Ein Jahr nach Ausbruch der schwersten Wirtschaftskrise[1] der Nachkriegszeit ist der Ausgang noch nicht absehbar. Während einige Beobachter eine „Bodenbildung“ im zweiten Halbjahr 2009 sehen,[2] hält die April-Prognose des Internationalen Währungsfonds (IWF) auch eine Verschärfung und Verlängerung des Abschwungs für möglich.
Bodenbildung und Abwärtsrisiken
Ein Vergleich der IWF-Prognosen von Oktober 2008 und April 2009 in der nachstehenden Tabelle illustriert die Dramatik der letzten Monate. Obwohl die neuen Zahlen düster sind, könnte es nach Ansicht des IWF auch schlimmer kommen: „Unter den Risiken überwiegen jene nach unten.“[3]
Ende 2008 war an dieser Stelle (Z 76, S. 14) die Möglichkeit einer tiefen und langen Krise diskutiert worden. Gleichwohl wurden – unter Verweis auf Prozesse der nachholenden Industrialisierung in der ehemaligen Peripherie – auch Stabilisierungsmomente gesehen. Heute zeigt sich, dass die Ende 2008 angedeutete Möglichkeit der Verschärfung der Krise – u. a. durch den Übergriff der Finanzmarktkrise auf die Devisenmärkte –Wirklichkeit geworden ist. Dafür waren drei Faktoren ausschlaggebend:
Die Abwertung der Währungen von Schwellenländern und der Rückgang der Rohstoffpreise ab Mitte 2008 haben Staaten getroffen, die einen kontinuierlichen Zustrom von Auslandskapital brauchen. Betroffen sind vor allem Länder der GUS-Zone und Mittel/Osteuropas. Afrika leidet unter dem Verfall der Rohstoffpreise.
Ausgehend von der Krisendynamik in den entwickelten Ländern ist der Welthandel eingebrochen. Im Herbst 2008 war noch angenommen worden, dass der Importsog der Schwellenländer stabilisierend wirkt.
Die – auch vom Autor – unterstellte stabilisierende Wirkung der Industrialisierung in Asien ist Realität, das Wachstum in China und Indien hält auch 2009 an. Andererseits wirken – wie Dieter Boris in diesem Heft zeigt – die mit dem Aufstieg Chinas und anderer Regionen verbundenen Ungleichgewichte (insbesondere das US-Defizit) krisenverschärfend.
IWF-Prognosen 2008-2010
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Das Zusammenspiel der synchron verlaufenden internationalen Überproduktionskrise, der Finanzmarktkrise, der Währungskrisen und struktureller Krisen von Schlüsselsektoren erzeugt einen Problemmix, der auch die stabileren Schwellen- und Entwicklungsländer mitreißen könnte. Daher ist ungewiss, ob sich die gegenwärtig sichtbare Verlangsamung des Abschwungs durchsetzt oder ob es im zweiten Halbjahr 2009 zu einer erneuten Abwärtswelle kommt.
Krisen als reinigende Gewitter
Krisen sind – als Zusammenfassung und zeitweilige Lösung aller Widersprüche – notwendige Bedingungen der kapitalistischen Akkumulation. Der Prozess der Bereinigung von Überkapazitäten, der Vernichtung von überakkumuliertem Kapital und der Restrukturierung ist in vollem Gange. Die aktuelle Krise ist aber nicht nur eine zyklische Überproduktionskrise, wie sie alle sieben bis neun Jahre einzutreten pflegt, sondern Ergebnis der Verflechtung mit einer Finanzmarktkrise, welche durch die über mehrere Konjunkturzyklen hinweg entwickelte Disproportion zwischen der relativ langsamen Akkumulation von produktivem Kapital auf der einen und der explosionsartigen Akkumulation von Finanzkapital auf der anderen Seite charakterisiert ist. Die für die Perspektiven des Kapitalismus entscheidende Frage ist, inwieweit die aktuelle Krise dazu beiträgt, das den Reproduktionsprozess überzyklisch belastende Missverhältnis zwischen der Akkumulation von produktivem und von Geldkapital zu bereinigen.
