Wir sind Zeugen eines eindrucksvollen Spektakels. Barack Obama, der junge, mit einem beeindruckenden Redetalent ausgestattete US-Präsidentschaftskandidat verzaubert und begeistert die Massen, nicht zuletzt in Europa. In Berlin jubelten ihm am 24. Juli 2008 Hunderttausende zu. Dies geschah genau dort, wo noch im Frühjahr 2003 eine Million Menschen gegen den damals bevorstehenden Krieg der USA gegen den Irak demonstrierten. Und obgleich kaum jemand davon ausgeht, dass sich nach der Wahl Obamas Grundlegendes an der aggressiven US- Außenpolitik ändern wird – so drohte der Kandidat dem Iran in seiner Berliner Rede bereits mit einer „Erhöhung des Drucks“, sollte er Präsident werden – so wandelt sich doch vor unseren Augen die allgemeine Wahrnehmung der USA ins positive, und wie von Zauberhand geleitet erhöht sich bereits ihre Akzeptanz. Wir werden aufs Neue davon Zeugen, was Domenico Losurdo in seinem Buch Demokratie oder Bonapartismus als „überlegene Flexibilität ihres (der USA, AW) politischen Systems“ beschrieb, „das gegründet ist auf weite Machtbefugnisse eines leaders, der der Interpret der Nation und ihrer heiligen Mission ist.“ (211)
Doch es geht in dem Buch Losurdos um mehr als nur um die Suche nach dem Grund für diese, uns immer wieder neu zum Staunen bringende Häutungsfähigkeit des politischen Systems der USA. Es wird dort die generelle Frage gestellt, wie es möglich ist, dass das kapitalistische Gesellschaftssystem, in dem ja bekanntlich nur eine kleine Bevölkerungsminderheit die Produktionsmittel besitzt, unter den Bedingungen des allgemeinen und gleichen Wahlrechts überleben kann. Auf der Suche nach einer Antwort darauf, begutachtet Domenico Losurdo in Demokratie oder Bonapartismus die unterschiedlichsten Staatsformen der bürgerlichen Gesellschaft. Die Historie der USA, Frankreichs, Großbritanniens, Deutschlands und Italiens der letzten 200 Jahre steht zur Investigation. Ein gigantischer Stoff, der vom Autor auf 400 Seiten klar und übersichtlich gegliedert dargeboten wird. Ein Werk, das von seinem Ansatz, seiner Stofffülle wie seiner Ambitioniertheit nur vergleichbar ist mit Luciano Canforas Kurzer Geschichte der Demokratie[1] oder mit Arthur Rosenbergs Buch Demokratie und Sozialismus[2] von 1937.
Doch zugleich handelt das Buch auch vom Kampf um Emanzipation, vom Widerstand gegen das Herabdrücken der Entrechteten und Ausgeschlossenen. Dieses Motiv steht bei Losurdo sogar im Vordergrund: „Dieses Buch ist in erster Linie eine historische Rekonstruktion des Kampfes der zu einer Ware reduzierten Sklaven, der ‚Lasttiere‘, der ‚Werkzeuge‘, der ‚zweibeinigen Maschinen‘ oder der ‚Kinder‘ um ihrer vollen menschlichen Würde anerkannt zu werden, diese den Schwankungen des Marktes ebenso zu entreißen wie das Recht auf Leben, auf Gesundheit und auf Bildung. Es ist also die historische Rekonstruktion des Kampfes zur Erringung der bürgerlichen, politischen, ökonomischen und sozialen Rechte.“ (10)[3]
Der Bonapartismus als Form bürgerlicher Herrschaft
Losurdo geht es um die Herausarbeitung von Mustern, von bestimmten Formen der Staatstätigkeit, derer sich die Eliten bedienen, um sich den für sie unangenehmen Folgen des allgemeinen und gleichen Wahlrechts entziehen zu können. Und hier ragt eine Regierungsform heraus. Es ist der Bonapartismus. Mit ihm entsteht bereits im Moment der Erkämpfung des allgemeinen Stimmrechts, in der Mitte des 19. Jahrhunderts, die Antwort der Herrschenden auf diese Herausforderung. Als erster hat Karl Marx als damaliger Zeitzeuge die Bedeutung dieser neuen Herrschaftsform erkannt und in seiner Schrift Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte[4] glänzend analysiert. Seitdem lässt dieses Thema marxistische Gesellschaftswissenschaftler nicht mehr los. So wurde die bonapartistische Herrschaftsform etwa für Analysen des Faschismus herangezogen. Erinnert sei hier an die Arbeiten von August Thalheimer, Otto Kirchheimer oder Ernst Fraenkel. In der Bundesrepublik war es Reinhard Kühnl, der in Formen bürgerlicher Herrschaft die verschiedenen Metamorphosen des Bürgertums beschrieb, mit deren Hilfe es auch in extremen Krisensituationen seine Macht sichert, notfalls mit Terror und Krieg.
