtschaftlichen Nutzfläche Haitis zu beklagen.
Ägypten[5]
Die „Food Riots“ und der für den 6. April 2008 ausgerufene Generalstreik (seine Befolgung blieb im autoritär regierten Ägypten mit seinen zensierten Medien schwer zu beurteilen) hatten eine längere Vorgeschichte sozialer Mobilisierungen, die bis in das Jahr 2003 zurück gehen. Seit dieser Zeit nahm die Zahl der Arbeitskämpfe kontinuierlich zu. Waren es 2003 noch weniger als 200 Streiks und Demonstrationen, kam es im Jahr 2007 zu 580 Aktionen. Die Proteste nahmen auch an Breite zu. Zuletzt streikten selbst Staatsbedienstete (die Steuerbeamten). Bei dem Generalstreik am 6. April und den gewaltsamen Ausschreitungen in der Textilindustriestadt Mahalla an diesem Tag, kam vieles zusammen: Die Empörung über die bevorstehenden Scheinwahlen zur Machtfortschreibung von Präsident Mubarak am 8. April, die exorbitant gestiegenen Lebensmittelpreise (von Januar bis April 2008 stiegen die Lebensmittelpreise um durchschnittlich 50 Prozent, dem war bereits eine 33-prozentige Verteuerung der Fleischpreise in 2005 und 2006 vorangegangen), die zahllosen Korruptionsskandale und – in Malhalla – der ganz konkrete Kampf um Lohnerhöhungen in der Misr-Spinnerei und -Weberei mit ihren 23.000 ArbeiterInnen. Landesweit beteiligten sich nur wenige Oppositionsparteien an der Mobilisierung zum Generalstreik. Die stärkste Oppositionspartei, die Moslembrüderschaft, erklärte zwar ihre Unterstützung, erläuterte aber zugleich, dass sie sich nicht aktiv beteiligen würde. Insgesamt gab es zwischen 500 und 700 Festnahmen. Mubaraks Büttel waren überall aktiv, besonders aber in Malhalla. Sieben Tote und Hunderte Verletzte waren dort nach den Zusammenstößen zwischen Arbeitern und der schwer bewaffneten Polizei zu beklagen. Trotzdem machte Mubarak bereits im Vorfeld Zugeständnisse, indem er versuchte, dem Generalstreik am 2. April durch ein Dekret den Wind aus den Segeln zu nehmen, mit dem die Importzölle für 111 Produkte abgeschafft oder reduziert wurden.
Burkina Faso[6]
Dem Generalstreik am 8. und 9. April 2008, der als „enormer Mobilisierungserfolg“ gewertet wurde, waren am 15. März große Kundgebungen in mehreren Städten vorausgegangen, zu denen eine nationale Koordination, bestehend aus Gewerkschaftszentralen, autonomen Gewerkschaften sowie Gruppierungen sozialer Bewegungen, aufgerufen hatte. Davor, Ende Februar, gab es in den größten Städten des Landes – Banfora, Bobo-Dioulasso, Ouhigouya und der Hauptstadt Ouagadougou – militante Proteste gegen die drastisch steigenden Lebensmittelpreise. Während dieser Proteste griffen die DemonstrantInnen Regierungsgebäude an und setzten Geschäfte, Autos und Tankstellen in Brand. Eine Regierungsdelegation wurde mit Steinwürfen verjagt. Die Antwort des Regimes von Blaise Compaoré, der die Volksregierung von Thomas Sankara 1987 durch einen Putsch beseitigt hatte, entsprach dem Muster „Terror und Zugeständnisse“. Die Sicherheitskräfte schritten in der zu erwartenden Weise ein. Während des Generalstreiks kam es laut Polizeiangaben zu 264 Verhaftungen. Zugleich wurden Preissenkungen bzw. Preisfestschreibungen verkündet, die Importzölle für Nahrungsmittel wurden gesenkt. Ein Teil der strategischen Notvorräte der Regierung wurde in Umlauf gebracht, um die Nahrungsmittelpreise zu senken, und es gab eine „informelle“ Blockade von Lebensmittelexporten. Vom 13. bis zum 15. Mai kam es zu erneuten Protesten.
Schlussfolgerungen und Ausblick
Die Geschehnisse der letzten zwei Jahre stellen eine Fortsetzung der von Walton und Seddon (1994) beschriebenen Food Riots der 1970er und 1980er Jahre dar, wenngleich in einer neuen Qualität. Das von diesen Autoren herausgearbeitete Merkmal der „Gleichzeitigkeit“ von Hungerprotesten hat sich erheblich verstärkt, insbesondere vor dem Hintergrund der globalen Ernährungskrise. Die „bewährte“ Mischung aus „Terror und Zugeständnissen“ war bei den meisten Protesten zu verzeichnen. Nach übereinstimmenden Einschätzungen verschiedenster Institutionen (OECD, FAO u.a.) werden die Lebensmittelpreise in den kommenden Jahren hoch bleiben. Die Folgen sind absehbar. Bis zu den nächsten Food Riots ist es nur eine Frage der Zeit.
