In der Nacht zum 29. September 2008 schnürte die Bundesregierung gemeinsam mit privaten Banken das erste Hilfspaket für den Münchner Immobilienfinanzierer Hypo Real Estate. An den Verhandlungen waren Bundesfinanzminister Peer Steinbrück und Jochen Sanio (Bankenaufsicht) und seitens der privaten Banken Martin Blessing (Commerzbank), Josef Ackermann (Deutsche Bank) und Klaus-Peter Müller (Bankenverband) beteiligt. Dem Treffen war ein gemeinsamer Brief von Sanio und Bundesbankpräsident Axel Weber vorausgegangen, in dem vor einem Zusammenbruch des EU-Finanzmarkts als Folge eines Domino-Effekts gewarnt worden war. Den Ausschlag für die Verhandlungen in jener Nacht gab ein Anruf Ackermanns bei Steinbrück.[1] Ein Tabu war gebrochen und es müssen schlagende Argumente und starker politischer Druck gewesen sein, die - anders als in früheren zyklischen und Finanzkrisen - einen Sinneswandel hinsichtlich staatlicher Eingriffe bewirkten. Bereits am 18. September hatten der damalige US-Finanzminister Henry Paulson und Fed-Chef Ben Bernanke mit einem dramatischen Auftritt im US-Kongress vor einem Zusammenbruch des Welt-Finanzsystems gewarnt; zwischen dem 7. und dem 29. September hatten die US-amerikanische, die britische und die isländische Regierung sowie die Beneluxstaaten verschiedene Banken gerettet oder teilverstaatlicht.
Warnungen vor einer Weltfinanzkrise hatte es seit langem gegeben. Auch viele Konjunkturindikatoren zeigten an, dass der Aufschwung spätestens seit Frühjahr 2007 an Dynamik verlor. Das Problem vieler Ökonomen besteht jedoch darin, dass sie glauben, der Markt beseitige Ungleichgewichte reibungslos. Selbst wenn eine Krise eingetreten ist, wird dieses Wort vermieden, entweder aus ideologischen Gründen oder um die Erwartungen nicht einzutrüben. Da kommt es schon mal vor, dass selbst ein prominenter Ökonom wie Klaus F. Zimmermann, Chef des Berliner Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), fordert, eine zeitlang überhaupt keine Prognosen mehr zu publizieren. Alan Greenspan war als Zentralbankchef der USA bekannt für seine nebulösen Äußerungen, die nicht nur wegen seiner schlechten Aussprache niemand so recht verstand. Er formuliere so, um die „Märkte nicht negativ zu beeinflussen“. Joan Robinson sprach in einem anderen Zusammenhang von den Auguren, die hinten im Tempel stünden und tuschelten, dass alles ganz anders sei, als vorn gepredigt, aber die Wahrheit zu verkünden mache alles noch viel schlimmer. Erst der öffentlich unleugbare Ausbruch der Krise führt zu Reaktionen. Dann ist sie nicht mehr zu verhindern – wenn das überhaupt möglich ist. Wirtschaftskrisen sind dem Kapitalismus immanent, konkreter Zeitpunkt, Form und Ausmaß sind aber nur begrenzt vorhersehbar und beeinflussbar. Die Ursache dafür liegt in einem systemisch bedingten Grundwiderspruch: Die gesellschaftliche Reproduktion ist ein hochgradig vernetzter Prozess mit vielfältigen Interdependenzen und Proportionalitätserfordernissen; die Entscheidungen über Produktion und Kapitalanlage werden jedoch dezentral und privat mit dem Ziel maximaler Profite getroffen. Allerdings gilt das für dieses System schon immer. Um den historischen Sinneswandel des hegemonialen Blocks zu erklären, müssen einer Krise schon extrem zerstörerische, systembedrohliche Züge innewohnen. Unter solchen Umständen sollte die Lernfähigkeit und Flexibilität der herrschenden Klasse nicht unterschätzt werden, denn bekanntlich hat das Kapital einen Horror vor Abwesenheit von Profit und mit entsprechendem Profit wird es sogar kühn[2].
Diese besonderen Züge der gegenwärtigen Krise liegen darin, dass (1) soweit es ihr zyklisches Moment betrifft sie relativ früh, nach einem starken, aber im Vergleich zum vorherigen Zyklus fast zwei Jahre kürzeren Aufschwung einsetzte, (2) die Krise nicht nur mit der üblichen Kreditkrise verbunden ist, sondern zeitgleich mit einer schweren Krise des Finanzsystems nicht nur – wie häufiger der Fall – der Peripherie als vor allem im Zentrum des Kapitalismus einhergeht, (3) dass sie weltweit in hohem Maß synchron auftritt und außenwirtschaftliche Ausgleichsbewegungen kaum glättend wirken können, (4) dass sie wahrscheinlich eine historisch nur durch die Weltwirtschaftskrise 1929/33 überbotene Zerstörungskraft hat und dass in ihr (5) die Wirtschaftspolitik der Regierungen für die Schwere der Krise in höherem Maße als je zuvor mitverantwortlich ist und in ihrem Verlauf eine bisher einmalig aktive Rolle spielt.
