Die Zeichen für die Rückkehr der Agrarfrage auf die politische Agenda haben sich in den vergangenen Jahren gehäuft: Zahllose Strategie- und Politikpapiere internationaler Entwicklungs- und Finanzorganisationen (siehe Hoering 2007a), Konferenzen und Tagungen und nicht zuletzt die spekulativen Preissteigerungen für Grundnahrungsmittel und die Proteste in vielen Ländern haben die zentrale Rolle der Landwirtschaft für Entwicklung, Ernährung und Gerechtigkeit wieder in den Vordergrund der Diskussion gerückt. Ein kurzer Überblick zeigt aber auch, dass die Interessen und Motive der unterschiedlichen Akteure sehr verschieden und in wesentlichen Punkten gegensätzlich sind.
Die Rückkehr der Landwirtschaft auf die politische Agenda
Vom Weltentwicklungsbericht 2008 der Weltbank (World Bank 2007) über die OECD (2006) bis hin zum sogenannten Weltagrarrat IAASTD (2007) wird überzeugend nachgewiesen und argumentiert, dass ein business-as-usual-Ansatz in der Agrarpolitik nicht weiter fortgeführt werden kann. Während diese Wiederentdeckung der Landwirtschaft in der internationalen Entwicklungspolitik bei einer Reihe von entwicklungspolitischen und zivilgesellschaftlichen Organisationen Hoffnungen auf einen höheren Stellenwert der Ernährungskrise und höhere Staatsausgaben für die Landwirtschaft und die ländliche Entwicklung geweckt hat, bezweifeln gleichzeitig viele Beobachter, dass die etwa im Weltentwicklungsbericht vorgeschlagenen Rezepte wirklich helfen werden, Armut und Benachteiligung der bäuerlichen Landwirtschaft zu beseitigen (Forum Umwelt & Entwicklung 2007; FIAN 2008).
Eine weitere zunehmend aktive, wenn auch eher klandestine Akteursgruppe sind die Verbände der Agrarindustrie, unterstützt durch Stiftungen wie Rockefeller und Bill&Melinda Gates, die ihre Bemühungen verstärken, sich jene Bereiche der Landwirtschaft, die bislang noch nicht ihrer Kontrolle unterliegen, zu greifen – angefeuert nicht zuletzt durch die wachsende ökonomische Bedeutung von Agrartreibstoffen. Flankiert und beschleunigt wird ihr Engagement durch internationale Agrarhandelskonzerne und globale Supermarktketten. Kurzum: Industrie, Politik, internationale Finanzinstitutionen, Stiftungen und Handel rücken in einer geradezu konzertierten Aktion an, um den Agrarsektor zu modernisieren, zu entwickeln und zum Motor für Wachstum und Gewinne zu machen. Und: Ach ja: die Armen werden davon auch profitieren, so die Versprechungen.
Gleichzeitig sind die Bauernproteste bei den WTO-Verhandlungen und der Aufschwung internationaler und regionaler Bauernvernetzungen wie La Via Campesina, ROPPA in Westafrika und die Bewegung der Landlosen MST in Brasilien sichtbarer Ausdruck zunehmender Organisierung und Kampfbereitschaft der Kleinbauern, wobei indigene Bevölkerungsgruppen vielfach eine Schlüsselrolle spielen. Die Doha-Runde der Welthandelsorganisation WTO ist nicht zuletzt darüber gestolpert, dass viele Regierungen des Südens – in einer Mischung aus Rücksichtnahme auf diesen Widerstand und Festhalten am Konzept nationaler Ernährungssicherheit – nicht bereit waren, magere Zugeständnisse der Industrieländer in der Agrarpolitik um den Preis weiterer wirtschaftlicher Liberalisierung in anderen Bereichen zu erkaufen.
Der Widerstand ist allerdings noch weit davon entfernt, von der Defensive, etwa gegen Handelsliberalisierung und Patentierung, zur breit gefächerten Umsetzung von Alternativen über zu gehen – doch es gibt diese Alternativen für die Lösung der Ernährungs- und Agrarkrise, wie kaum noch ernsthaft bestritten wird (Brot für die Welt/Greenpeace 2001; Hazell 2007). Umstritten ist jedoch, ob die Rückkehr der Agrarfrage auf die politische Agenda die Perspektiven für diese Alternativen verbessert – wie manche hoffen – oder ob sie nicht gerade die Aussichten für eine Landwirtschaft und ländliche Entwicklung, die Ernährungssouveränität sicher stellen würde, endgültig beseitigen.
