„Die vereinigten Linken in Europa stehen vor dem Aus.“ Mit diesem apodiktischen Urteil beginnt Dominic Heilig seinen Artikel. Doch wer oder was vor dem „Aus“ steht, erschließt sich dem Leser auch nach dem zweiten oder dritten Durchgang des Artikels nur mühsam. Verwirrung stiftet vor allem die Unterscheidung der Begriffe „vereinigt“ bzw. „vereint“. Im deutschen Sprachgebrauch gibt es zwischen ihnen keinen Gegensatz, beide Adjektive werden synonym verwandt. So heißt es ja auch mal „vereinigtes“ und mal „vereintes“ Deutschland. Wo liegt da der Unterschied? Beides ist bekanntlich misslungen! Und dass die linke Fraktion im Europäischen Parlament „Konföderale Fraktion der Vereinten Europäischen Linken/Nordische Grüne Linke“ heißt, war wohl eher der zufälligen Laune des Übersetzers aus dem Französischen geschuldet, denn darin heißt die Fraktion „Gauche unitaire“, was so viel wie „einheitliche Linke“ heißt. Voilá, ein dritter Begriff!
Warum nun diese ganze Haarspalterei? Für Heilig scheint eine „vereinigte Linke“ auf einer höheren, weiter entwickelten Stufe als eine bloß „vereinte Linke“ zu stehen. Er argumentiert dabei wie folgt: Ausgangspunkt für das ganze Dilemma ist das Ende des europäischen Sozialismus. „Obwohl nicht alle westeuropäischen linken Parteien treue Anhänger des staatssozialistischen Modells sowjetischer Prägung waren, so traf auch sie die Auflösung des sozialistischen Lagers in Osteuropas hart.“ (59) Einen Ausweg wiesen die skandinavischen Linksparteien, denn denen gelang es mittels „Verknüpfung roter und grüner Inhalte (...) und der Aufnahme nachhaltiger, ökologischer Politikansätze (...) neue Milieus für sich zu gewinnen, die den KP’s bislang ablehnend gegenüberstanden.“ (60) Unerwähnt lässt Heilig, dass nicht zuletzt die schwedische Linkspartei in den vergangenen Jahren von massivem Wählerschwund und gar von Abspaltungen betroffen war. Er bleibt dabei: Was im Norden begann, soll auch im europäischen Süden zu neuen Konstellationen führen, „da dort die Auflösung des klassischen Proletariats dank milliardenschwerer (Zukunfts-)Investitionen der EU (sic!) vorangetrieben wurde (...). Bislang hatten sie sich nicht veranlasst gesehen, einen ähnlichen Weg wie die GenossInnen im Norden zu gehen. Nun jedoch war und ist der Wandel der Arbeitswelt und der Gesellschaft in Spanien, Portugal, Italien und Griechenland nicht mehr zu übersehen.“ (60)
In der Bildung des linken spanischen Parteienbündnisses Izquierda Unida (Vereinigte Linke, IU) unter wesentlicher Beteiligung der Kommunistischen Partei Spaniens (PCE) aber auch Grüner, Linksintellektueller, trotzkistischer Gruppen und Regionalisten sieht Heilig ein Modell, wie die Übertragung des skandinavischen Wegs auf den Süden gelingen kann. Vergleichbares stand in Italien mit der Regenbogen-Linken la Sinistra l’Arcobaleno zur Abstimmung, bestehend aus den beiden kommunistischen Parteien PRC, PdCI, den Grünen und der Demokratischen Linken. Mit der Wahlniederlage der IU am 9. März 2008 und dem verheerenden Ergebnis des Regenbogens kurz darauf im April sind diese Modelle nun in eine tiefe Krise geraten. Was die spanische Entwicklung angeht, so erklärt Heilig: „Sie waren die ersten im Westen Europas, die den Schritt zu einer Vereinigten Linken erfolgreich gegangen sind und sie werden wohl auch die ersten sein, die diesen Schritt wieder zurücknehmen werden.