I. Krisenursachen
Die Wirtschaft eines modernen Gemeinwesens bedarf zu ihrer Reproduktion einer bestimmten inneren Proportionalität erstens im Hinblick auf die stofflichen Proportionen der Produktion, d.h. zwischen den Zweigen und Abteilungen der Wirtschaft und zweitens zwischen der materiellen Produktion und dem Finanzbereich[3]. Der sich in der Zeit vollziehende Wirtschaftskreislauf G – W...P...W´ - G´ ist mit der Verwertung von G zu G´ auf der Grundlage des in der Produktion P geschaffenen Mehrwerts vollendet. Diese Verwertung wird in Form von Renditeerwartungen (als Unternehmensgewinn, Zins und in anderen Formen) auch zum zentralen subjektiven Zweck jeder Kapitalanlage. Damit ist das Streben verbunden, den riskanten, mit hoher Kapitalbindung verknüpften und zeitaufwändigen Umweg über die Produktion und den Austausch von Waren W zu vermeiden und G - G´ durch die Kapitalanlage in Wertpapieren, Ansprüchen auf künftige Renditen (fiktives Kapital), möglichst ohne Umwege zu erreichen. Dies führt zur Verselbständigung des Finanzbereichs und zum Bestreben aller Wirtschaftssubjekte, auch der Lohnabhängigen, jedes zeitweilig liquide Geld in G´ zu verwandeln. Egal, ob Banken, Pensionsfonds, liquide Industrieunternehmen, Kleinanleger und Vermögende, private Haushalte, Spekulanten, öffentliche Banken, Sparkassen oder Kommunen: niemand verzichtet darauf, weil mit dem Geld als allgemeinem Äquivalent nahezu alles käuflich ist.[4] Zwar besteht für einige Zeit und eine begrenzte Zahl von Anlagen die Möglichkeit, Delta G aus der Finanzsphäre zu generieren, gesamtwirtschaftlich und längerfristig kann es jedoch nur durch die Mehrwertproduktion P entstehen.
Infolge der Elastizität von Kredit und fiktivem Kapital wird sich die Sphäre der Finanzen immer wieder von der Produktion „abkoppeln“. Aber die Finanzkrise ist genau jener Vorgang, in der die Renditeansprüche dieser Sphäre wieder auf ihre Basis in der Wertproduktion zurückgeworfen werden. Wenn alle Nullsummenspiele gespielt sind, bleibt die Gewinnmasse schlussendlich durch die Masse des produzierten Mehrwerts begrenzt. Der Umfang der Entwertung fiktiver Kapitalwerte wird in gewisser Weise mit der Höhe der Pyramiden an fiktivem Kapital korrespondieren.
Das Verhältnis zwischen dem produktivem Kapital und der Finanzsphäre hat einen starken historischen Wandel erfahren. Zu Beginn des vorigen Jahrhunderts war bereits eine Verschmelzung zu einem global agierenden Finanzkapital beobachtet worden. Diese Strukturen erfuhren im Verlauf der Katastrophen des 20. Jahrhunderts, in Kriegen, Revolutionen, Staatsauflösungen und Staatsbildungen immer wieder Rückbildungen und Brüche. Im letzten Viertel jenes Jahrhunderts kam es jedoch zu einer neuen Qualität, weil neben die Banken als traditionelle Repräsentanten des Finanzsystems eine Vielzahl weiterer, erneut global agierender Finanzinstitutionen mit völlig neuen finanztechnischen Instrumenten getreten war. Ihre Basis besteht in einer besonders seit den 1970er Jahren stark erhöhten Mehrwertproduktion und einer gewaltig gesteigerten und beschleunigten Schöpfung von Kredit und fiktivem Kapital. Dieser Finanzkomplex vermochte seine Renditeansprüche mehr und mehr auch gegenüber dem produktiven Kapital durchzusetzen.