Es kann gezeigt werden, dass dies nicht gelingt und im Rahmen der gegenwärtigen ökonomischen und politischen Strukturen des Kapitalismus auch nicht gelingen kann. Diese Strukturen müssten grundlegend verändert werden, vor allem müsste es zu einer Entmachtung des Finanzkapitals und einer Reorganisation im System der Geld- und Kreditversorgung kommen. Ausgehend von der Tatsache, dass die Versorgung der produzierenden Wirtschaft mit Zahlungsmitteln eine öffentliche Aufgabe ist, die nicht einzelwirtschaftlichem Profitstreben untergeordnet werden darf, müsste es zu einer gesellschaftlichen Kontrolle dieses Sektors kommen. Zwar ist nicht ausgeschlossen, dass solche bislang von Teilen der Linken, aber auch im UN-System diskutierte Lösungen bei einer erneuten Verschärfung der Finanzmarktkrise Durchsetzungschancen haben. Eine weitere Runde von Kreditausfällen als Folge der Krise der produzierenden Wirtschaft ist nicht ausgeschlossen: Sollten im Zuge wachsender Arbeitslosigkeit Kreditkartenschulden in großem Umfang ausfallen, sollten Unternehmen wegen weiterer Absatzprobleme insolvent werden, dann könnten auch solide Kreditketten zusammenbrechen.
Gegenwärtig aber stehen Rettung und Restrukturierung der privaten Banken durch Staatshilfe, staatliche Geldschöpfung und die Förderung von Fusionen im Mittelpunkt der Krisenstrategien. Im Folgenden soll hervorgehoben werden, dass die geplanten bzw. umgesetzten Maßnahmen wiederum – wie in den vorangegangenen Finanzkrisen – an den Krisenursachen, d.h. der Überakkumulation von Geldkapital, nichts ändern. Es ist im Gegenteil so, dass die Rettung des privaten Finanzsektors durch den Staat nur dann gelingen kann, wenn das Casino wieder seinen Betrieb aufnimmt.
Das private Finanzvermögen wird (2007) weltweit auf einen Wert von 196 Billionen Dollar geschätzt.[4] Dabei handelt es sich meist um Aktien und andere Wertpapiere, die Eigenkapital bzw. verbriefte Kredite repräsentieren. Dieses Finanzvermögen ist in gewissem Sinne eine „Verdopplung“ des in Form von Bauten, Maschinen, Anlagen, Vorratslagern usw. akkumulierten „wirklichen Kapitals“.[5] Obwohl sich nicht das gesamte materielle Anlagevermögen einer Gesellschaft in Form von Wertpapieren „verdoppelt“ – man denke an hypothekenfrei Häuser oder schuldenfreie Personenunternehmer –, kann man doch versuchen, den Wert des Finanzvermögens als fiktivem Kapital dem von diesem repräsentierten „wirklichen Kapital“, dem entsprechenden Sachvermögen, gegenüberzustellen. Das ist an der Börse eine verbreitete Übung – man will wissen, ob der Börsenwert eines Unternehmens über oder unter dessen „innerem Wert“ liegt.