Weshalb Bonapartismus? Was geschah da 1850/51 Umwälzendes in Frankreich? In der Revolution von 1848 konnte das allgemeine Wahlrecht erneut erkämpft werden, wenn auch nur für die Männer. Das Parlament schränkte dieses Rechts anschließend wieder ein. Dies war die Stunde des Louis Napoleon Bonaparte. Der großbürgerliche und bis dahin politisch erfolglose Neffe des großen Napoleon stellte sich demonstrativ auf die Seite der erneut Entrechteten und gegen die liberalen Parteien. Berühmt wurde sein Aufruf vom 2. Dezember 1851, in dem er seinen Staatsstreich begründete: „Wenn ihr Vertrauen in mich habt, so gebt mir die Mittel, um die große Aufgabe zu erfüllen, die ihr mir anvertraut habt.“ Als Bedingungen nannte er: „Ein verantwortliches Staatsoberhaupt, auf zehn Jahre gewählt; Minister, die nur von der exekutiven Gewalt abhängen und eine legislative Körperschaft (...), die durch allgemeines Wahlrecht zustande kommt, ohne Listenwahl, die die Wahlen verfälschen könnte.“ (136) Auf dieser Grundlage errichtete Napoleon III. seine Diktatur, die erst mit der Niederlage Frankreichs im Krieg mit Deutschland 1870 untergehen sollte.
Nach Luciano Canfora war dieser „Staatsstreich im Namen des allgemeinen Wahlrechts die Glanzleistung Louis Napoleon Bonapartes.“[5] Für Arthur Rosenberg „gab die Revolution von 1848/49 den wirklichen Demokraten und Sozialisten die Lehre, dass zwar die Selbstregierung des Volkes nach wie vor das allgemeine Stimmrecht voraussetzt, dass aber zugleich eine Karikatur des allgemeinen Stimmrechts auch mit brutalster Unterdrückung der Volksmassen vereinbar ist.“[6] Und: „Wenn die humane liberale Demokratie in ihr Gegenteil umschlug, in den weißen Terror und in die Säbelherrschaft, dann konnte das allgemeine Stimmrecht diese Wandlung überdauern.“[7]
Losurdo beschränkt die Gültigkeit des Herrschaftsmodells des Bonapartismus nicht allein auf eine Phase der französischen Geschichte oder auf den italienischen bzw. deutschen Faschismus. Er sieht in ihr vielmehr ein grundlegendes Muster bürgerlicher Gesellschaften. „Der Bonapartismus, der so Gestalt annimmt, trägt (...) eine lange Geschichte mit sich und wirkt in neuen Formen auch in der Gegenwart“. (10) In der Regierungsform der USA sieht Losurdo einen „Soft-Bonapartismus“ verwirklicht. Das Buch handelt denn auch „hauptsächlich“ von der „Wirklichkeit der Vereinigten Staaten.“ (13). Bereits die im Konvent von Philadelphia angenommene US-amerikanische Verfassung trägt deutlich autoritäre, bonapartistische Züge. War es in Frankreich Napoleon I., der mit seinem Staatsstreich 1799 die französische Revolution für beendet erklärte, „so schließt die amerikanische endgültig 1788-89 mit der Verabschiedung der neuen Verfassung ab. (...) Auf innenpolitischem Gebiet handelt es sich in dem einen wie im anderen Fall darum, die radikalen Tendenzen, die im Laufe der vorangegangenen Umwälzungen aufgetreten waren, wieder zu absorbieren und abzuwürgen.“ (115) Für die jungen USA nennt Losurdo vorangegangene Aufstände armer und verschuldeter Bauern in Massachusetts, die die herrschende Oberschicht tief verschreckt hatten. „In beiden Ländern führt die akute gesellschaftliche Krise dazu, dass ein ruhmumstrahlter General zur Macht aufsteigt.“ (115) Napoleon I. in Frankreich, George Washington in den USA. Losurdo zitiert Napoleon, der am Ende seines Lebens auf die parallele Entwicklung beider Länder hinwies: „Was mich betrifft, so konnte ich nichts anderes sein als ein gekrönter Washington“. (108)