Wo und wann Finanzblasen platzen und wie weitgehend die Bereinigung in zyklischen oder Finanzkrisen erfolgt, ist in einer globalisierten, hoch vernetzten Wirtschaft kaum absehbar. Aber die im heutigen Finanzkapitalismus veränderte Relation zwischen den Renditeansprüchen des produktiven Kapitals und des Finanzkapitals bedarf auch langfristig einer Balance, und der überzyklische Rückgang der Investitionsquote, eine Folge der Verlagerung liquider Mittel aus dem produktiven in den Finanzbereich, konnte nicht ewig währen. Bislang fand das vagabundierende Finanzkapital immer neue weltweite Anlagemöglichkeiten, die sich ausquetschen ließen, aber heute wird deutlich, dass die Sphären von produktivem und Finanzkapital in letzter (sic!) Instanz aneinander gekoppelt bleiben. Dies äußert sich in einer bisherige Vorstellungen weit übersteigenden Intensität, Ausbreitung und Wucht der Finanzkrise, die ganze Länder an den Rand des ökonomischen Ruins bringt, wobei die wirtschaftlich-politischen Eliten versuchen, ihre Vermögensverluste weitgehend zu sozialisieren und dazu selbst zeitweilige Verstaatlichungen instrumentalisieren.
Die Sphäre der Finanzen trägt nicht nur spekulativen Charakter. Sie ist notwendig, um die überall zeitweilig liquiden Mittel zu konzentrieren, damit größere Unternehmungen mit langen Investitions- und Amortisationszeiten und höherem Risiko in Angriff genommen und ausgedehnte Produktionsperioden ohne zeitnahe Rückflüsse überbrückt werden können. Für die Entwicklung moderner Produktivkräfte im Rahmen der Weltwirtschaft bilden globale Finanzmärkte daher eine unabdingbare Voraussetzung. Stockt die Reproduktion im produktiven Bereich, offenbart sich dies an der stockenden Bedienung von Kreditverpflichtungen; kommt – umgekehrt – die Kreditvergabe zum Erliegen, muss auch die stoffliche Reproduktion ins Stocken kommen. Allerdings ist es schwer, die wirtschaftlich notwendigen Segmente des Finanzmarkts von seinen rein spekulativen Momenten zu trennen, ein Problem, an der in der jüngsten Krise Banken, Rating-Agenturen und die Finanzaufsicht gescheitert sind, das sie aber auch nicht sehen wollten. Auch die zu diesem Zweck geschlossenen Basler Abkommen konnten dieses Scheitern nicht verhindern.[5]
Auch die für die Reproduktion erforderlichen Proportionen der materiellen Produktion zwischen den konkurrierenden Einzelkapitalen verschiedener Anlagesphären könnten zwar modelliert und berechnet, aber unter privatwirtschaftlichen Bedingungen ex ante nicht durchgesetzt werden. Erst der Markt stellt diese notwendigen Proportionen her. Im Prinzip funktioniert das über die Preise, die neben der Wertbewegung auch Abweichungen von Angebot und Nachfrage auf den einzelnen Märkten signalisieren. Erst dann, also zeitlich nachgelagert, kommt es zur ungeplanten Beseitigung der entstandenen Disproportionen, wobei dieser Vorgang zugleich Quelle neuer Ungleichgewichte ist.
Das Ziel der Kapitalverwertung unter Konkurrenzbedingungen bedingt, dass sich die notwendigen Proportionen nicht nur schlechthin erst im Nachhinein herstellen, sie bedingt auch, dass sie immer den Zustand der Überakkumulation, der Überproduktion und der Überspekulation durchlaufen müssen. Solange die Preise von Gütern und Wertpapieren steigen, die Nachfrage dem Angebot auf den jeweiligen Märkten also vorauseilt und die Renditeerwartungen positiv sind, bleibt der Anreiz zur Kapitalakkumulation in Form von Wertpapieranlagen, Investitionen und Produktionssteigerungen erhalten. Marktpreise sind Signale, die ex post wirken, so dass die Verlangsamung und Stagnation der Preisbewegung und schließlich ihr Rückgang immer eine Überproduktion, Überakkumulation und Überspekulation voraussetzen, bevor ihre spontane Korrektur erfolgen kann.
Zudem erfolgt die Kapitalanlage keineswegs als bloßer Reflex auf Nachfrage- und Preisbewegungen; sie ist weniger die abhängige, als die unabhängige Variable, was vor allem bei Anlagen auf neuen, innovativen Feldern der Kapitalverwertung deutlich wird. Im Wirtschaftskreislauf ist G zwar nicht voraussetzungslos, bildet aber dennoch seinen prinzipiellen Ausgangspunkt. Die Anleger wissen, dass ihre Konkurrenten ebenfalls auf Preis- und Nachfragebewegungen reagieren, neue Anlagefelder kreieren und investieren, was Anreize schafft, schneller, früher und massiver zu agieren. Eine Zurückhaltung stärkt nur die Konkurrenten. Dieses im Sinne der einzelwirtschaftlichen Kapitalverwertung rationale Verhalten erklärt auch, warum es zur zeitlichen Ballung von Kapitalanlagen kommt. Nachdem in einer Krise die Märkte bereinigt wurden, einzelne Kapitale ausgeschieden und ausreichend stoffliche und wertmäßige Abschreibungen vorgenommen worden sind, erhöhen sich die Chancen für alle Anleger, Investoren und Gründer wieder.