“ (61) Keine Perspektive sieht er auch für das „strategisch wenig profilierte Regenbogenbündnis“, dem eh keine „Idee einer eigenständigen Zukunft“ (64) zu Grunde lag. Seine Diagnose ist für beide Länder gleich: „Die gründenden Parteien beharrten auf ihren Positionen, wollten gemeinsam gewählt werden, aber nicht gemeinsam kämpfen“ (64). Und bei der spanischen IU „gab es zu viele divergierende Positionen, die ein klares Bild und schließlich Andockmöglichkeiten für Bürger(bewegte) vermissen ließen.“ (61)
Die spanische Situation, die zur Wahlniederlage der Izquierda Unida geführt hat, stellt Heilig geradezu auf den Kopf, wenn er schreibt, dass es nicht so war, dass „die IU neben der PSOE keine eigenen Positionen hatte, sondern weil sie derer zu viele hatte.“ (61) Doch gerade die Fixierung auf eine bedingungslose Unterstützung von Ministerpräsident Zapatero führte zur bisher schwersten Krise der IU seit ihrem Bestehen. Völlig konsequent erklärte denn auch der IU-Koordinator Gaspar Llamazares, der für den Zapatero-Kurs eingetreten war, dass er aufgrund des schlechten Abschneidens seiner Partei für eine Wiederwahl nicht mehr zur Verfügung stehe. Er hatte zur Heranführung an die Sozialdemokratie auf ein enges Bündnis mit regionalistischen Parteien gesetzt, wie auch auf eine Vergrünung der programmatischen Ausrichtung. So standen soziale Fragen, wie auch die Anti-Kriegs-Frage in der IU immer seltener auf der Tagesordnung. Dort, wo die IU sich hingegen von der PSOE deutlich absetzte, etwa bei den gleichzeitig abgehaltenen Wahlen in Andalusien, konnte sie sich behaupten.
Was Italien angeht, so schreibt Jens Renner im gleichen Heft 75 der Z.: „Alle Analytiker des Wahlergebnisses von April 2008 sind sich in einem Punkt einig: Die Parteien der Regenbogenlinken haben ihre Mitarbeit in der Regierung Prodi teuer bezahlen müssen.“[1] Doch was für „alle Analytiker“ gilt, gilt noch lange nicht für Dominic Heilig. Er schreibt: „Verbreitet ist die Aussage, die Regierungsbeteiligung unter Romano Prodi hätte die Niederlage begründet; in den Worten kommunistischer Parteimitglieder oft mit der ‚Entfremdung der Partei von den Arbeitern’ umschrieben. Wie sich eine derart schnelle und tiefe ‚Entfremdung’ in nicht einmal zwei Jahren Mitte-Links-Bündnis eingestellt haben soll, wird indes nicht erklärt.“ (59) Feststeht, dass die Rifondazione sich als Konsequenz aus der Wahlniederlage für einen neuen Vorstand, für eine eigenständige Kandidatur mit offenen Listen und für eigenständige Mobilisierung gegen Berlusconis Abwälzung der Finanzkrise (mit unerwartet vielen Hunderttausenden Mitte Oktober in Rom) entschieden hat – eine „antikapitalistisch-linke Linie“, mit der in Deutschland Heilig so wenig wie große Teile des FDS (Forum Demokratischer Sozialismus) Übereinstimmung haben.