Das neue, spezifische der nordamerikanischen Herrschaftsform verkörpert sich in der alles überragenden Funktion einer einzelnen Person, die des Präsidenten, denn es „muss unbedingt vermieden werden, dass im Innern der Macht lähmende Zwistigkeiten oder Unsicherheiten auftreten.“ (122) Dieses Amt „vermag die Schnelligkeit, die Kraft und die Einheit des Entscheidungszentrums zu verbinden mit dem Wettbewerb und der Auswechslung verschiedener leaders und, unter den Bedingungen einer normalen Entwicklung, mit dem Geheiß der Freiheitsrechte durch die Bürger.“ Dem bonapartistischen Modell entsprechend, entsteht durch das Plebiszit bei der Präsidentenwahl eine unmittelbare Beziehung zwischen dem Volk und seinem leader. Dieser „Soft-Bonapartismus“ kann sich aber in Krisenzeiten „auf schmerzlose Weise in einen harten und kriegerischen verwandeln“. (144) Losurdo beschreibt dies am Beispiel des Ersten Weltkriegs, in dem „ausgerechnet die westlichen Länder eine größere Fähigkeit (als Deutschland, AW) zur totalen Mobilisierung und zu einer totalen und eisernen Einbindung der eigenen Bevölkerung in Bezug auf den Krieg gezeigt haben.“ (198) Spätestens in diesem „Ausnahmezustand“ entstehen die auch heute noch so lebendigen amerikanischen Mythen von einer Kriegführung „im Namen einer Mission“ (204), der Stilisierung des Krieges zu einem „Kreuzzug“ (205) und es bildet sich der ganze Kult des „Amerikanismus und der Lobpreisung seiner privilegierten und einzigartigen Rolle in der Weltgeschichte“(209) heraus. Die Parteien Republikaner und Demokraten bleiben hingegen schwache und lose Gebilde und sind eigentlich nur „zwei verschiedene Fraktionen derselben Partei.“(356)
Die USA und das Deutsche Reich im Vergleich
Das amerikanische Modell erweist sich denen anderer Staaten überlegen. Frankreich, wo sich bonapartistische mit egalitären Herrschaftsformen einander abwechseln, wird dabei regelmäßig von revolutionären Krisen erschüttert. In Deutschland gelingt nicht die totale Mobilmachung während des Ersten Weltkriegs, da der Dualismus zwischen Parlament und Monarchie es nicht zulässt, „dass sich ein wahres und eigentliches cäsaristisches System konsolidiert“. (215) Als seine herrschenden Klassen 1933 zur Revanche rüsten, sind sie unfähig, den ausgerufenen Ausnahmezustand zu befristeten. Statt dessen werden jegliche Grundlagen bürgerlicher Demokratie zerstört.
Losurdo schildert die Bedingungen für die pazifistischen und antimilitaristischen Kräfte im Deutschland des Ersten Weltkrieges als, verglichen mit der Situation in den USA, vergleichsweise mild. So wird Karl Liebknecht wohl zu vier Jahren Haft verurteilt, dann aber begnadigt und im Oktober 1918 entlassen, „rechtzeitig, um an der Revolution teilzunehmen, die im Monat darauf dem Kriege und auch der Dynastie der Hohenzollern ein Ende setzt. Härter ist das Schicksal des amerikanischen Sozialistenführers Eugene Dobbs: Er lernte das Gefängnis kennen, weil er den Eisenbahnerstreik unterstützt hatte (…) Aufs Neue wird er im Juni 1918 wegen seiner Rede gegen den Krieg verhaftet, zu zehn Jahren verurteilt und erst im Dezember 1921 entlassen, nachdem er im Gefängnis sowohl das Ende des Konflikts als auch die Zeit der Wahlkampagne verbracht hatte, in der er als Kandidat für das Präsidentenamt fungierte.“ (200) An dem Schicksal des Dobbs lässt sich wohl demonstrieren, wie wenig liberal und rechtsstaatlich die Führung der USA im Krieg mit den inneren Opponenten umging, doch „härter“ als das Schicksal Liebknechts war das des Eugene Dobbs mit Sicherheit nicht. Im Dezember 1921, als der amerikanische Sozialistenführer das Gefängnis verlassen konnte, waren die deutschen Revolutionäre Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg längst tot, ermordet von militärischen Kräften des alten Regimes. Dies geschah unter Kenntnis, wenn nicht gar Billigung der Führung der Mehrheitssozialdemokraten. Ihr Tod zu Beginn des Jahres 1919 folgt unmittelbar dem blutig niedergeschlagenen sogenannten Spartakusaufstand und ist damit Bestandteil des geschichtlichen Abschnitts von Krieg und Novemberrevolution.