Unter den Bedingungen der Dominanz konkurrierender, nach maximalen Renditen strebender Privateigentümer ist eine die Gesamtwirtschaft umfassende Koordination oder auch nur relativ sichere Vorausschau kaum möglich. Gustav Horn vom gewerkschaftsnahen Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) wurde von der Financial Times Deutschland für die beste Wirtschaftsprognose für 2008 geehrt. Hatte er das beste Modell? Schon möglich. Ein Jahr zuvor allerdings lag er mit seiner Prognose lediglich auf Rang 43. Eine der genauesten Wirtschaftsprognosen für das Jahr 2008 kam von der US-Bank Lehmann Brothers. Es hat ihr nichts genutzt; sie war die erste große Bank, die in jenem Jahr Pleite ging. Alan Greenspan schreibt in seinen Erinnerungen von einem „Rätsel“, einer „zunehmenden Schwierigkeit, ein stabiles allgemeines Preisniveau zu definieren“, an dem sich die Geldpolitik ausrichten könnte. „Die Analysten können lediglich beobachten, wie sich (die Verschiebung zwischen Angebot und Nachfrage) auf die Preise auswirkt, (da) es unmöglich ist, in die Köpfe der Marktteilnehmer zu schauen …“[6].
Die Produktions- und Aneignungsverhältnisse äußern sich in einer typischen Gestalt der sich im Aufschwung aufbauenden Überakkumulation. Weil der Profit von der Mehrwertproduktion abhängt, besteht beim Einzelkapital die Tendenz, die Löhne, mithin die vorwiegend von den Masseneinkommen bestimmte Konsumtion, so gering wie möglich und den akkumulierbaren Mehrwert so hoch wie möglich zu treiben. Die Investitionen setzen sich von der Dynamik der Konsumgüterproduktion ab und eilen ihr voraus. Der Unterschied in der Dynamik dieser beiden Bewegungen wird umso größer sein, je größer die Ungleichverteilung der Einkommen und Vermögen ist. Je höher die Ausbeutung, je niedriger also die Lohnquote, umso stärker ist die Möglichkeit der Überakkumulation ausgeprägt. Am Beginn eines Aufschwungs steht nicht primär die wachsende Nachfrage von Konsumenten, sondern das Ziel der Kapitalverwertung beim Einzelkapitalisten. Wachsende Nachfrage entsteht zunächst als eine aus neuen Investitionen abgeleitete Nachfrage. Es ist nicht das Konsumverhalten, das zum Auseinanderdriften von Angebot und Nachfrage führt, sondern die profitgesteuerte Kapitalakkumulation. Steigende Löhne und steigender Konsum im Aufschwung schaffen unter diesen Bedingungen Anreize für noch mehr Investitionen und erhöhte Steigerung der Ausbeutung auch mittels erhöhter Preise; sie können also eine Überakkumulation nicht verhindern. Erst, wenn die Realisierung stockt und keine Preissteigerungen mehr durchsetzbar sind, werden Investitionen gestoppt und schließlich gesenkt. Je stärker und länger sich die Investitionsdynamik von der Konsumdynamik löst, umso tiefer der folgende Einbruch bei den Investitionen, was sich in den jüngsten Zyklen gut beobachten lässt (Abb. 1).
II. Die Überakkumulation produktiven Kapitals ab 2004
In der öffentlichen Darstellung erscheint es so, als seien die Immobilienkrise und die Finanzkrise erst gegen Ende des Jahres 2008 im Realbereich „angekommen“. Damit wird die Rezession in der Realwirtschaft als Folge des Finanzkrachs betrachtet. Als Ursache gelten die übersteigerte, ungeregelte Spekulation, riskantes Anlageverhalten und die Shareholder-Orientierung der Konzerne. Tatsächlich aber sind beide Sphären miteinander verquickt, und der Zusammenbruch der Finanzbranche ist nur vor dem Hintergrund der Veränderung der Fundamentaldaten der Realwirtschaft zu verstehen, auf die sie zurückwirkt. Schärfe und Ausmaß der Finanzkrise deuten allerdings auch auf grundlegend geänderte Konstellationen in der Finanzwirtschaft und in den Interdependenzen zwischen produktivem und Finanzbereich hin.
Der neunte Konjunkturzyklus des Nachkriegszeitraums endete zu Beginn dieses Jahrzehnts in einer Krise, die als „Dotcom-Krise“ bezeichnet wird, weil sie besonders die neuen Branchen der Informations- und Kommunikationstechnologie (New Economy) betraf, die zuvor stark expandiert waren. Die Wachstumsraten des deutschen BIP begannen ab Ende 2000 zu sinken, was bis zum dritten Quartal 2003 andauerte.[7] Negative Quartalswerte der Veränderung des realen BIP lagen 2002 und 2003 vor.