Unterschiedliche Formen der Agrarproduktion
Unstrittig ist, dass die kleinbäuerliche Landwirtschaft in Afrika und anderswo neue, umfassende Konzepte braucht, um Produktivität und Produktion zu steigern und die Nutzung der Ressourcen Land, Wasser und Arbeitskraft zu verbessern. Bäuerinnen und Bauern benötigen Landsicherheit durch geeignete Reformen und Wasserversorgung, sie benötigen Saatgut, Dünger und Schädlingsbekämpfungsmethoden. Sie brauchen Geld für Investitionen, für Schulgebühren und Konsumgüter, sie benötigen Beratung, Infrastruktur und Absatzmöglichkeiten. Doch dafür, wie das geschehen soll, gibt es sehr unterschiedliche Ansätze.
Es ist hilfreich sich zu vergegenwärtigen, dass man von sehr unterschiedlichen, wenn auch eng mit einander verknüpften „Welten“ sprechen kann, wenn von „der Landwirtschaft“ die Rede ist. An der Spitze der Pyramide stehen die kommerziellen Betriebe, Plantagen und Großfarmen, die bislang am stärksten von staatlicher und entwicklungspolitischer Agrarpolitik profitierten. Sie sind bereits voll integriert in die Vermarktungsketten und produzieren für den Export und die Supermärkte, Agrounternehmen und den globalen Handel mit agrarischen Rohstoffen. Am unteren Ende steht die Subsistenzlandwirtschaft, stehen die marginalisierten kleinbäuerlichen Betriebe, die kaum mehr produzieren als für ihr eigenes Auskommen notwendig ist. Sie sind oftmals zusätzlich angewiesen auf weitere Einkommen als Tagelöhner oder durch Heimarbeit – eine semi-proletarisierte, marginalisierte Reservearmee billiger, flexibler und weitgehend unorganisierter Arbeitskräfte, vielfach Frauen.
Dazwischen steht die „zweite Welt“, Familienbetriebe und Kleinbetriebe, die traditionell des Rückgrat der ländlichen Ökonomie bilden. Diesen Betrieben, die häufig auch saisonal Tagelöhner beschäftigen, mangelt es vielfach wie den Subsistenzbauern an Kapital, verlässlichem Zugang zu produktiven Ressourcen und Informationen über Markt, Preise und verbesserte Anbaumethoden. Aber sie erzeugen über den Eigenbedarf hinaus Überschüsse, überwiegend für lokale Märkte und kleine Verarbeitungsbetriebe. Mit traditionellen Exportprodukten wie Kaffee, Kakao oder Baumwolle und mit modernen „hochwertigen“ Produkten wie Blumen und Gemüse produzieren sie durchaus auch für den Weltmarkt. Im Unterschied zu den Großbetrieben sind sie mit dem globalen Agrobusiness nicht oder nur sehr punktuell verbunden, allerdings sind sie abhängig von Zwischenhändlern, die ihnen Produktionsmittel liefern und ihre Erzeugnisse abnehmen. Die „Wiederentdeckung der Landwirtschaft“ bezieht sich vielfach direkt oder implizit auf diese „Zweite Welt“ und deren Potenzial.
Die Kleinbauern verschwinden nicht
Noch vor wenigen Jahren wurde das Verschwinden der Bauern vorhergesagt. Der mexikanische Wirtschaftswissenschaftler Ernest Feder etwa sah sie bereits in den 1970er Jahren als eigene „Spezies“ durch die Globalisierung nahezu ausgerottet, der britische Historiker Eric Hobsbawm machte den weltweiten Tod der Bauernschaft als das entscheidende „Modernisierungsereignis“ des 20.Jahrhunderts aus. Hintergrund waren Entwicklungen wie das „Höfesterben“ in Europa und die rasche Expansion der industriellen Land- und Viehwirtschaft, die mit neuen Hochertragssorten, Mechanisierung, großflächigen Monokulturen und Tierfabriken mehr und mehr die landwirtschaftliche Produktion umwälzten und landwirtschaftliche Ressourcen und Märkte beanspruchten. Rein rechnerisch könnten mit diesen Methoden drei Prozent der Weltbevölkerung die Menschheit ernähren – die Kleinbauern würden überflüssig.