Was einzelwirtschaftlich relevant ist – nämlich das Verhältnis von fiktivem zu wirklichem Kapital – ist gesamtwirtschaftlich umso wichtiger. Die Frage ist: In welchem Verhältnis stehen der Wert der weltweiten Finanzvermögen in Form von Aktien, Kreditansprüchen und anderen Wertpapieren (fiktives Kapital) zum Wert der dadurch repräsentierten Sachanlagen (wirkliches Kapital). Während diese Frage bezogen auf Einzelobjekte regelmäßig untersucht wird, wird sie für die Gesamtwirtschaft noch nicht einmal gestellt. Dies soll hier versucht werden. Zu diesem Zweck muss der Wert der weltweiten Sachanlagen (= wirkliches Kapital) geschätzt werden. Da es dazu keine zuverlässige internationale Statistik gibt, kann hier nur eine ungefähre Annäherung versucht werden, ausgehend vom bekannten Verhältnis zwischen privatem Anlagevermögen einerseits und dem jährlichen Inlandsprodukt andererseits. Im Jahre 2007 lag diese Relation, hier als Kapitalproduktivität bezeichnet, in Deutschland bei 0,38, d.h. es war der Einsatz von 100 Wertteilen Sachvermögen notwendig, um 38 Teile Wertschöpfung (= Inlandsprodukt) zu erzeugen.[6] Überträgt man dieses Verhältnis auf das weltweite Inlandsprodukt, vom IWF mit 54.585 Mrd. US-Dollar (2007) beziffert, dann errechnet sich ein weltweites Sachanlagevermögen von 143 Billionen US-Dollar.[7]
Dieser Wert ist dem Finanzvermögen von 196 Billionen gegenüberzustellen. Daraus ergibt sich ein Verhältnis zwischen Finanzvermögen und Sachvermögen (von fiktivem zu wirklichem Kapital) von etwa 1,4:1. Der Wert des Finanzvermögens, dem kein Sachvermögen entspricht, beträgt demnach 50 bis 60 Billionen US-Dollar, was um Dimensionen mehr ist als der Abschreibungsbedarfs der Banken, der vom IWF mit 4 Billionen beziffert wird.
Nun ist eine Überschuldung – wie für den Hausbesitzer und seine Bank – kein Problem, solange der Schuldner Zinsen und Tilgungen zahlen kann und die Bank somit eine Rendite auf das ausgeliehene Kapital erhält. Für den Finanzanleger gibt es zu jedem Zeitpunkt zwei Renditequellen, wie am Beispiel von Aktien gezeigt werden kann: In der Produktion erwirtschaftete Profite und Kursgewinne. Der Aktionär möchte einmal eine Dividende beziehen; bei produzierenden Unternehmen ist dies der Teil des in der Produktion erwirtschafteten Profits, den das Management an die Aktionäre abführt. Meist aber ist die Dividende für Großanleger nur von sekundärem Interesse. Das Hauptinteresse gilt dem Aktienkurs, der weniger vom Wertzuwachs des Unternehmens als von Angebot und Nachfrage an den Börsen, d.h. von der Spekulation, abhängt. Die Dividende kann niedrig sein, wenn der Aktienkurs steigt – solange scheint dem Aktienbesitzer, als entstünden Gewinne aus dem Nichts, durch bloßen Kauf und Verkauf von Wertpapieren.
Langfristig aber führt die explosionsartige Steigerung des Finanzvermögens in Verhältnis zum Produktivvermögen und zur Produktion dazu, dass sich die Inhaber der Wertpapiere einen immer größeren Teil der gesellschaftlichen Wertschöpfung und damit des Profits aneignen, was die Produktivkraftentwicklung hemmt. So lange wie die Preise der Wertpapiere steigen und Kursgewinne gemacht werden, ist dieser Zusammenhang verdeckt. Er bricht sich erst dann Bahn, wenn die Preise der Vermögensanlagen nicht mehr steigen, was schon in einer „normalen“ Überproduktionskrise der Fall ist. Dann sinkt der Wert der Finanzvermögen, ein Teil der Schuldner macht Bankrott, so dass Aktionäre und Kreditgeber ihre Wertpapiere abschreiben müssen.
Es ist genau diese Bereinigungsfunktion der gegenwärtigen Krise, die heute blockiert ist. Die Inhaber der Wertpapiere sind heute nicht mehr wohlhabende Privatiers und Rentiers, sondern Banken, Versicherungen, Fonds und andere Kapitalsammelstellen. Wären diese gezwungen, in der gegenwärtigen Krise den Teil des Finanzvermögens, dem keine Sachwerte entsprechen, verloren zu geben, müssten sie – legt man die obige Schätzung zugrunde – nicht 4 sondern 50 bis 60 Billionen Dollar abschreiben. Damit wären sie bankrott, was nicht schlimm wäre, würde die Politik private Banken durch ein öffentliches Finanzsystems ersetzen.