Abbildung 1: Jährliche Veränderung von
Bruttoanlageinvestitionen und
Konsumausgaben
Quelle: Statistisches Bundesamt, Fachserie 18, Reihe 1.1, Tab. 3.3, eigene Darstellung
Der neue Aufschwung wurde 2004 eingeleitet, nachdem die Investitionsdynamik im Vergleich zur Konsumgüterproduktion – wie in allen Krisen zuvor auch – zusammengebrochen war (vgl. Abb. 1). Im Verlauf der Krise hatte sich die Gewinnsituation der Unternehmen soweit verbessert, dass die Erhöhung der Investitionen möglich und lohnend erschien. Viele Unternehmen waren ausgeschieden, die Zahl der Insolvenzen hatte ihren Höhepunkt überschritten, ältere Ausrüstungen waren stillgelegt, die Löhne stagnierten und die Zinsen hatten historische Tiefstände erreicht.
Die ab Ende 2003 verbesserte Gewinnsituation der Unternehmen führte Mitte 2004 zu rasch wachsenden Investitionen. Während die Wachstumsraten der privaten und der staatlichen Konsumnachfrage sowie der staatlichen und der Bauinvestitionen in fast allen Quartalen 2004 und 2005 noch negativ, zumindest aber sehr niedrig waren, ging der neue Impuls von den Ausrüstungsinvestitionen aus. Für Deutschland hatten außerdem die Exporte im Gefolge des international bereits begonnen Aufschwungs eine große Bedeutung, was allerdings für die weltwirtschaftliche Konjunktur keine Rolle spielt, weil sich die Bilanzen auf dieser Ebene ausgleichen.
Mit der verbesserten Gewinnsituation begannen auch die Renditeerwartungen zu steigen, was sich sofort auf die Aktienkurse auswirkte. Der Vergleich der Dynamik des DAX mit den Unternehmens- und Vermögenseinkommen zeigt jedoch auch ihre völlige Übersteigerung, die bereits in den Zyklen zuvor große Dimensionen erreicht hatte, ein Phänomen, das seit zwei, drei Jahrzehnten in diesem Ausmaß neu ist.
Abbildung 2: Jährliche Veränderung von Arbeitnehmerentgelt und
Unternehmens- und Vermögenseinkommen
Quelle: Statistisches Bundesamt, Fachserie 18, Reihe 1.1, Tab. 1.3, eigene Darstellung
Hier zeigt sich die gravierende Rolle der Shareholder-Value-Orientierung. Offensichtlich bewirken die im Finanzbereich gewachsenen Renditeerwartungen, dass auch die Ertragserwartungen im Realbereich, die sich den Aktienkursen niederschlagen, angeheizt werden. Die Erwartungsblase wird vor allem von den Konzernvorständen angefeuert, um die Kurse der Aktien immer weiter nach oben zu treiben, weil Kapitalbeschaffung und Erfolgsboni an diesen Indikator gekoppelt sind. Letztlich geht es hierbei jedoch um Erwartungen, die aufgrund der gegebenen objektiven Verwertungsbedingungen nicht gänzlich befriedigt werden können und in der Krise auf das real mögliche Niveau zurückfallen. Die Verluste sind zunächst nur nominell, weil auch die Kurssteigerung nur nominell ist. Allerdings ist die Verteilung von Gewinn und Verlust unter den Aktienbesitzern höchst ungleich, und wer seine Anteile zum falschen Zeitpunkt ge- oder verkauft hat, hat natürlich auch reale Verluste zu tragen.
Die sich unter dem Druck der Renditeerwartungen der Shareholder vollziehende Akkumulation von produktivem und Warenkapital mündet in einer Überakkumulation, die sich in einer vom Konsum völlig losgelösten Dynamik der Investitionen zeigt und zu Überkapazitäten und Überproduktion führt. Obwohl es sich hierbei um allgemeine Phänomene handelt, sind sie in den verschiedenen Branchen unterschiedlich stark. Besonders ausgeprägt sind die weltweiten Überkapazitäten zum Beispiel im Kraftfahrzeugbereich, weshalb die Überproduktionskrise dort besonders schmerzhaft wirkt. Während des Aufschwungs wurden in Erwartung wachsender Absatzzahlen in Ländern wie China, Indien, Brasilien und in Osteuropa riesige Investitionen vorgenommen, um im Verdrängungswettbewerb und in der Konzentrationsschlacht bestehen zu können. Die Überkapazitäten sollen schon Mitte dieses Jahrzehnts weltweit über 20 Prozent betragen haben. Ein ähnliches Bild gibt die Halbleiterindustrie ab.