Im Gegensatz zur Prognose weigerten sich die Kleinbauern jedoch zu verschwinden. Zwar ging ihr Anteil in den meisten Ländern zurück, viele gaben auf oder wurden abgedrängt und zogen in die Städte. Ein großer Teil aber verschwand lediglich aus dem Blickfeld von Wirtschafts-, Entwicklungs- und Agrarpolitik. Immer noch bietet die bäuerliche Landwirtschaft über zwei Milliarden Menschen ganz oder teilweise ein meist zwar klägliches Auskommen, aber dennoch eine Existenz. In Ländern wie Äthiopien, Indien oder der Demokratischen Republik Kongo hat sich die Zahl der kleinen Höfe in den vergangenen zwei, drei Jahrzehnten sogar mehr als verdoppelt (Nagayets 2005). Die Menschen machen weiter auf schlechteren Böden und in abgelegenen, unzulänglich erschlossenen Regionen – in den Nischen, die ihnen Urbanisierung, Plantagenwirtschaft und infrastrukturelle Großprojekte belassen. Die kleinbäuerliche Landwirtschaft ist abgeschnitten von Informationen und landwirtschaftlicher Beratung (insbesondere nach den von Weltbank und IWF durchgesetzten Strukturanpassungsreformen, die öffentliche Dienste und staatliche Unterstützungsmaßnahmen drastisch reduzierten), von öffentlichen Investitionen in Bewässerung oder Veterinärdienste, von erreichbaren Märkten und politischen Entscheidungen. Ihr fehlt nahezu alles, was die kommerzielle industrielle Landwirtschaft hat – gute Böden, ausreichend Bewässerung und direkte und indirekte finanzielle Unterstützung, zudem förderliche Rahmenbedingungen.
Angesichts dieser Benachteiligung und Vernachlässigung ist die kleinbäuerliche Landwirtschaft, wie sie heute in vielen Regionen der Welt Realität ist, nur mehr ein Schatten ihrer selbst und bleibt weit hinter ihren Möglichkeiten zurück. Trotzdem leistet sie nach wie vor einen wichtigen Beitrag zur Ernährungssicherung, insbesondere auf Haushaltsebene, auf lokaler und regionaler Ebene. Auf kleinen Feldern, unter schwierigen Bedingungen und mit geringen Mitteln produzieren kleinbäuerliche Familienbetriebe fast die Hälfte aller Grundnahrungsmittel, teils für die Selbstversorgung, teils für den Verkauf. Ihr Beitrag zur landwirtschaftlichen Produktion steigt sogar noch an, inbesondere bei Milch, Getreide und der Viehhaltung. Es sind vor allem die Frauen, die Reis, Hirse und Gemüse anbauen und das Kleinvieh versorgen. Aufgrund niedriger Herstellungskosten liefern kleinbäuerliche Betriebe Grundnahrungsmittel zu niedrigen Preisen, was wiederum für die Versorgung der städtischen Bevölkerung – oftmals vermittelt über informelle HändlerInnen und Märkte – mit geringem Einkommen wichtig ist. Sie beliefern damit einen Markt, in den inzwischen auch die Überschüsse der globalen Agrarproduzentenländer sowie die Supermärkte drängen.
Gleichzeitig schließen sich in vielen Ländern Bauern zunehmend zu Genossenschaften, zu „neuen Bauernbewegungen“ wie etwa in Indien und zu Netzwerken zusammen – häufig als Reaktion auf Strukturanpassungsmaßnahmen und Handelsliberalisierungen – , um ihr Gewicht gegenüber der Agroindustrie, internationalen Konzernen, Organisationen wie der Welthandelsorganisation oder der Weltbank und nicht zuletzt gegenüber den eigenen Regierungen zu stärken. Sie kommen zurück und besetzen das ungenutzte Land der Großgrundbesitzer wie in Brasilien, organisiert durch die MST, die wiederum Vorbild ist für Forderungen nach umverteilenden Landreformen in Südafrika. Sie erkämpfen Agrarreformen wie auf den Philippinen. In Indien gehen Hunderttausende gegen Gentechnik, die Gefährdung lokaler Märkte durch die Verbreitung von Supermärkten und für Landverteilung auf die Straße. Oder sie wählen im Bundesstaat Andhra Pradesh die Regierung ab, weil diese eine Modernisierungsstrategie durchsetzen wollte, die mehrere Millionen Bauernfamilien „überflüssig“ gemacht hätte.