So aber werden selbst die derzeit geschätzten Buchverluste von 4 Billionen kaum von den Inhabern der faulen Wertpapiere getragen werden müssen. Denn diese befinden sich in der beneidenswerten Position „systemrelevant“ zu sein. Der Verweis auf „Systemrelevanz“ – wegen der Verflechtungen kann jede Bank behaupten, „systemrelevant“ zu sein – macht sie unantastbar. Mit dem Ruf „Ich bin systemrelevant, holt mich hier raus“ kann vom Staat die Deckung jedes auch noch so großen Verlustes erpresst werden. Als sich die Politik darauf einließ, das Finanzsystem strukturell unverändert zu lassen – d.h. die Gesundheit des Systems weiterhin an die Gesundheit der einzelnen Banken zu binden – waren die Würfel gefallen, und zwar nicht nur mit heute noch unabsehbaren Folgen für die öffentlichen Finanzen, sondern, schlimmer, für die Entwicklung des finanzmarktgetriebenen Systems. Das Handels- und Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen (UNCTAD) beschreibt die Fehlentwicklung so: Der Fehler der Regulierungspolitik vor der Krise war die Ansicht, gesunde, profitable Banken seien gleichbedeutend mit einem gesunden, funktionsfähigen Finanzsystem. Jene „Finanzinnovationen“, die heute als Ursache der Instabilität des Systems ausgemacht werden, sollten aber gerade die Profitabilität der Einzelinstitute steigern. Der IWF noch 2006: „ … es wird zunehmend erkannt, dass die Streuung der Kreditrisiken auf eine breitere und unterschiedlich zusammengesetzte Gruppe von Investoren … geholfen (hat), das Bankensystem und das gesamte Finanzsystem zu stabilisieren… Die Geschäftsbanken dürften heute gegenüber Kredit- und ökonomischen Schocks widerstandsfähiger sein.“[8] Die Gleichsetzung von gesunden Banken mit gesundem System bestimmt aber weiterhin die staatlichen Stabilisierungsversuche: Indem die Banken unter Einsatz öffentlicher Gelder gerettet und wieder profitabel gemacht werden glaubt man, das System zu retten. „Vom Gesichtspunkt des Regulators“, wendet die UNCTAD ein, „darf aber einzig die soziale Funktionsfähigkeit Kriterium für Eingriffe sein.“ (S.12). Ein funktionsfähiges Finanzsystem aber braucht keine privaten Banken.
Es gibt Alternativen – bei Überführung der relevanten Banken in öffentliches Eigentum. Das hört sich revolutionärer an als es ist: In der alten EU (EU-15) halten etwa 20 Banken (von fast 7000) rund zwei Drittel der gesamten Bilanzsumme. Der Anteil der fünf größten Institute an der Bilanzsumme der Banken lag 2006 in den alten Ländern der EU bei durchschnittlich 54 Prozent, in 17 der 25 EU-Länder halten die fünf größten Banken mehr als 50 Prozent der Bilanzsumme.[9] Verstaatlichung und Kontrolle von zwei bis drei Dutzend Instituten und die Gewährleistung privater Einlagen hätten ausgereicht, um die Geld- und Finanzierungskreisläufe zu sichern. Dies haben die politischen Entscheidungsträger nicht gewollt. Stattdessen bevorzugen sie Lösungen, welche die öffentlichen Haushalte belasten und die – was noch gravierender ist – das Krisenpotential der aufgeblähten Finanzsphäre nicht beseitigen.
Dies kann am Beispiel der Debatte über „bad banks“ in Deutschland demonstriert werden. Die Finanzaufsicht Bafin schätzt den Gesamtwert „toxischer“ Wertpapiere in den Händen der Banken auf 853 Milliarden Euro. Zum Vergleich: Die Einnahmen des Bundeshaushalts lagen im Jahre 2007 bei 251 Mrd. Es ist offensichtlich, dass das Verlustpotential dieser Papiere, die aktuell zu einem großen Teil wertlos sind und abgeschrieben werden müssten, damit die Krise ihre Reinigungsfunktion ausführen kann, so groß ist, dass Steuergelder nicht ausreichen. Der Abschreibungsbedarf ist so groß, dass der Staat ist gar nicht in der Lage ist, die notwendigen Entwertungsprozesse im Finanzsektor zu finanzieren. Stattdessen versprechen Steinbrück & Co – indem sie behaupten, die Übernahme der Risiken der „giftigen“ Papiere würde dem Steuerzahler nichts kosten – nichts anderes als die Wiedereröffnung des Casinos. Sie setzen auf einen erneuten Anstieg der Preise der jetzt unverkäuflichen Wertpapiere. Statt die Spekulation ein für alle Mal zu stoppen hofft der Staat auf spätere Spekulationsgewinne. Ob diese Hoffnung aufgeht, ist natürlich ungewiss. Jedenfalls ist das Risiko hoch – sonst würden die Banken die Papiere nicht beim Staat deponieren.
