Internationale Luxemburg-Konferenzen hatten im letzten Jahrzehnt
wiederholt stattgefunden (1998 in Chikago und Tampere, 1999 in
Berlin, 2000 in Zürich, 2002 in Bochum, 2004 in Moskau,
Johannesburg und in der chinesischen Stadt Guangzhou sowie in
Bergamo, 2006 in Wuhan und 2007 in Tokio). Diesmal luden die
Internationale Rosa-Luxemburg-Gesellschaft und die
Rosa-Luxemburg-Stiftung Berlin zu einer Konferenz unter dem Thema
„Mit einem Wort, die Demokratie ist unentbehrlich“
ein.
Heinz Vietzke, Vorsitzender der Rosa-Luxemburg-Stiftung, konnte
über 200 Teilnehmer aus vier Kontinenten (Europa, Asien,
Afrika, Amerika) begrüßen. Er hob hervor, dass die
politischen und ökonomischen Überzeugungen Rosa
Luxemburgs in der heutigen Zeit, die durch Finanzkrisen,
Börsenzusammenbrüche und wachsendes Misstrauen in die
Politik bestimmt ist, besondere Aufmerksamkeit verdienen. Die
Konferenz solle an die Ermordung Rosa Luxemburgs vor 90 Jahren
erinnern und ausloten, wie ihr Erbe für die sozialistische
Linke nutzbar gemacht werden könne.
Narihiko Ito (Japan), Präsident und Begründer der seit
1980 existierenden In-ternationalen Luxemburg-Stiftung, befasste
sich mit Rosa Luxemburgs Sozialismus-Konzept, das sie in
Auseinandersetzung mit den historischen Verhältnissen und mit
Lenins „ultrazentralistischem“ Revolutionsmodell
entwickelt und vertieft habe. Der Massencharakter der
proletarischen Revolution, die Er-oberung der politischen Macht von
unten, Spontaneität anstatt von Zwang, uneingeschränkte
breiteste Demokratie, Öffentlichkeit anstatt von
Geschlossenheit, Vielfältigkeit anstatt begrenzter Eliten,
soziale anstatt egoistischer Instinkte, Schöpfertum anstatt
von Dekreten seien Luxemburgs Vorstellungen vom Sozialismus und vom
Weg dorthin gewesen. Ihre Bemerkung, dass der Krieg den
zukünftigen Sozialismus zerstöre, gelte auch für die
heutigen Kriege. Weil ihr Prinzip der sozialistischen Revolution
gewaltfrei war, habe sie Lenins Anerkennung des „roten
Terrors“ kritisiert. Sozialismus habe für Luxemburg
nicht nur die Sozialisierung der Produktionsmittel, den Wechsel der
Führer (von den Ka-pitalisten zu den Sozialisten) und die
grundlegende Reform des politischen, so-zialen und wirtschaftlichen
Systems bedeutet, sondern die innere Revolution der Menschen
selbst. Der Nachlass Rosa Luxemburgs, führte Ito
abschließend aus, spiele eine wichtige Rolle (Brücke
zwischen den Erfahrungen des fehlgeschlagenen Sozialismus des 20.
Jahrhunderts und dem angestrebten neuen Sozialismus des 21.
Jahrhunderts, da letztendlich nur durch ihn die dem kapitalistische
System immanenten Krisen überwunden werden können.
Evelin Wittich, Rosa-Luxemburg-Stiftung, sprach über
„Unabgegoltenes bei Rosa Luxemburg – nationale und
internationale Diskussionen der Linken“. 90 Jahre nach ihrem
Tode sei das Vermächtnis Rosa Luxemburgs eine besonders
wichtige historische Quelle für die politische Linke, um
zukunftsfähige Politik zu entwickeln. Dies gelte insbesondere
für ihre basisorientierte Demokratie-auffassung, ihr
Revolutions-, Politik- und Parteienverständnis, ihr
Verhältnis zu Militarismus und Krieg sowie ihre
ökonomischen Arbeiten.
Die international bekannte Luxemburg-Forscherin und -editorin
Annelies Laschitza verdeutlichte in ihrem Referat1, wie Rosa
Luxemburg und Karl Liebknecht ihre erst 1914 begonnene
Zusammenarbeit unter den außergewöhnli-chen Bedingungen
von Krieg und Revolution – vor allem in den Wochen der
Novemberrevolution 1918/19 – fortsetzten.