Entwicklungsalternativen der kleinbäuerlichen Landwirtschaft
In allen Kontinenten beweisen Bauern und Bäuerinnen, dass die bäuerliche Landwirtschaft keineswegs eine „Armutsökonomie“ sein muss, wie manche meinen – überholt, unproduktiv und umweltschädlich. Oft gestützt von nichtstaatlichen Entwicklungsorganisationen und zivilgesellschaftlichen Gruppen haben sie ihre eigenen Entwicklungsalternativen entworfen (siehe ausführlich: Hoering 2008):
· In Tansania nutzen Kleinbäuerinnen wieder verstärkt das indigene Wissen um traditionelle, widerstandsfähige und nährstoffreiche Sorten und die Vorteile von Mischkulturen und natürlicher Schädlingsbekämpfung. Auch traditionelle, lokal erprobte Technologien, die gegenüber modernen, angeblich besseren und ertragreicheren Anbaumethoden weitgehend in Vergessenheit geraten waren, finden wieder vermehrt Anwendung. Das hat zum einen die Ernährungssituation deutlich verbessert und die Armut vermindert, aber auch zur nationalen Ernährungssicherung beigetragen. Zum anderen nutzen die Bauern, die ihr Vorgehen heute gemeinschaftlich planen, ihre knappen natürlichen Ressourcen in einer schonenderen Form. Verteilungskonflikte um Wasser und Land, etwa mit den Viehhirten der Massai, können dadurch entschärft werden.
· In Indonesien planen und organisieren Bauerngruppen gemeinsam ökologische Anbaumethoden und die lokale Vermarktung ihrer Produkte, bilden Spar- und Kreditgruppen und entwickeln Maßnahmen, wie Frauen bei Entscheidungen mehr Einfluss gegeben werden kann. Kakaopflanzungen im Hochland arbeiten inzwischen gewinnbringend, durch eine Vermarktungsgenossenschaft wird ein besserer Preis als im Einzelverkauf an Zwischenhändler erzielt. Eine eigene Schokoladenfabrik soll helfen, einen größeren Teil der Wertschöpfung abzubekommen.
· In Südbrasilien haben Bio-Bauern nachhaltige Produktions- und Vermarktungstrukturen für Erzeugnisse des Ökolandbaus aufgebaut. Inzwischen setzen sie ihre Natur- und Verarbeitungsprodukte auf Bauernmärkten in der Region, aber auch in größeren Städten ab – zu guten Preisen. Exporte zertifizierter Erzeugnisse nach Europa und in die USA erschließen neue Märkte. Die organische Landwirtschaft kann sich damit auch ökonomisch als Gegenkonzept gegen den gentechnischen Soja-Anbau beweisen.
Die Liste der erfolgreichen Ansätze, die kostengünstige und wirkungsvolle Alternativen zur industriellen Großlandwirtschaft darstellen, ließe sich fortsetzen. Angesichts des Konkurrenzdrucks durch die industriellen Großbetriebe und Billigimporte, unter dem kleinbäuerliche Betriebe in vielen Ländern stehen, suchen immer mehr Bauern nach neuen Wegen. Zunehmend versuchen auch lokale Regierungen wie in Indonesien und Brasilien (Hoering 2008), die Landwirtschaft als ein Standbein lokaler oder regionaler Wirtschaftsstrukturen, die ihnen größere Autonomie gegenüber der Zentralregierung erlauben, zu erhalten. Dabei ist der organische Anbau oft eine Option der ersten Wahl, da er sich mit anderen Elementen einer regionalen Ökonomie wie (Öko-)Tourismus und der Schaffung von Arbeitsplätzen und damit mit höherer lokaler Wertschöpfung gut verträgt.
Zentrale Kennzeichen dieser landwirtschaftlichen Alternativen, die in vielen Ländern an Kontur und Bedeutung gewinnen, sind:
· Aufgrund geringer externer inputs, etwa gentechnisch verändertem Saatgut, Industriedünger oder Agrargiften, betreiben sie organische Landwirtschaft, teils aus Not, zunehmend aber auch aus Überzeugung, wie sich in der Ausrufung von „chemiefreien Zonen“ in Tansania und gentechnikfreien Regionen in Indien zeigt.
· Durch die Organisierung von Genossenschaften für Einkauf und Vermarktung, durch Saatguttausch und Spar- und Kreditgruppen versuchen sie, die Abhängigkeit von Geldverleihern, Zulieferern und Aufkäufern, die häufig ein wesentlicher Transmissionsriemen für den Einstieg der Agroindustrie sind, und vom Preisdiktat der Märkte zu verringern. Diese Organisierung ist zunehmend auch eine Grundlage für politische Präsenz und Einflussmöglichkeiten.