Zweifel sind auch gegenüber der Aussage Losurdos angebracht, dass die Unterdrückung der pazifistischen Agitation während des Kriegs in den USA „sehr viel wachsamer und härter“ als jene in Deutschland war. (200) In ihrer Schrift Die Krise der Sozialdemokratie schildert Rosa Luxemburg diese Zeit ganz anders: „Die Art und Weise, wie in Deutschland die Aufhebung der Pressfreiheit, der Versammlungsfreiheit, des öffentlichen Lebens, wie der Belagerungszustand nun lange Monate ohne Kampf, ja mit teilweisem Beifall gerade von sozialdemokratischer Seite ertragen wird, ist beispiellos in der Geschichte der modernen Gesellschaft. In England herrscht völlige Pressfreiheit, in Frankreich ist die Presse nicht entfernt geknebelt wie in Deutschland. In keinem Land ist die öffentliche Meinung derart völlig verschwunden, einfach durch die offiziöse ‚Meinung‘, durch den Befehl der Regierung ersetzt wie in Deutschland. Auch in Russland kennt man bloß den verheerenden Rotstift des Zensors, der die oppositionelle Meinung vertilgt, gänzlich unbekannt ist dagegen die Einrichtung, dass die oppositionelle Presse von der Regierung gelieferte fertige Artikel abdrucken, dass sie in eigenen Artikeln bestimmte Auffassungen vertreten muss, die ihr von Regierungsbehörden in ‚vertraulichen Besprechungen mit der Presse‘ diktiert und anbefohlen werden.“ Etwas später spricht Rosa Luxemburg von „der härtesten Militärdiktatur“, die „je ein mündiges Volk über sich ergehen lassen (musste)“.[8] Dass es sich für sie bei diesen Maßnahmen nicht etwa um den Ausdruck eines in die Geschichte zurückreichenden deutschen Sonderwegs handelt, stellte sie mit einem Vergleich zum Krieg von 1870 klar. Damals „erfreute sich die Presse unbeschränkter Freiheit und begleitete die Kriegsereignisse zum lebhaften Verdruss Bismarcks mit teilweise scharfen Kritiken sowie mit einem munteren Kampf der Meinungen, namentlich auch über Kriegsziele, Annexionsfragen, Verfassungsfragen usw.“ Die Ursache für die beispiellose Unterdrückung im Ersten Weltkrieg sah sie denn auch „in dem besonderen konterrevolutionären Ursprung der deutschen Verfassung“ (von 1871, AW) und „in jenen reaktionären Machtfaktoren der deutschen Gesellschaft, die seit der Gründung des Reiches einen ständigen stillen Krieg gegen die kümmerliche ‚deutsche Freiheit‘ geführt haben (…)“.[9]
Emanzipation und De-Emanzipation
Losurdos Buch ist in „in erster Linie eine historische Rekonstruktion des Kampfes“ um die Emanzipation der Unterdrückten. Gezeigt wird, wie in der Geschichte Phasen der Emanzipation von solchen der De-Emanzipation abgelöst werden, worauf regelmäßig erneut ein Aufschwung der Kämpfe um Befreiung folgt. Und die Lokomotiven der Geschichte sind die Revolutionen, in erster Linie die Französische 1789 und die Russische, die Oktoberrevolution von 1917. Emanzipationsschübe gehen aber auch von der Julirevolution 1830, der europaweiten Erhebung 1848 und, unsere heutige Zeit noch immer prägend, vom Sieg über den Faschismus 1945 aus. Gezeigt wird aber auch, wie hartnäckig die Widerstände sind, die den immer wieder neuen Anläufen zur Einführung des allgemeinen und gleichen Wahlrechts und der Schaffung einer substanziellen Demokratie entgegenstehen.