Der in den großen kapitalistischen Ländern eingeschlagene Weg der staatlichen Übernahme fauler Wertpapiere (ob durch „bad-banks“, Zweckgesellschaften oder die Zentralbank) soll deren Entwertung verhindern. Der Staat tritt auf als „buyer of last resort“ in der Hoffnung, die Papiere nach der Krise wieder auf den Markt werfen zu können. Die UNCTAD konstatiert: „Wenn der Enthusiasmus der Finanzmärkte auf die Realität der – relativ langsam wachsenden – Realökonomie trifft, ist ein Anpassung der überzogenen Erwartungen der Finanzakteure unausweichlich.“ (S. XI) Diese Anpassung vollzieht sich derzeit – statt dieser aber ihren Lauf zu lassen, tun die Regierungen alles, um durch Geldschöpfung die Rückkehr zu den alten Erwartungen zu fördern.
Historische Wirkungen der Krise
Die Vergleiche der aktuellen Krise mit jenen von 1929/32 und 1974/76 legen den Gedanken nahe, dass auch die Krise 2007/201X zu Strukturveränderungen im Kapitalismus führen wird. Wirtschaftspolitisch gesehen läutete die Krise von 1929ff den Siegeszug des Keynesianismus, d.h. der fordistisch/etatistischen Entwicklungsphase des Kapitalismus ein, die es der Arbeiterbewegung ermöglichte, vor dem Hintergrund hoher Wachstumsraten soziale und demokratische Reformen durchzusetzen. Die Krise 1974/76 markierte das Ende dieser Periode und den Beginn des Zeitalters des Neoliberalismus, dessen sozialer Inhalt nicht das Ende staatlicher Regulierung, sondern die Schwächung der Arbeiterbewegung, Umverteilung und Sozialabbau ist. Die Frage ist, ob die gegenwärtige Krise wiederum einen Wendepunkt in der kapitalistischen Entwicklung bringt.
Der Zusammenhang zwischen kapitalistischen Krisen und gesellschaftlichen Umbrüchen ist jedoch kein Automatismus, sondern wird über politische Prozesse und Veränderungen der politischen und sozialen Kräfteverhältnisse hergestellt. Gegenwärtig scheinen sich – trotz der besonderen Tiefe der Wirtschaftskrise – keine „historischen“ Umbrüche abzuzeichnen. Ob es im weiteren Verlauf der Krise zu einem wirklichen Paradigmenwechsel kommt – wie Jörg Huffschmid und Lucas Zeise diskutieren – kann derzeit noch nicht entschieden werden. Wichtig ist die Entfaltung kollektiven Widerstands, wie Harald Werner zeigt. Ob es dazu kommt hängt sowohl von objektiven (Tiefe und Dauer der Krise) als auch von subjektiven (Kraft der sozialen Bewegungen) Faktoren ab.
Das heißt, dass die „Würfel“ gegenwärtig, im Frühjahr 2009, noch nicht gefallen sind. Weder ist klar, ob die in den vorliegenden Prognosen unterstellte Stabilisierung gelingt, noch ist absehbar, ob dann, wenn die sozialen Auswirkungen der Krise bei den Betroffenen ankommen, neues Widerstandpotential entsteht. Daher können an dieser Stelle nur jene Felder genannt werden, auf denen Umbrüche notwendig wären, um die neoliberale Periode des Kapitalismus zu beenden: das System der Finanzmärkte, die Rolle des Staates, die Frage der Supranationalität und die hegemonialen Konstellationen auf den Weltmärkten.