· Die Verteidigung oder die Rückgewinnung der Kontrolle über die Ressourcen, insbesondere über Land, Wasser und Saatgut beziehungsweise biologische Vielfalt. Forderungen nach Landreformen und -umverteilung und Schutz gegen Vertreibung durch Plantagen oder Großprojekte gewinnen in Brasilien, Indonesien, Südafrika oder Indien, wo die Zentralregierung jüngst – als Wahlkampfgeschenk – jeder Familie ein Stückchen Land versprach, wieder politisch an Brisanz.
· Widerstand gegen Dumping-Importe, unfaire Handelsbedingungen und -abkommen und die Möglichkeit nationaler Regelungen zum Schutz der einheimischen (Land-)Wirtschaft insgesamt gegen Verdrängungswettbewerb und zügellose Auslandsinvestitionen.
Wenn auch in sehr unterschiedlichem Ausmaß formiert sich mit den landwirtschaftlichen Alternativen eine sozio-ökonomische Gegenstruktur, die tendenziell organisch ist, Ansätze solidarischer Ökonomie umzusetzen versucht, zunehmend besser organisiert und vernetzt ist, auf mehreren Ebenen (lokal, regional und global) agiert und wirtschaftliche Interessen und politische Durchsetzungskraft vereint. Mit der ökonomischen und organisatorischen Stärkung dieser alternativen Ansätze geht auch eine stärkere politische Verhandlungsmacht einher, wie etwa Bryceson formuliert: Die Möglichkeit der Bauern, sich auf die Subsistenz zurückzuziehen, hat nicht nur eine Abfederungsfunktion bei wirtschaftlichen Krisen, sondern gibt ihnen auch „eine Verhandlungsstärke und Standfestigkeit, die die landlose, vollständig proletarisierte ländliche Bevölkerung nicht besitzt“. (Bryceson 2001, 312)
Der Griff nach der Landwirtschaft
Das Konzept von Weltbank und – mit unterschiedlichen Nuancen – vielen anderen Institutionen, Regierungen und staatlicher Entwicklungsorganisationen lautet, die Landwirtschaft solle für die Chancen und Herausforderungen der Globalisierung fit gemacht werden. Chancen würden sich durch die Integration in den Weltmarkt bieten, durch neue Absatzmärkte in den Industrieländern und bei den wohlhabend gewordenen städtischen Mittelschichten, durch neue Technologien, verbesserte Kommunikationsmöglichkeiten und Transportbedingungen. Ohne eine entsprechende Modernisierung, so andererseits die Warnungen, drohe die Globalisierung die kleinbäuerliche Landwirtschaft zu verdrängen. Produktivität, Effizienz und „Wettbewerbsfähigkeit und Markteinbindung der Kleinbauern“ – so zum Beispiel der Weltentwicklungsbericht 2008 – in der globalisierten Welt müssten steigen. (Zur Durchsetzung dieser Strategie am Beispiel Afrika ausführlich: Hoering 2007b; Dano 2007)
Gemeinsam ist den unterschiedlichen Akteuren aus Politik, Wirtschaft und Entwicklungszusammenarbeit das Bestreben, das Technologiepaket der „Grünen Revolution“ aus neuem, patentiertem Saatgut einschließlich GMOs (genetisch modifiziertes Saatgut), Industriedünger, Pestiziden und Bewässerung durchzusetzen. Von diesen Inputs und einer auf ihnen basierenden Agrarproduktion kann die gesamte Verwertungskette von öffentlicher und privater Agrarforschung, Industrie, Exporteuren und Handelskonzernen profitieren.
Damit wird die Forderung nach einer weiteren wirtschaftlichen Liberalisierung verknüpft, die insbesondere Handels- und Investitionshindernisse „hinter den Grenzen“, also im jeweils nationalen Wirtschaftsraum abbauen soll. Dazu gehört ferner ein breites Spektrum von Maßnahmen, das von institutionellen Reformen, Good Governance, Infrastrukturentwicklung, Capacity building bis hin zur Förderung eines privaten Finanz- und Kreditsektors, der etwa auf Mikrokreditprogrammen aufbaut, reicht.
Die wichtigsten Triebkräfte der Transformation sind die transnationalen Agrarkonzerne und Supermarktketten. Sie bestimmen, wie Nahrungsmittel erzeugt, verarbeitet und vermarktet werden müssen. Dieses Oligopol kontrolliert die wichtigen Produktionsmittel, Verarbeitungsprozesse und Absatzmärkte durch einen rapiden Prozess der horizontalen und vertikalen Integration. Zur Ausweitung ihrer Macht brauchen sie die Politik und insbesondere die Entwicklungszusammenarbeit als Steigbügelhalter für rechtliche Rahmenbedingungen, die Bereitstellung öffentlicher Güter wie Infrastruktur und die Absicherung gegen politische und wirtschaftliche Risiken.