Im Buch Demokratie oder Bonapartismus werden Kontinuitäten wie auch Wandlungen in der Argumentation der Gegner dieser Emanzipation dargestellt. Es entsteht so eine Geistesgeschichte des Liberalismus, beginnend mit Adam Smith über John Stuart Mill, Edmund Burke und Benjamin Constant, die in ihren Schriften die sozialrevolutionären Gedanken der französischen Revolution angreifen, bis hin zu Joseph Schumpeter, Ludwig von Mises und Friedrich Hajek, die ihre Lebensaufgabe in der Zurückdrängung der mit den Revolutionen 1917/18 eingeleiteten Sozialismus- und Sozialstaatsentwicklungen sehen. Einen solch umfassenden Überblick, wie ihn Losurdos Werk hier bietet, erhält man woanders kaum. Die meisten Darstellungen liberalen bzw. neoliberalen Denkens beschäftigen sich bestenfalls mit eng begrenzten historischen Abschnitten der Geschichte.[10]
Der Aufschwung der Emanzipationsbewegung der Neuzeit beginnt nach Losurdo mit dem Ersten Weltkrieg und der Oktoberrevolution, in deren Folge es generell zur Durchsetzung des allgemeinen und gleichen Wahlrechts in den westlichen Kernländern kommt, wobei das Stimmrecht für Frauen oft erst sehr viel später erkämpft wurde. „Das revolutionäre Russland – zwischen Februar und Oktober – war das erste Land, welches den Frauen sowohl das aktive als auch das passive Wahlrecht zubilligte. (…) In Deutschland haben sie erst nach der Novemberrevolution, also ein Jahr nach der Oktoberrevolution, diese politischen Rechte erhalten. Noch später kamen die Vereinigten Staaten dazu. Für Länder wie Italien und Frankreich gilt, dass dort das Wahlrecht für Frauen sogar erst nach dem Zweiten Weltkrieg eingeführt wurde, nach der Resistenza, nach dem Widerstandskampf gegen den Faschismus, also nach einem Kampf, in dem die Kommunisten natürlich eine wichtige Rolle gespielt haben.“[11]
Zugleich beginnt mit der Oktoberrevolution der Prozess der Entkolonialisierung. In der von den Bolschewiki der Konstituierenden Versammlung am 3. Januar 1918 vorgelegten „Deklaration der Rechte des werktätigen und ausgebeuteten Volkes“ hieß es dazu: „Die Konstituierende Versammlung (besteht) auf dem völligen Bruch mit der barbarischen Politik der bürgerlichen Zivilisation, die den Wohlstand der Ausbeuter in einigen wenigen auserwählten Nationen auf der Versklavung von Hunderte Millionen Werktätigen in Asien, in den Kolonien überhaupt und in den kleinen Ländern begründete.“[12]
Der weltweite Aufschwung der Emanzipation setzt sich nach dem Sieg der antifaschistischen Kräfte im Zweiten Weltkrieg mit erneuerter Kraft fort und findet ihren Ausdruck in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, die 1948 von den Vereinten Nationen verabschiedet wird. „Es ist der Zeitpunkt, zu dem die Emanzipationsbewegung des zwanzigsten Jahrhunderts ihren Gipfel erreicht, nachdem das Hindernis des Faschismus bezwungen (…)“ (298) wurde, wobei „das Dritte Reich im Grunde der Versuch war, eine gewaltige De-Emanzipation zu erzwingen.“ (339)[13]
Demokratie als Markt
Zentraler Angelpunkt liberalen Denkens seit Benjamin Constant ist die Reduktion der Demokratie auf ein Marktgeschehen. Nur wer sich am Markt bewährt und durchsetzt, ist auch der Demokratie würdig, so lautet zusammengefasst die Botschaft. Losurdo referiert hier die Gedanken Ludwig von Mises, wenn er schreibt: „Der Markt ist die authentische und friedfertige Demokratie, in deren Bereich ‚jeder Pfennig einen Stimmzettel darstellt‘ und wo jedes Mandat jeden Augenblick vom Verbraucher rückgängig gemacht werden kann, der eben deswegen der wahre ‚Herr der Produktion‘ ist.“ (285) In Fortführung dieses Gedankens folgt für Joseph Schumpeter für die Wahrnehmung der politischen Rechte und der Möglichkeit der Teilnahme am gesellschaftlichen Leben, dass „die Fähigkeit (dazu) bemessen wird nach der Möglichkeit, für sich selbst zu sorgen.