Abbildung 3: DAX im Vergleich zum Unternehmens- und
Vermögenseinkommen
Quelle: Berechnet nach: www.bundesbank.de, Zeitreihen, eigene Berechung und Darstellung
Eine Besonderheit des jüngsten Zyklus besteht darin, dass der Aufschwung von einer sinkenden Lohnquote begleitet war. Während sie im Aufschwung zwischen 1994 und 2000 zwar nur wenig, aber immerhin gestiegen war (von 71,7 auf 72,2 Prozent), sank sie zwischen 2004 und 2007 von 70,8 auf 64,6 Prozent. Dies spiegelt sich auch in den Erfolgsrechnungen der Unternehmen wider; die Steigerung ihrer Netto-Umsatzrendite wies im Jahr 2007 den seit 1971 (!) höchsten Wert auf[8]. Dementsprechend wichen Investitions- und Konsumwachstum extrem voneinander ab. Im 9.Aufschwung (1994-2000) überstieg das jährlich durchschnittliche Wachstum der Bruttoanlageinvestitionen (2,3 Prozent) das Konsumwachstum (1,8 Prozent) um das 1,3-fache. Im jüngsten Aufschwung lagen diese Werte bei 3,0 Prozent und 0,25 Prozent, d.h. die Wachstumsraten der Investitionen waren 12-mal so hoch wie die des Konsums. Das Ausmaß der Überakkumulation war also wesentlich höher, was sich in einem umso stärkeren wirtschaftlichen Abschwung äußern wird[9].
Die ersten Anzeichen des zu Ende gehenden Aufschwungs lagen im ersten Quartal 2007 vor. Auftragseingang und Umsatz hatten ein hohes Niveau erreicht, stiegen nicht weiter und begannen zu sinken; die Kapazitätsauslastung im verarbeitenden Gewerbe Deutschlands war im April 2007 auf ihrem Höhepunkt und ging ab da zurück. Die Konjunkturerwartungen der Unternehmer wurden schlechter, obwohl zu dieser Zeit der öffentliche Jubel über eine „boomende“ Wirtschaft noch groß war. Allmählich begannen die ersten Indikatoren nach unten zu zeigen (vgl. Abb. 4). Ein solcher Wendepunkt kann jedoch für die Gesamtwirtschaft kaum zeitnah erkannt werden; erst nach mehreren Quartalen ist er als Trendwende erkennbar und selbst dann wird er noch lange nicht als solcher kommuniziert, um das Wirtschaftsklima und die Erwartungen nicht noch weiter einzutrüben.
Abbildung 4: Internationale Konjunkturindikatoren
Quelle: www.sachenverstaendigenrat-wirtschaft.de, Zeitreihen (31.1.2009), eigene Darstellung
Das Business Cycle Dating Committee der USA konstatierte erst im Dezember 2008 (also mit einem Jahr „Verspätung“), dass der Höhepunkt des jüngsten Aufschwungs im Dezember 2007 erreicht war und von da ab die Rezession zu datieren sei. In Deutschland begann die Rezession im 2. Quartal 2008, als das BIP im Vergleich zum Vorquartal sank. Jetzt zeigte sich die Überproduktion; die steigenden Kreditzinsen und Risiken einer Kreditvergabe wirkten auf den Realbereich zurück. Nicht nur die Kreditketten brachen, mit dem Einbruch der Erfolgszahlen der Unternehmen begann auch das Liefergeflecht der Wirtschaft zu brechen. Erst stockte das Wachstum, dann sank auch der absolute Wert des Absatzes und die Kapazitätsauslastung stürzte geradezu ab. Die Inflationsrate war noch im ersten Halbjahr 2008 steil angestiegen, um dann genau so steil nach unten zu gehen. Ab September 2008 sanken die Erzeugerpreise für gewerbliche Produkte auch absolut.
III. Von der Immobilien- zur Finanzmarktkrise
Der Aufschwung der Realwirtschaft ging mit wachsender Beschäftigung, höheren Löhnen je Beschäftigten (real stiegen sie in Deutschland allerdings nur 2007 und 2008 äußerst geringfügig), Gewinnen und Preisen einher. Er generierte damit hohe Ertragserwartungen und eine zunehmende Bereitschaft und Notwendigkeit, Kredite aufzunehmen und zu vergeben. Dies betrifft Kredite zur Finanzierung des Investitionsbooms, aber auch Konsumentenkredite und Hypotheken. Treibende Kraft hinter diesem Kreditboom sind die Banken und Investmentfonds, deren Geschäft auf dem Einsammeln liquider Mittel und der Kreditvergabe sowie auf Unternehmensbeteiligungen beruht. Hinzu kommen alle möglichen Spekulanten, die auf wachsende Wertpapierkurse und Preise setzen und deren auf Pump finanzierten Geschäfte nur funktionieren, so lange sie die für lange Laufzeiten aufgenommene Kredite durch kurzfristige Gegenfinanzierungen und neue Anleger bedienen können. Dies setzt voraus, dass die kurzfristigen Zinsen niedriger als die langfristigen Zinsen sind und dass sich die Erwartungen der Haushalte und Unternehmen hinsichtlich ihrer Einkommens- und Gewinnentwicklung, auf denen die Kreditaufnahme und Kapitalanlage beruhte, zunächst auch erfüllen. Im Zuge des Aufschwungs und des wachsenden Kreditbedarfs erhöhten sich Zinsen allerdings und nähern sich dem Punkt, wo sich zwar die Anlage, nicht jedoch die Kreditaufnahme lohnt. Obwohl die Kredite auf der Grundlage von Erwartungen aufgenommen wurden, führen sie zu Zahlungsverpflichtungen, die geltend gemacht werden.