Die bäuerliche Landwirtschaft ist einerseits als Absatzmarkt „untergenutzt“: die Düngerindustrie hat erhebliche Überkapazitäten aufgebaut, die landwirtschaftliche Gentechnologie kommt in Europa nicht voran und sucht daher neue Geschäftsfelder, etwa in Afrika, wo viele Bauern nach wie vor eigenes oder eingetauschtes Saatgut verwenden. Ebenso wurde sie bislang als Produktionsfaktor für die globale kapitalistische Inwertsetzung als „unproduktiv“ ausgeschlossen und marginalisiert; demzufolge konnte sie sich der kommerziellen Logik zumindest noch teilweise entziehen. Gerade ihre „Rückständigkeit“, gemessen etwa an geringer Verwendung von Industriedünger und kommerziellem Saatgut, macht sie zu einem Objekt der Begierde.
Notwendig für die Erschließung der kleinbäuerlichen Landwirtschaft als Absatzmarkt wie als Lieferant sind Infrastruktur und der Aufbau von Händlernetzen, die helfen sollen, inputs in die ländlichen Regionen zu drücken und den Absatz in die gewinnbringenden Vermarktungsstrukturen zu kanalisieren, die von den Konzernen kontrolliert werden. Zunehmend geraten damit auch die Absatzmärkte und Vertriebswege der kleinbäuerlichen Landwirtschaft und des mit ihr eng verflochtenen informellen Handels unter die Kontrolle der Agrounternehmen und expandierenden Supermarktketten. Agrartreibstoffe sind im Augenblick das dramatischste Beispiel dafür, wie diese letzten weißen Flecken auf der Landkarte der Globalisierung und die dort vorhandenen Ressourcen kapitalistisch in Wert gesetzt und profitabel für die Konzerne der Welt genutzt werden sollen.
Dafür sind große Teile der Agroindustrie auch bereit, das so hilfreiche, aber zunehmend kritisierte Subventionsregime von US-Regierung und EU, das ihnen bislang den Marktzugang ebnete, nach und nach aufzugeben. Die Konzerne wissen, dass „sich ihre Möglichkeiten, sich billige Bezugsquellen zu sichern, verbessern werden, wenn die Bauern weltweit in Konkurrenz miteinander liegen“ (Weis 2007, 158). Die Beteilung der Bauern und ihre Integration in die Wertschöpfungskette bedeutet noch lange nicht, dass sie selbst von der Wertschöpfung profitieren. Im Gegenteil: Der Wert, der in dieser Produktionskette geschaffen wird, wird systematisch von den Produzenten und den ländlichen Gebieten auf die Verbraucher und die städtischen Regionen, von den produzierenden Ländern in die Abnehmerländer verschoben, eine Entwicklung, die große Teile der kleinbäuerlichen Landwirtschaft im Namen ihrer Integration in die Weltwirtschaft geradezu aus dem Geschäft drängen wird.
Der geplante Exitus der Kleinbauern
Die Wiederentdeckung der Landwirtschaft und der Aufruf zu einer „(Zweiten) Grünen Revolution“ zielen direkt auf die „Zweite Welt“ der Landwirtschaft ab – auf die „Mittelbauern“, die kleinbäuerliche Landwirtschaft, die die Voraussetzungen haben, Produktivitätssteigerungen zu erreichen und Exportprodukte anzubauen und die – noch – Millionen Familien ein (wenn auch prekäres) Auskommen bietet. In dieser Vision ist der angestrebte Bauer der Zukunft vor allem der Vertragsbauer, der Blumen, Gemüse oder Agrartreibstoffe für nationale oder internationale Konzerne anbaut, seien es Erdölunternehmen, nationale Supermärkte, internationale Handelsketten und Exporteure oder Verarbeitungsbetriebe und Nahrungsmittelhersteller.
Es ist ausgeschlossen, dass an dieser Entwicklung alle kleinbäuerlichen Betriebe, die gegenwärtig noch existieren, beteiligt werden können. Die Bauern sind das schwächste Glied in der globalen agrarischen Wertschöpfungskette – und nur diejenigen, die wachsen und investieren, werden mithalten können.