Die neue Qualität besteht in der Internationalisierung der Unterdrückung derartiger Proteste. Dies war im Fall des „Failed State“ Haiti besonders augenfällig. Ein weiteres Beispiel ist Afghanistan. Die Unterstützungsmission der Vereinten Nationen in Afghanistan (UNAMA) erklärte im Mai: „Infolge der höheren Lebensmittelpreise ist es für Millionen Afghanen äußerst problematisch, sich überhaupt zu ernähren“, und fuhr mit Blick auf „die praktischen Sicherheitsfragen“ fort, dass diese sich auf Demonstrationen bezögen sowie möglicherweise auf eine steigende Gefahr, dass junge Männer sich von regierungsfeindlichen Elementen rekrutieren ließen.[7] Einen interessanten Einblick in ihre Denkweise offenbarte die UNAMA mit der Äußerung, dass die Demonstrationen „auch auf das mangelnde Bewusstsein der breiten Öffentlichkeit in Afghanistan zurückzuführen sind, dass die steigenden Lebensmittelpreise Teil eines globalen Phänomens sind.“ Sprich, wenn die Menschen in Afghanistan nur wüssten, dass die Preise auch in weiteren 30 Ländern des Trikonts ebenso dramatisch gestiegen sind, müssten sie eigentlich von Protesten Abstand nehmen.
Im Online-Magazin der NATO, dem NATO-Brief, forderte der stellvertretende Generaldirektor der FAO, José María Sumpsi Viñas, mit Blick auf die Zukunft das „Einbeziehen von ernährungsbezogenen Unruhen in die Konflikt-Frühwarnsysteme“ und „Überlegungen, wie Behörden und Missionen zur Friedensförderung (d.h. Militäreinsätze, K.P.) besser mit Massenaufständen umgehen können.“[8] Eine weitere, Internationalisierung der Bekämpfung von Hungerrevolten stellen die Kurse im Center of Excellence for Stability Police Units (COESPU) in Vicenza/Italien dar. Hier werden hohe Polizeibeamte aus Ländern der „Dritten Welt“ von italienischen Carabinieri trainiert. Kursteilnehmer waren bislang Polizeioffiziere aus Kamerun, Kenia, Pakistan und Senegal, also Ländern, wo Hungerproteste brutal unterdrückt wurden (Marischka 2008). Diese neuen Trends, verweisen darauf, dass in den globalen Machtzentren mehr Wert auf die „Kontrolle“ der Ernährungskrise gelegt wird als auf deren Lösung.
Literatur
GRAIN (2008): Getting out of the Food Crisis. Seedling, July 2008.
Marischka, Christoph (2008): Haiti und der Krieg gegen die Armut. Ausdruck - IMI-Magazin Juni 2008, S. 20-21.
Peltzer, Roger (2008): Neue Brotaufstände? Die Proteste in Kamerun. Im Schatten steigender Lebensmittel- und Ölpreise, in: Informationsbrief Weltwirtschaft & Entwicklung, 4.3.2008.
Schmid, Bernhard (2008): Die Biokraftstoffe sind nicht die Banditen. Telepolis, 10.6.2008.
Schuller, Mark (2008): Haitian Food Riots Unnerving, but not Surprising. Americas Policy Program Special Report, 25.4.2008.
Walton, John, Seddon, David (1994) Free Markets & Food Riots. The Politics of Global Adjustment. Oxford UK & Cambridge USA.
Wiedemann, Charlotte (2008): Dunkle Krawalle. Freitag Nr. 27, 4.7.2008.
[1] http://www.labournet.de/internationales/ma/index.html
[2] http://www.labournet.de/internationales/sn/index.html
[3] http://www.labournet.de/internationales/sn/bernard.html
[4] MINUSTAH: United Nations Stabilization Mission in Haiti - ein Stabilisierungsprogramm, bei dem 7.000 UN-Soldaten und bis zu 2.000 Polizisten im Einsatz sind.
[5] http://www.labournet.de/internationales/eg/index.html
[6] http://www.labournet.de/internationales/bf/index.html
[7] http://www.nato.int/docu/review/2008/05/FS_AFGHANISTAN/DE/index.htm
[8] http://www.nato.int/docu/review/2008/05/FS_HUNGRY/DE/index.htm