Grundlegende Ausführungen zum Thema „Rosa Luxemburg und
die Analyse des gegenwärtigen Kapitalismus“ offerierte
Michael Krätke (Universität Lan-caster,
Großbritannien). Schon früh habe Luxemburg die
Stagnation im mar-xistischen ökonomischen Denken beklagt.
Luxemburg sei keine Anhängerin der Katastrophentheorie
gewesen. Bereits 1899 habe sie diagnostiziert, dass das Endstadium
der kapitalistischen Entwicklung noch lange nicht erreicht sei. Ihr
besonderes Verdienst liege in der Analyse des Prozesses der
Invasion und Expansion der kapitalistischen Produktionsweise in
nichtkapitalistische ökonomische Räume. Diese
müssten zunächst einmal gründlich transformiert
werden, bevor sie für den schon entwickelten Kapitalismus der
fortgeschritte-nen Industrieländer von Nutzen sein
können. Dass diese „Invasion“ des Kapi-talismus
mit Hilfe des Staates stattfindet, sei bis heute so.
Hervorhebenswert sei, dass Rosa Luxemburg als eine der ersten die
Rolle des internationalen Fi-nanzexports (vor allem des
Kapitalsexports und –imports) untersucht habe. Nach Rosa
Luxemburg habe der Kapitalismus seine logische und historische
Grenze erreicht, wenn die kapitalistische Produktionsweise sich
über die ge-samte Welt ausgebreitet habe, wenn alle
Völker, alle Regionen der Erde in den Gesamtzusammenhang der
kapitalistischen Weltökonomie hineingezogen, vom Weltmark
dominiert werden. Das dieses Stadium historisch zum ersten Male
heute annähernd erreicht sei, mache die Aktualität der
Luxembur-gischen Überlegungen aus, wie auch ihr Versuch, die
Auswege zu analysieren, die der kapitalistischen Produktionsweise
in diesem Endstadium der „Durchkapitalisierung“ noch
bleiben (wie etwa Militarisierung, die Entwick-lung einer
permanenten Rüstungsindustrie, Parasitismus, die weltweite
Schuldenökonomie, die Entwicklung eines internationalen
Finanzkapitals).
Im Panel „Biografisches zu Rosa Luxemburg“ – von
Ottokar Luban (Deutschland), Sekretär der Internationalen
Luxemburg-Stiftung, moderiert sprachen Feliks Tych (Polen),
Jean-Francois Favet (Schweiz), Florian Wilde und Klaus Gittinger
(beide Deutschland). Tych, der seit längerem eine
Leo-Jogiches-Biografie vorbereitet, erhellte die teilweise sehr
engen, aber auch konfliktreichen Beziehungen zwischen Luxemburg und
Jogiches, vor allem ihre wech-selseitige Beeinflussung und ihre
Differenzen in der Revolutionszeit 1918/19. Fayet umriß die
zuweilen distanzierte Haltung Luxemburgs zum nach Deutschland
entsandten „Kommissar“ der Bolschewiki Karl Radek.
Wilde stellte Ernst Meyer, Weggefährte Rosa Luxemburgs im
Ersten Weltkrieg, vor und ging besonders auf dessen Kampf um
Luxemburgs Erbe in der KPD ein. Gittinger enthüllte die
politischen Hintergründe der Ermordung Rosa Luxemburgs und
Karl Liebknechts
Im Panel „Rosa Luxemburg und die Demokratie“ –
moderiert von Cornelia Dommaschke (Deutschland) – befasste
sich Tanja Storlokken (Norwegen) mit Luxemburgs
Demokratievorstellungen unter besondere Berücksichtigung
ih-rer unvollendeten Gefängnisschrift vom Herbst 1918
„Die Russische Revolution“. Sergej Kretinin
(Rußland) und Wang Xuedong (China) arbeiteten Gemeinsamkeiten
und Unterschiede in den Demokratiekonzepten von Rosa Luxemburg und
Lenin bzw. von Luxemburg und Mao heraus. Jörn Schütrumpf
(Deutschland) stellte Paul Levi als Verteidiger des demokratischen
Sozialis-mus Rosa Luxemburgs vor.