Das Scheitern der Parteienbündnisse in Spanien und in Italien als Projekte einer „vereinigten“ Linken hat nach Heilig Auswirkungen auch auf den Formierungsprozess der europäischen Linken. Die ursprüngliche „Arena“ für den rot/grünen Neuanfang bildete nach ihm zunächst das Forum der Neuen Europäischen Linken (NELF), an dem sich auch die skandinavischen Linksparteien beteiligten. Heute sei es die Europäische Linkspartei (EL), die dieses Projekt fortführt: „Für die Etablierung der EL als gemeinsames Projekt linker Parteien in Europa war die Konzentration auf eine vereinigte Linke vollkommen richtig.“ Und für ihr weiteres Vorgehen rät er: „Die EL muss nun, will sie ihr Projekt einer vereinigten Linken fortführen können, Krisenherde innerhalb ihrer Mitgliedsparteien mittels eines europäischen Erfahrungsaustauschs eindämmen und sich auf europäischer Ebene verstärkt dem Ziel einer vereinten Linken widmen“ (61) Also: Zwei Schritte voran, ein Schritt zurück.
An diesem Bild stimmt manches nicht. Zunächst lässt Heilig unter den Tisch fallen, dass die von ihm als Zukunftsmodell der europäischen Linken gepriesenen skandinavischen Linksparteien gar nicht Mitglied der Partei EL sind. Dies hat zum einen damit zu tun, dass sie sich, als ganz auf ihre Unabhängigkeit bedachte Parteien, weigern, einem auch nur losen internationalen Bündnis der Linken beizutreten. Hinzu kommt dort aber auch eine besondere Sichtweise auf die Europäische Union. Diese schätzen die Genossinnen und Genossen aus Schweden, Finnland und auch Dänemark sehr viel weniger euphorisch und damit wahrscheinlich realistischer als manche in der EL ein.
In das von Heilig gezeichnete Bild passt ebenfalls nicht, dass es keineswegs zur „Auflösung des klassischen Proletariats“ in dem Sinne gekommen ist, dass die alten sozialen Trennungslinien nicht mehr für die politische Ausrichtung prägend sind. Dies gilt sowohl für die südlichen als auch für die übrigen europäischen Ländern. Zu beobachten ist vielmehr ein Umgruppierungsprozess, in dem sogar neue, prekarisierte Schichten zum Proletariat stoßen. Nur so kann verstanden werden, dass „traditionelle“ kommunistische Parteien, etwa in Portugal, Griechenland oder Zypern, weiterhin fest in ihren Gesellschaften verankert sind und ihre Wahlergebnisse jüngst sogar verbessern konnten. Ohne Berücksichtigung des überall wieder wichtiger werdenden Klassengegensatzes lässt sich aber auch nicht der Aufstieg der Sozialistischen Partei in den Niederlanden und der Linken in Deutschland, hier vor allem in den alten Bundesländern, verstehen. Und in Italien geht es in den selbstkritischen Debatten über die Wahlniederlage darum, wie man wieder den verlorenen Zugang zu Teilen der Arbeiterklasse zurückgewinnen kann. Dort hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass dies nur mit Hilfe eines selbstbewussten Bezugs auf die eigene Geschichte und auf Klassenkampftraditionen gelingen kann. Auch deshalb hält man in der Rifondazione Comunista weiter an Hammer und Sichel als Parteisymbol fest.
Für die Perspektive der Europäische Linkspartei ist entscheidend, dass sie sich diesen, heute vor sich gehenden Entwicklungen innerhalb der gesamten europäischen Linken nicht verschließt. Sie muss sowohl ein realistisches Bild von der Europäischen Union zeichnen als sich auch der Tatsache bewusst sein, dass sie Ausdruck des weiterhin prägenden Klassengegensatzes ist. Es ist daher richtig, dass sie ihre Türen gegenüber der gesamten europäischen Linken offen hält. So ist zu begrüßen, dass auch „traditionellere“ kommunistische Parteien wie die KP Böhmens und Mährens als auch die deutsche DKP in ihr mit Beobachterstatus aktiv mitarbeiten. Eine Verengung der EL auf ein rot/grünes Projekt einer „vereinigten“ Linken, wie es Heilig vorschlägt, wäre hingegen genau das Gegenteil von dem, was jetzt notwendig ist.