Rolle und Struktur der Finanzmärkte
Ein Ende der neoliberalen Periode, die u.a. durch die Dominanz der Finanzmärkte gekennzeichnet ist, müsste mit einer einschneidenden Reorganisation der Finanzsphäre einhergehen. Denkbar wäre – wie gezeigt – ein System, das auf seine Kernaufgabe, die Versorgung der produzierenden Wirtschaft mit Zahlungsmitteln, beschränkt ist. International werden solche Lösungen unter dem Schlagwort „Bretton Woods II“ diskutiert, womit der Aufbau einer stabilen internationalen Finanzarchitektur gemeint ist. Die aktuellen Tendenzen gehen allerdings in eine andere Richtung, wie die Ergebnisse des Londoner G20-Gipfels von Anfang April zeigen.[10] Es soll versucht werden, zukünftig extreme Auswüchse durch eine dichtere und besser gezielte staatliche Regulierung zu vermeiden. International wird eine Stärkung des IWF angestrebt, also jener Institution, die noch vor zwei Jahren von der segensreichen Wirkung der Finanzspekulation geschwärmt hatte. Zwar zeichnet sich eine Machtverschiebung in den Leitungsgremien des IWF ab, ein Paradigmenwechsel aber ist nicht in Sicht.
Neue Aufgaben für den Staat?
Reagans Spruch: „Der Staat ist nicht die Lösung für unser Problem, sondern der Staat ist das Problem“ hat viele Beobachter verleitet, die Frage des Verhältnisses von Staat und Markt in den Mittelpunkt der Analyse des Neoliberalismus zu stellen. Tatsächlich ist der soziale Inhalt des Neoliberalismus die Umverteilung zwischen Arbeit und Kapital, der Abbau von Sozialer Sicherung und die Entmachtung der Arbeiterbewegung. Die Skrupellosigkeit, mit der Regierungen heute in die Märkte eingreifen, macht deutlich, dass die Indienststellung des Staates zur Rettung und Restrukturierung privater Unternehmen sich mit Neoliberalismus bestens verträgt. Das in Deutschland versuchte politische Kunststück, staatliche Rettungsprogramme für Banken und Automobilindustrie aufzulegen und gleichzeitig eine „Schuldenbremse“ im Grundgesetz zu verankern zeigt, wie gut sich Staatsintervention und Neoliberalismus vertragen. Der gegenwärtig zu konstatierende massive Rückgriff auf staatliche Interventionen bedeutet keineswegs automatisch das Ende der bisherigen neoliberalen Orientierung. Allerdings ist auch hier noch nichts entschieden – viel wird vom weiteren Verlauf der Krise und der sozialen Folgen abhängen.
Nationalstaat oder Supranationalität?
Neben der Verflechtung mit der Finanzmarktkrise und Währungskrisen ist die internationale Gleichzeitigkeit ein zentrales Merkmal und zugleich verschärfender Faktor der Krise 2007/201X. Beide Elemente sprechen eigentlich für eine größere Bedeutung supranationaler Strukturen. Tatsächlich aber scheint die Krise die Renaissance des Nationalstaats einzuläuten. Sowohl die Rettungspakete für die Banken als auch die Konjunkturprogramme wurden national konzipiert und umgesetzt. In der EU ist die Rolle der scheinbar so mächtigen Kommission kaum wahrzunehmen. Derzeit ist nicht absehbar, ob es im weiteren Verlauf zu einer Stärkung supranationaler Ansätze kommt. Die von der UN eingesetzte Kommission zur Reform des Internationalen Geld- und Finanzsystems unter Vorsitz von Nobelpreisträger Joseph Stiglitz macht dies an zwei Punkten fest: Der Ablösung des auf dem Dollar basierenden internationalen Zahlungssystems durch ein globales Reservesystem und die Einrichtung eines „Globalen Wirtschaftsrats“, der mit ähnlichen Kompetenzen ausgestattet sein soll wie der UN-Sicherheitsrat.[11] Obwohl es – wie Peter Wahl zeigt – derzeit scheint, als würden jene Positionen obsiegen, die lediglich einen finanziell besser ausgestatteten IWF wollen, ein Organ, das gegenüber den entwickelten Industrieländern keinerlei Kompetenzen besitzt, sind auch hier die Entscheidungen noch nicht gefallen.