“ (286) Beliebt ist bei den neoliberalen Theoretikern auch die Metapher der Aktiengesellschaft. „Natürlich haben nach Burke ‚alle Menschen gleiche Rechte‘, aber es gilt auch, dass die ‚Dividende‘ ‚proportional‘ zum eingezahlten Kapital verteilt wird.“ (294) In einer Zeit, in der das Prinzip des allgemeinen Wahlrechts nicht mehr offen infrage gestellt werden kann, wird nach Losurdo „die Gestalt des Bürgers oder des Menschen zu der des Aktionärs oder des Verbrauchers verflacht“. (294) „Mittels des Vergleichs der politischen Gemeinschaft mit einer Aktiengesellschaft oder einem Markt werden die unteren Klassen, die danach streben, ihr Recht auf Leben und auf die Würde einer menschlichen Existenz garantiert zu sehen, auf eben dieselbe Welt der Warenverteilung zurückverwiesen, die zu überwinden sie gehofft hatten.“ (296)
Der Metapher des Marktes entspricht auch die Beschränkung der Demokratie lediglich auf einen friedlichen Wettbewerb unterschiedlicher Führer und Leitungsgruppen. „In diesem Sinne ist die Demokratie das Analogon des Marktes auf der politischen Ebene, mit seiner Konkurrenz und der Vielfalt von Wahlmöglichkeiten, die dieser mit sich bringt.“ (289) Ihre Reduktion auf formale Kriterien und auf die Einhaltung bloßer Spielregeln bedeutet zugleich, dass die Essenz der Gesellschaft, die realen sozialen Verhältnisse, jenseits von ihr und damit unberührt bleibt, so dass sie mittels des gleichen und allgemeinen Wahlrechts nicht infrage gestellt werden kann. Und sollte dies dennoch einmal versucht werden, so kann „sich die bestehende Macht auf den Ausnahmezustand berufen, um die Spielregeln außer Kraft zu setzen (…)“ (290), indem sie Zuflucht zu einem „Soft-Bonapartismus“ nimmt.
Spätestens mit Ende des Ersten Weltkrieges konnte für die maßgeblichen liberalen Denker kein Zweifel mehr darüber bestehen, dass an der Einführung des allgemeinen und gleichen Wahlrechts kein Weg mehr vorbei führt. Losurdo zitiert hier den deutschen Soziologen Max Weber: „Heute (kann) nur das gleiche Wahlrecht am Ende von Wahlrechtskämpfen stehen. (…) „Das ‚gleiche‘ Wahlrecht ist die logische und unausweichliche Konsequenz aus der Gleichheit vor dem ‚Schicksal‘ und vor dem ‚Tode‘, die in den Schützengräben zur Wirklichkeit wurde; im Ausgleich dafür wird auch der ‚letzte Mann‘ die paritätische Teilnahme am Wiederaufbau der Nation fordern können und wollen, während er jeden kurzatmigen Ersatz und jede andere Lösung mit Verachtung zurückweisen wird. Als ‚Staatsbürger‘ wird der Soldat ‚in den Krieg geschickt, ohne Unterschied des Besitzes und des Diploms‘.“ (213)
Kann das Wahlrecht als solches nicht mehr grundsätzlich in Frage gestellt werden, so konzentrierten sich die liberalen Denker fortan darauf, seine Ausgestaltung zu bestimmen, um es auf diese Weise möglichst ins Leere laufen zu lassen. Und hier ging und geht es in erster Linie darum, das Mehrheits- an Stelle des Verhältniswahlrechts zu setzen. Zitiert wird Hayek, für den es „nicht offenkundig (ist), dass die Proportionalvertretung aufgrund ihres in höherem Maße demokratischen Aspektes vorzuziehen sei“. Auch Schumpeter wird angeführt, für den das Verhältniswahlrecht „ein Faktor der Instabilität sei“. (307) Für Losurdo liegt auf der Hand, weshalb die beiden österreichischen liberalen Theoretiker zu diesem Schluss kommen: „Die Verurteilung des Verhältniswahlrechts ist das Resultat der Kritik und des Unbehagens, die nach den kolossalen revolutionären Umwälzungen, die auf den Ersten Weltkrieg folgen, in Italien wie in Österreich zum Ausdruck kommen.“ (307) Und auch heute dient das Mehrheitswahlrecht dazu, die aus liberaler Sicht negativen, da egalitären Folgen von Wahlen zu blockieren. Traditionell findet es Anwendung in Großbritannien. In Frankreich bestimmt es seit dem Staatsstreich De Gaulles 1958 die Politik. Im Ergebnis können sich aussichtsreiche linke Wahlalternativen erst gar nicht bilden, wie in Großbritannien, oder sie werden systematisch benachteiligt, wie es in Frankreich der Fall ist.[14]