Mit ihrer Marktmacht drücken die Konzerne die Preise und setzen die Standards durch, mit denen festgelegt wird, welche Anbauprodukte wie erzeugt werden. Sie zwingen damit die Bauern in einen Spagat zwischen steigenden Kosten und knapp kalkulierten Preisen, den nur wenige aushalten können. Auch die Reformen von Wasser-, Land- und Züchterrechten, mit denen die Rahmenbedingungen für diese Integration in den Markt geschaffen und gesichert werden sollen, führen zu einer Verdrängung, zur Enteignung von Land, Wasser, eigenem Saatgut – und damit zum Verlust der Kontrolle über Produktion und Leben. Es sind insbesondere die Frauen, die Bäuerinnen, die von diesen Entwicklungen betroffen sein werden.
Das wird besonders deutlich in den Reformen der Landnutzungsrechte und der Schaffung von Landmärkten, die bei der Übertragung von Land auf die „produktivsten Nutzer“ helfen sollen und gleichzeitig denen, die als weniger produktiv gelten, die Möglichkeit eröffnen würden, ihr Land zu verkaufen und als Landarbeiter oder in der Verarbeitungsindustrie die Reihen der industriellen Reservearmee zu vergrößern. Gemeinschaftsrechte, Gewohnheitsrechte und sogenannte Nebennutzungsrechte, etwa für Hirten oder für Frauen, denen bislang die Ehemänner ein Stück Land für den Gemüseanbau zuteilen, fallen durch dieses Raster privater Landrechte.
So werden viele in der zunehmenden Konkurrenz um Land, Wasser und Absatzmärkte auf der Strecke bleiben – ländliche Bevölkerungen ebenso wie ganze Länder. Es ist illusorisch, die Masse der Kleinbauern „wettbewerbsfähig“ machen zu wollen, um in der modernen agroindustriellen Globalisierung oder auch nur in der „Supermarkt-Revolution“ mithalten zu können. Millionen werden dadurch „überflüssig“ gemacht. Um sie und das entsprechende Konfliktpotenzial aufzufangen, sieht etwa die Weltbank Maßnahmen für diese sogenannte „Exit-Option“ vor – neue Beschäftigungsmöglichkeiten in größeren landwirtschaftlichen Betrieben oder in der Agrarindustrie, die die verdrängten Kleinbauern auffangen sollen – obwohl etwa die FAO aufgezeigt hat, dass die Zahl derjenigen, die in neuen Beschäftigungsmöglichkeiten unterkommen, geringer ist als die Zahl derer, die ihr Land verlieren (FAO 2005). Millionen Menschen droht demnach der „Exitus“ als Bauer und ihre Wiedergeburt als Landarbeiter, Migranten und Tagelöhner.
Ausblick
Die Rückkehr der Agrarfrage auf die politische Agenda der Herrschenden verspricht daher nichts Gutes. Werden die Prognosen von Feder und Hobsbawm jetzt doch noch, mit einer Verzögerung, eintreten?
Die Agrarfrage kehrt allerdings auch auf ganz andere Weise zurück, als von Konzernen, Finanzinstitutionen und Entwicklungsorganisationen beabsichtigt – nämlich als die Verteidigung der Existenzinteressen von Millionen von kleinbäuerlichen und semi-proletarisierten Familien. Zwar sind sie nach wie vor weitgehend in der Defensive, etwa im Widerstand gegen Patentierung und Handelsliberalisierung. Diese Abwendung des konzertieren Angriffs auf ihre Lebensbedingungen ist notwendig, um die Chancen auf eine selbstbestimmte Entwicklung zu wahren. Alle vielversprechenden Absichtserklärungen von Armutsminderung und ländlicher Entwicklung bleiben unwirksam, solange nicht der Druck auf die bäuerliche Landwirtschaft, der von der staatlich geförderten Agrarindustrie auf sie ausgeht, gestoppt wird.