Wenn sich diese Erwartungen nicht erfüllen und eine Gegenfinanzierung mit kurzfristigen Krediten nicht mehr möglich ist, weil die Zinsdifferenz zu gering oder sogar negativ ist, muss eine Finanzkrise einsetzen. Dieser Zeitpunkt war Ende 2006, Anfang 2007 zuerst in den USA erreicht (Abb. 5), einige Quartale später folgten Europa und Deutschland.
Die Schwierigkeiten offenbarten sich zuerst in jenem Anlagebereich, wo die Sicherheiten am geringsten und die Risiken am höchsten sind; dies war das Subprime-Segment des Immobilienmarktes, wo Hypotheken auch an die Bezieher niedriger und unsicherer Einkommen für minderwertige Immobilien vergeben worden waren. Der einsetzende Zwangsverkauf von Immobilien ließ die Preise verfallen und verschlechterte die Situation weiter. Überhaupt war die hohe Verschuldung der US-Haushalte ein seit längerem thematisierter Schwachpunkt der Wirtschaft. Ab Frühjahr 2007 kam der Markt ins Rutschen und mit ihm eine Reihe von Hypothekenfinanzierern und Banken. Im Sommer 2007 war die Immobilienkrise offen ausgebrochen und hatte auch Europa erreicht. In Deutschland kommen die IKB-Bank und die öffentliche SachsenLB, die sich in solchen Papieren engagiert hatten, in Schieflage und können nur durch öffentliche Mittel bzw. Aufkauf und Fusion gerettet werden.
Abbildung 5: Kurz- und langfristige Zinsen in den USA
Quelle: www.oecd.org, Statistik (31.1.2009), eigene Darstellung
Das Ausmaß der gegenwärtigen Finanzkrise kann mit der Kreditkrise, die jede Überakkumulation von produktivem Kapital begleitet, allein nicht erklärt werden. Die Finanzmarktindikatoren spiegeln nicht nur jene für die Realakkumulation notwendige Entwicklung der Kreditbeziehungen wider, sondern auch die mit der Bildung von fiktivem Kapital verbundene Spekulation. Diese setzt voraus, dass genügend Liquidität besteht, um zeitweilig freie Mittel in Papieren anzulegen, die das Versprechen auf künftige Rendite beinhalten. Die deutschen Unternehmen beispielsweise steigerten den Anteil der Geldvermögensbildung an der Verwendung ihrer Mittel von 26,1 Prozent im Jahr 1995 auf 35,5 Prozent im Jahr 2007. Der Anteil des Sachvermögens an ihrer Bilanzsumme ging in diesem Zeitraum von 52 auf 41 Prozent zurück.[10]
Abbildung 6: Geldvermögensentwicklung im Vergleich zum BIP
Quelle: www.bundesbank.de, Zeitreihen (31.1.2009), eigene Berechung und Darstellung
Kapitalanlagen im produktiven Bereich sind durch einen hohen Grad der Kapitalfixierung gekennzeichnet. Außerdem erfordert ihre Verwertung immer wieder die Herstellung bestimmter stofflicher Proportionen zwischen Konsumgüter- und Produktionsgüterherstellung, so dass infolge der relativen Schwäche der Position des größten Teils der Konsumenten auch die gesamtwirtschaftliche Entwicklung der Produktion und damit der Verwertungschancen in diesem Bereich im Vergleich zu den ersten zwei, drei Nachkriegsjahrzehnten eher verhalten bleiben musste. Demgegenüber handelt es sich beim Geldvermögen um äußerst flexible und mobile Anlagen, deren Verwertbarkeit durch den wirtschaftpolitischen Strategiewandel seit den 1970er Jahren erheblich gesteigert wurde.