In einem Gegensatz zur bloß formalen Demokratie, die sich allein auf die Festlegung der Spielregeln beschränkt, um einen regelmäßigen Wechsel zwischen den Eliten bei der Erledigung der Staatsgeschäfte zu gewährleisten, steht die von Losurdo als „substanziell“ bezeichnete Demokratie. (320) Dabei handelt es sich um eine Regierungsform, in der Politik und Wirtschaft nicht mehr strikt voneinander getrennt sind, und die sich an den Interessen der breiten Bevölkerungsmehrheit, an Vollbeschäftigung und sozialer Sicherheit, ausrichtet. Eine ganze Reihe von Verfassungsordnungen westeuropäischer Staaten, die nach 1945, auf „dem Gipfel der Emanzipationsbewegung des 20. Jahrhunderts“, erkämpft wurde, ist vom Willen zur Schaffung jener „substanziellen Demokratie“ geprägt. Dies gilt für die italienische Verfassung[15] wie für das deutsche Grundgesetz, in dem die Sozialstaatsklausel des nicht veränderbaren Artikels 20 Abs.1, wonach die Bundesrepublik Deutschland „ein demokratischer und sozialer Bundesstaat ist“, der entscheidende Ansatzpunkt für eine Auslegung darstellt, wonach das Grundgesetz offen auch für eine grundlegende Änderung der Wirtschaftsordnung in Richtung einer sozialistischen ist. Diese Sozialstaatsklausel weist der „im demokratischen Staat repräsentierten Gesellschaft die Möglichkeit zu, ihre eigenen Grundlagen umzuplanen“.[16]
De-Emanzipation und „Neue Internationale Ordnung“
Für Domenico Losurdo steht fest: „Wo aber der Prozess der De-Emanzipation keine der Erwähnung werten Widerstände zu finden scheint, das ist die Ebene der internationalen Beziehungen.“ (324) Dabei hatte sich im 20. Jahrhundert zunächst auch hier eine bemerkenswerte Emanzipation vollzogen, hatte sich „ausgehend von dem Appell, ihre Ketten zu zerreißen, den die Oktoberrevolution an die Sklaven der Kolonien gerichtet hatte, ein ungestümer Entkolonialisierungsprozess entwickelt“ (324), der Anlass zu großen Hoffnungen gab. Doch wir erleben hier – nach der epochalen Wende der Jahre 1989/91, die für die Dritte Welt einer Katastrophe gleichkam – einen „weltweiten Bonapartismus“, in dem die Tendenz deutlich wird, „die UNO endgültig in ein Instrument der Hegemonie der reichen Länder zu verwandeln“. (326) Genannt wird als Beispiel die Aufrüstung: „Nicht nur die nuklearen Waffen, sondern auch die chemischen, die Lang- und Mittelstreckenraketen, die Superkanonen usw. – all das muss von den kleinen und armen Ländern ferngehalten werden und Monopol der Großmächte bleiben (…), die sich nicht einmal verpflichtet fühlen, sich darauf festzulegen, die Massenvernichtungswaffen niemals als erste zu gebrauchen, die umgekehrt aber den kleinen und armen Ländern schon im Planungsstadium verboten werden müssen.“ (327) Dies ist eine treffende Analyse, die den Konflikt um das Atomprogramm des Iran auf seinen eigentlichen Kern zurückführt.
Mit der neokolonialen Politik des weißen Westens „kehrt die Sprache des Goldenen Zeitalters des Kolonialismus zurück, als ganze ‚Rassen‘, um es mit Mill zu sagen, als minderjährig angesehen wurden, oder mit Kipling als halb Kleinkinder, halb Teufel.“ (330). Auch die dabei verwandten politischen Begriffe sind der Vergangenheit entlehnt, wenn etwa von einer „internationalen Polizeimacht“ (331) von Befriedungsmissionen und von gescheiterten Staaten die Rede ist. Obwohl auch diese Aussagen Losurdos weiterhin gültig sind, macht sich doch gerade hier negativ bemerkbar, dass es der Stand von 1993 ist, der referiert wird. Viele Entwicklungen in den darauf folgenden Jahren, wie der von den USA nach dem 11. September 2001 ausgerufene „Krieg gegen den Terrorismus“ oder der zweite Irakkrieg blieben so unerwähnt.