Den ersten Konferenztag beendete eine von Alfred Eichhorn
(Deutschland) moderierte Podiumsdiskussion „Rosa Luxemburg
heute – drei Perspektiven“ und der Luxemburg-Film der
Regisseurin Margaretha von Trotta. Annelies Laschitza, die
schweizerische Schriftstellerin Ingeborg Kaiser (Autorin von
„Róza und die Wölfe. Biografische Recherchen zu
Rosa Luxemburg“) und die Europaparlaments-Abgeordnete Sahra
Wagenknecht (Deutschland), schilderten kenntnisreich und sehr
emotional, wie sie sich auf sehr verschiedenen Wegen die
faszinierende Persönlichkeit und das ideenträchtige Werk
Rosa Luxemburgs erschlossen hatten.
Der zweite Konferenztag begann mit der Vorstellung von Pekinger
Umfrageergebnisse zum Wissen über Rosa Luxemburg durch Zhang
Wenhong (China). Schauspieler des Berliner Grips-Theaters stellten
Szenen aus dem Stück „Rosa“ von Franziska Steif
und Volker Ludwig vor; Schülerinnen und Schüler von zwei
Berliner Gymnasien berichteten in einer Gesprächsrunde
über ihr Verhältnis zu Rosa Luxemburg (sie hatten vordem
selbst Luxemburg-Texte dargeboten).
In einem dritten, von Wladislaw Hedeler (Deutschland) moderierten
Panel „Rosa Luxemburg aus internationaler Perspektive“
erörterte Jakow Drabkin (Russland) das Thema „Rosa
Luxemburg und die Probleme der Gründung der Kommunistischen
Internationale“. Er forderte die Historiker zu einer
differen-zierteren und ausgewogeneren Einschätzung des
Verhältnisses Luxemburg-Lenin-Komintern auf. In seinem
Heimatland gebe es so gut wie keine Aufar-beitung des Nachlasses,
der Ideen Rosa Luxemburgs, da es dort heutzutage
„unmodern“ sei, Marxist, Kommunist oder
Revolutionär zu sein. Da Rosa Luxemburg diese Dreieinigkeit
ihrerseits bestens verkörpert habe, lohne es sich, bei jedem
Disput unter den Linken über die Wechselwirkungen von
Gegen-sätzen wie zum Beispiel Revolution-Reform,
Demokratie-Diktatur, Freiheit-Gewalt, Individium-Masse,
Spontaneität-Organisation sowie Kapitalismus-Sozialismus
zunächst Rosa Luxemburg zu befragen. Isabel Loureiro
(Brasi-lien) schilderte die Aktualität Luxemburgischer Ideen
in Lateinamerika am Beispiel ihres Landes. Sie informierte
über die Realisierung des Dokumentarfilmes „Die Blume
der Revolution (über Rosa Luxemburg)“, in dem die
revolutionäre, sozialistische und demokratische Rosa Luxemburg
in der ganzen Vielfältigkeit ihres antidogmatischen und
freiheitlichen Sozialismus gezeigt werde. Zhang Wenhong betrachtete
das heutige Tibetproblem unter Berücksichtigung von Luxemburgs
Herangehen an die Frage der nationalen Autonomie.
Im vierten Panel spielten Rosa Luxemburgs Überlegungen zu
Ökonomie und Politik eine Rolle. Dogan Göcmen
(Türkei) wandte sich speziell dem Begriff des Politischen bei
Rosa Luxemburg in Auseinandersetzung mit Carl Schmitts Begriff des
Politischen zu. He Ping (China) befasste sich mit Luxemburgs
ökonomischer Theorie und Sobhanlal Datta Gupta (Indien)
filterte aus Luxemburgs Briefen deren Vision von Demokratie und
Sozialismus heraus. Kaum jemand, der Rosa Luxemburg achte und
kennen lernen wolle, konsta-tierte er, könne sich der
Faszination entziehen, die von ihren Briefen und Korrespondenzen
ausgehe.
Insgesamt konnten die Veranstalter ein recht positives Fazit der
Konferenz ziehen. Sie habe gezeigt, dass die Linken der Gegenwart
bei der Diskussion ihrer zentralen Probleme bei Rosa Luxemburg
entscheidende Impulse finden und dass Luxemburgs Ideen in vielen
Ländern der Welt nach wie vor nachhaltigen Interesse
entgegengebracht wird.
1 „Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht in den Wochen der Revolution“, abgedruckt im vorliegenden Heft, S. 23-39 (Anm. d. Red.).