Ende der US-Hegemonie
Während die drei oben genannten Fragenkomplexe zwar noch nicht entschieden sind, sich gegenwärtig aber eher Tendenzen zur Stabilität, bestenfalls zur leichten Modifikation des herrschenden neoliberalen Entwicklungsmodells abzeichnen, sind schon heute deutliche Verschiebungen der hegemonialen Machtverhältnisse sichtbar. Die Krise markiert wirtschaftlich das Ende der US-Hegemonie und der „Triade“ von Nordamerika, Westeuropa und Japan. Sie führt zu Verschiebungen der wirtschaftlichen Machtverhältnisse nach Asien (auf dem amerikanischen Kontinent zugunsten des Südens), stärkt die Rolle der BRIC-Staaten. Auch wenn nicht übersehen werden darf, dass die US-Hegemonie auch auf militärischen Faktoren beruht, zeigt die Krise die Labilität der US-Ökonomie. Der Übergang von G8 zu G20 ist nur Ausdruck der Machtverschiebungen. Damit haben die USA als kapitalistische Hauptmacht aber noch nicht ausgespielt. Das Ringen zwischen China und den USA um die Frage der internationalen Reservewährung ist nicht entschieden, ebenso wenig wie die Frage, ob der Aufstieg der BRIC-Staaten mit einer Stärkung der übrigen Entwicklungs- und Schwellenländern verbunden sein wird.
[1] Der Titel lehnt sich an eine Überschrift an, die Eugen Varga dem Bericht „Wirtschaft und Wirtschaftspolitik im 1. Vierteljahr 1930“ gab. Vgl. E. Varga, Wirtschaft und Wirtschaftspolitik, Vierteljahresberichte 1922-1939, hrsg. v. Jörg Goldberg, Bd. 4, Internationale Presse-Korrespondenz, S. 958.
[2] Der Vorsitzende der deutschen „Wirtschaftsweisen“ erwartet „im Verlauf des Sommers eine gewisse konjunkturelle Bodenbildung“. Bild-Zeitung v. 16.4.2009.
[3] „Downside risks predominate“, urteilt der IWF. International Monetary Fund, World Economic Outlook, Crisis and Recovery, April 2009, S.16, Washington D.C.
[4] www.bims.com/data/090210-europa-am-ende-statistik.pdf, 22.4.09. Siehe auch den Beitrag von Jörg Huffschmid in diesem Heft.
[5] Karl Marx, Das Kapital, Dritter Band, MEW 25, S. 488; S. 494.
[6] Diese Relation errechnet sich aus dem Verhältnis zwischen dem deutschen Bruttoinlandsprodukt (2007: 2.423 Mrd. EUR) und dem Wert des privaten Nettoanlagevermögens zu Wiederbeschaffungspreisen (2007: 6.360 Mrd. EUR). Statistisches Bundesamt, Volkswirtschaftliche Gesamtrechnungen, Anlagevermögen nach Sektoren, Arbeitsunterlage, Wiesbaden 2008.
[7] Dies sind nur ungefähre Größenverhältnisse. Einerseits sind staatliche Finanz- und Sachanlagevermögen ausgeklammert; andererseits ist ein großer Teil des privaten Sachanlagevermögens nicht durch Wertpapiere „gedoppelt“, weil es nicht belastet ist. Die Überschuldungsrate dürfe also in der Realität weit höher sein.
[8] UNCTAD, The Global Economic Crisis: Systemic Failures and Multilateral Remedies, New York-Geneva 2009, S. 14.
[9] Deutsche Bank Research, Banken in Europa: Die stille (R)Evolution, 26. Mai 2008, S. 9/10.
[10] Vgl. Rainer Falk, Good-bye Bretton Woods II, Informationsbrief Weltwirtschaft und Entwicklung, Luxemburg, Nr. 03-04/2009.
[11] The Commission of Experts on Reforms of the International Monetary and Financial System, Recommendations, 19 March 2009, New York.