Demokratie oder Bonapartismus ist ein gutes und wichtiges Buch Domenico Losurdos, da es wie kaum ein zweites einen Gesamtblick auf die Geschichte und den inneren Mechanismus zur Sicherung bürgerlicher Herrschaft in den Ländern des Westens bietet. Es ist kein Zufall, dass ein solches Buch von einem italienischen Philosophen geschrieben wurde, ist doch in Italien der am dialektischen Denken Hegels orientierte Marxismus noch immer lebendig. Domenico Losurdo ist dort Professor für Philosophie an der Universität Urbino und zugleich ist er Präsident der Internationalen Gesellschaft Hegel-Marx für dialektisches Denken.[17]
Wer auf 400 Seiten vergleichend über mehrere Länder schreibt, der muss einfach Verkürzungen und Vereinfachungen bei der Darstellung der jeweiligen Nationengeschichte vornehmen. Es wäre daher ein Leichtes, dem Autor an manchen Stellen Auslassungen und Generalisierungen vorzuwerfen. Dies würde aber dem Ansatz des Buches als eines Überblickwerks nicht gerecht werden. Ein wirklicher Mangel ist hingegen, wie bereits erwähnt, dass das Buch, der italienischen Originalausgabe entsprechend, mit den Ereignissen des Jahres 1993 endet. Nur im Vorwort wird auf einige aktuelle Entwicklungen hingewiesen. Im Text selbst kommen aber weder George Bush junior, noch Silvio Berlusconi und auch nicht Nikolas Sarkozy vor. Hier hätte sich viel neues Anschauungsmaterial für die Bonapartismen unserer Zeit geboten. So ist denn auch zu befürchten, dass der „Niedergang des allgemeinen Wahlrechts“ noch lange nicht an sein Ende gekommen ist.
[1] Luciano Canfora, Eine kurze Geschichte der Demokratie, Köln 2006.
[2] Arthur Rosenberg, Demokratie und Sozialismus, Zur politischen Geschichte der letzten 150 Jahre, Frankfurt/M. 1962.
[3] Zitate mit Seitenzahlen in Klammern beziehen sich auf „Demokratie oder Bonapartismus“.
[4] In: Karl Marx, Friedrich Engels, Werke (MEW), Bd. 8, S.111-207.
[5] Luciano Canfora, a. a. O., S. 127.
[6] Arthur Rosenberg, a. a. O., S. 114.
[7] Arthur Rosenberg, a. a. O., S.113.
[8] Rosa Luxemburg, Die Krise der Sozialdemokratie, in: Politische Schriften II, Frankfurt/M, 1972, 4. Auflage, S. 106f.
[9] Rosa Luxemburg, a. a. O., S. 107 f.
[10] Vgl. etwa die umfassende und informative Darstellung der Positionen der neoliberalen bzw. ordoliberalen Theoretiker in dem Artikel „Grundlagen des Neoliberalismus“ von Ralf Ptak, die aber nur bis Ludwig von Mises und Friedrich Hajek zurückreicht, in: Christoph Butterwegge, Bettina Lösch, Ralf Ptak, Kritik des Neoliberalismus, Wiesbaden 2007, S. 13 bis 86.
[11] Domenico Losurdo, Über Staat und Demokratie, Kommunismus und Geschichte, in: Z 70, Juni 2007, S. 73.
[12] W.I. Lenin, Werke, Berlin 1955ff., Bd. 26, S.425.
[13] Über die vielfältigen Verbindungslinien zwischen Liberalismus und Faschismus vgl. Domenico Losurdo, Kampf um die Geschichte, Der historische Revisionismus und seine Mythen, Köln 2007, hier v. a. das Kapitel „Koloniale Tradition, totaler Krieg und Genozid“.
[14] Auch in Deutschland und in Österreich fordern neoliberale Kreise in letzter Zeit wieder verstärkt die Einführung des Mehrheitswahlrechts, vgl. Thomas Wagner, Angriff aufs Wahlrecht, in: junge Welt vom 30.07.2008.
[15] Vgl. Luciano Canfora, a. a. O., S. 250-282.
[16] Wolfgang Abendroth, Zum Begriff des demokratischen und sozialen Rechtsstaates im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland (1954), in: ders., Antagonistische Gesellschaft und politische Demokratie, Neuwied und Berlin 1967, S. 122.
[17] Zusammen mit Hans Heinz Holz ist Domenico Losurdo zudem Herausgeber der Zeitschrift Topos. Internationale Beiträge zur dialektischen Philosophie. Im April 2007 erschien von ihm im PapyRossa Verlag sein schon erwähntes Buch „Kampf um die Geschichte. Der historische Revisionismus und seine Mythen“.