Doch die Nutzung dieser Chancen, dieses Potenzials der kleinbäuerlichen Landwirtschaft, ist eine grundlegend anders geartete Herausforderung. Während beim Abwehrkampf die Möglichkeiten der internationalern Zivilgesellschaft zur Unterstützung breit und oft auch wirkungsvoll sind, etwa indem sie auf EU, Konzerne und Regierungen einwirkt, um schädliche Politik wie Subventionen oder den Abbau von Schutzmöglichkeiten zu beenden, müssen die Bauern selbst die Spielräume nutzen, um Alternativen breit umzusetzen. Genauso ist eine Organisierung der Bauern in der Defensive – gegen Zumutungen wie das Verbot, eigenes Saatgut zu verwenden, und Bedrohungen durch Handelsliberalisierung und dumping-Importe, die alle mehr oder minder treffen – sehr viel leichter als eine Organisierung gemeinsamer Entwicklungsmaßnahmen. Die breite Ausweitung von Alternativen scheitert allzu oft an sehr unterschiedlichen Interessen von Bauern, an ihrer Zersplitterung, am breiten Spektrum sozio-ökonomischer Unterschiede nicht nur zwischen „zweiter Welt“ und Subsistenzlandwirtschaft, sondern auch innerhalb der sogenannten „zweiten Welt“. Auch hier scheinen wieder indigene Gruppen eher in der Lage zu sein, auf Basis ihrer „Identität“ wirtschaftliche und soziale Formen des Überlebens zu sichern, während oftmals die semi-proletarisierten Kleinbauern wenig Ressourcen, Kapital und Wissen haben, um sich aus ihrer Situation herauszuarbeiten. Oft sind für sie – wie für viele Dalits in Indien – Arbeitsplätze in der Industrie oder im informellen Sektor attraktiver als der Kampf um die eigene „Inwertsetzung“ ihrer landwirtschaftlichen Potenziale.
Dritte Bedingung für den Aufbau einer alternativen, solidarischen Ökonomie ist neben der Abwehr von Zumutungen und Bedrohungen und der Nutzung der Spielräume eine umfassende Änderung der politischen, institutionellen und machtpolitischen Verhältnisse – wobei die bäuerliche Landwirtschaft ansatzweise Verbündete finden kann (und muss) in zivilgesellschaftlichen Organisationen und sozialen und politischen Bewegungen, die auf anderen Feldern der Globalisierung und wirtschaftlichen Liberalisierung Widerstand leisten und Alternativen einfordern, wie etwa eine Demokratisierung. Die Rückkehr der Agrarfrage auf die politische Tagesordnung ist denn auch nicht nur eine entwicklungspolitische oder gar eine technologische oder finanzielle Frage – wie die Ansätze von Weltbank und Regierungen (aber auch des Weltagrarrates IAASTD) – glauben machen, sondern eine Frage gesellschaftlicher Machtverhältnisse.
Literatur
Brot für die Welt; Greenpeace (Hg.) 2001: Ernährung sichern. Nachhaltige Landwirtschaft – eine Perspektive aus dem Süden, 2001
Bryceson, Deborah, u.a. (ed.) 2001: Disappearing Peasantries? Rural Labour in Africa, Asia and Latin America (ITDG Publishing)
Dano, Elenita C., 2007: Unmasking the Green Revolution in Africa: Motives, Players and Dynamics (Third World Network, u.a.)
FAO 2005: Trade Policy Technical Notes Nr.14
FIAN 2008: Für einen Rahmenaktionsplan zur Durchsetzung des Rechts auf Nahrung. FIAN-Position zum Compehensive Framework of Action (CFA) der Hochrangigen Arbeitsgruppe zur globalen Ernährungskrise
Forum Umwelt & Entwicklung (Hg.) 2007: Schöne neue Landwirtschaft. Der Weltentwicklungsbericht 2008 der Weltbank (Brot für die Welt u.a.)
Hazell, Peter, u.a., 2007: The Future of Small Farms for Poverty Reduction and Growth (IFPRI 2020 Discussion Paper No. 42)
Hoering, Uwe, 2007a: Die MDGs und die Wiederentdeckung der Landwirtschaft (Sammelbesprechung), in: Peripherie Nr. 107, 27. Jahrgang, September 2007, 328-337
Hoering, Uwe, 2007b: Agrar-Kolonialismus in Afrika. Eine andere Landwirtschaft ist möglich
Hoering, Uwe, 2008: Wer ernährt die Welt? Bäuerliche Landwirtschaft hat Zukunft (Evangelischer Entwicklungsdienst, EED)
IAASTD 2007: International Assessment of Agricultural Science and Technology for Development. Synthesis Report (Draft, 25 November 2007)
Nagayets, Oksana, 2005: Small Farms: Current Status and Key Trends, Information Brief, The Future of Small Farms, Research Workshop June 26-29, 2005
OECD, 2006: Promoting Pro-Poor Growth Agriculture, Paris (DAC Guidelines and Reference Series)
Weis, Anthony, 2007: The Global Food Economy. The Battle for the Future of Farming
World Bank 2007: World Development Report 2008. Agriculture and Development