Die Europäische Linkspartei ist aber nur ein Teil einer sehr viel größeren europäischen Linken. In ihrer ganzen Breite ist diese in der linken Fraktion im Europäischen Parlament GUE/NGL repräsentiert. Ihre 41 Abgeordneten aus 14 Mitgliedsparteien kommen aus allen drei Teilen der Linken Europas: dem euroskeptischen Flügel, gruppiert vor allem um die skandinavischen Parteien und in der Fraktion organisiert in der Nordischen Grünen Linken, den „traditionell“ kommunistischen Parteien des Südens und eben den in der Europäischen Linkspartei zusammengeschlossenen Kräften.[2] Die Zusammenarbeit in dieser Fraktion funktioniert trotz der großen ideologischen Unterschiede erstaunlich gut. Macht man sich einmal die Mühe, das Abstimmungsverhalten der linken Abgeordneten über die Jahre durchzusehen, so wird man leicht feststellen, dass die gemeinsamen Positionen klar dominieren. Unterschiedlich stimmt man hingegen in manch außenpolitischen Dingen und bei Fragen der europäischen Integration ab. Was die Zukunft angeht, so ist man sich einig, dass sich das Modell der GUE/NGL bewährt hat und nach den kommenden Wahlen zum Europäischen Parlament 2009 fortgeführt werden soll.
Vor diesem Hintergrund bleibt es völlig unerfindlich, wie Heilig zu seiner Einschätzung kommt, dass „bereits die Konstruktion als konföderale Fraktion nur eine für eine Legislatur sein (konnte)“? Und, dass die Fraktion „diesen Zeitrahmen (...) längst überschritten (hat) und die Probleme in ihr wachsen.“ (62) Wenn er direkt im Anschluss daran schreibt, dass die EL „ein anderes Modell“ bietet, stellt sich ernsthaft die Frage, ob die gemeinsame Fraktion zugunsten des sehr viel engeren Spektrums der EL aufgegeben werden soll, abermals „Klarheit vor Einheit“ gehen soll? Eine solche Strategie wäre abenteuerlich, setzt sie doch die Existenz einer linken Fraktion im EP aufs Spiel, denn eine solche Fraktion wird es auch in Zukunft nur geben, wenn alle drei Teile der europäischen Linken sie gemeinsam wollen. Diese Tatsache ergibt sich alleine schon aus den Bedingungen, die die Geschäftsordnung des Europäischen Parlaments vorgibt. Danach kann eine Fraktion gebildet werden, wenn sich mindestens 25 Abgeordnete aus sieben Mitgliedsländern zusammenschließen. Mit heute 41 Abgeordneten aus 14 Ländern scheint die GUE/NGL demnach auch 2009 nicht gefährdet zu sein. Doch dies täuscht. Gegenwärtig ist sehr unsicher, ob unsere Genossinnen und Genossen aus Italien, Spanien und Frankreich den Wiedereinzug schaffen werden. Auch die Hürde von mindestens sieben Herkunftsländern kann leicht gerissen werden, sind doch sieben Parteien gegenwärtig nur mit einem Abgeordneten in der Fraktion vertreten. Die deutsche Partei Die Linke trägt bereits jetzt große Verantwortung für die linke Fraktion im EP. Ihr Gewicht wird sehr wahrscheinlich nach den Wahlen 2009 noch größer sein. Es sollte daher von ihrer Parteiführung auch nach außen klargestellt werden, dass solchen Ratschlägen, wie von Dominic Heilig und Teilen des FDS, die die schwierige Lage der europäischen Linksparteien nur noch schwieriger machen würden, nicht gefolgt wird.“
[1] Jens Renner, Italiens Linke am Tiefpunkt, in: Z 75, September 2008, S. 12.
[2] Zur Entstehung und Arbeitsweise der GUE/NGL vgl. auch: Andreas Wehr, Die Linken im Europäischen Parlament, in: Z 47, September 2001, S. 20ff.