Die Grundlage einer Finanzblase hat somit zwei Momente: eine wachsende Geldvermögensbildung und bessere Renditeerwartungen im Vergleich zum produktiven Bereich. Beide Voraussetzungen haben sich, forciert durch die Deregulierung der Finanzmärkte, seit Anfang der 1970er allmählich, verstärkt seit Beginn der 1990er Jahre, herausgebildet. Die zeitweiligen Bereinigungen in den Finanzkrisen der vergangenen zwei Jahrzehnte, in denen Teile der Geldvermögen entwertet worden waren, haben ihre weitere überproportionale Steigerung nicht aufhalten können. Das Geldvermögen trägt zwar nicht zur Gänze spekulativen Charakter, aber seine von der Basis der Realwirtschaft abgelöste Dynamik wird in wachsenden Anteilen auf spekulative Übertreibungen zurückzuführen sein. In Zeiten der Rezession erfährt es deshalb eine besonders starke Entwertung (vgl. Abbildung 6). Diese war zu Beginn dieses Jahrzehnts deutlich zu beobachten, als das Geldvermögen nominell nicht mehr wuchs und bei weiter steigenden Preisen real stark entwertet wurde. Dies ist auch in der gegenwärtigen Krise der Fall.
Die Basis dieser Überakkumulation im Finanzbereich ist die sich seit etwa drei Jahrzehnten vollziehende Veränderung der Verteilungsrelationen zugunsten der Einkommen aus Unternehmertätigkeit und Vermögen, deren Grundlage die Steigerung der Mehrwertrate ist und die sich in der Senkung der Lohnquote widerspiegelt, der personellen Einkommensverteilung zugunsten der Spitzenverdiener und der Vermögen zugunsten der bereits Vermögenden. Diese Tendenz lässt sich in allen entwickelten Ländern nachweisen.
Nach Meinung von Robert Reich, ehemals Harvard-Ökonom und Arbeitsminister unter Bill Clinton, sind „wir alle“ für die Überspekulation verantwortlich, denn „die meisten von uns (seien) … Anleger“ und hätten von diesem „Superkapitalismus“, wie er das Phänomen nennt, profitiert.[11] Zwar hat sich der Kreis der Anleger verbreitert, aber abgesehen davon, dass unter den Bedingungen der Dominanz privater Altersvorsorgemodelle wie in den USA ein Zwang zur Anlage besteht, bewegen sich die diesbezüglichen Möglichkeiten der Lohnabhängigen in sehr engen Grenzen. Die Verteilung der Geldvermögen, zu denen die Wertpapiere gehören, ist eher noch ungleicher als die der Einkommen. Insgesamt zeigt sich eine doppelte Fehlentwicklung: Die wachsenden Gewinne führen zu einer Überakkumulation von produktivem Kapital im Vergleich zur Konsumentwicklung. Der Investitionsboom im letzten Aufschwung vermochte jedoch das überzyklische Absinken der Investitionsquote nicht zu bremsen, so dass diese Überakkumulation noch einmal von der Überakkumulation im Finanzbereich übertroffen wurde.
Viele jener riskanten Wertpapiere, die im Zuge von Finanzmarktinnovationen der letzten ein, zwei Jahrzehnte geschaffen worden waren, konnten vor dem Hintergrund der im Vergleich zu den Erwartungen zu geringen Einkommens- und Gewinnentwicklung nicht mehr gewinnbringend veräußert werden und die Wertpapierkurse begannen zu sinken. Besonders die Investmentbanken, aber auch ganz normale Geschäftsbanken mussten beträchtliche Wertberichtigungen vornehmen und waren kaum noch bereit, Kredite zu vergeben. Die Zahl selbst großer, international führender Banken, die hohe Verluste auswiesen, miteinander fusionierten, auf staatliche Bürgschaften oder Staatsbeteiligungen zurückgriffen oder Insolvenz anmeldeten und Entlassungen vornehmen mussten, hat sich dramatisch erhöht. Die größten 18 deutschen Banken sollen Risikopapiere im Umfang von 305 Mrd. Euro in ihren Bilanzen haben, wovon zu Beginn 2009 erst ein Viertel abgeschrieben war.[12] Die Deutsche Bank nahm bis zu Beginn 2009 9,3 Mrd. Euro an Abschreibungen vor und wies den größten Verlust ihrer Geschichte, 4,8 Mrd. Euro, aus. Ab Mitte 2007 und das ganze Jahr 2008 hindurch brachen Investmentbanken und Geschäftsbanken zusammen, wurden aufgekauft oder vom Staat abgesichert, in Einzelfällen sogar übernommen. Die weltweiten Kreditausfälle sollen bei 3 Billionen Dollar liegen, wovon bislang nur der kleinere Teil sichtbar ist[13].
IV. Die Vertiefung der zyklischen Krise
Der Ausbruch der zyklischen Krise muss in Deutschland auf das zweite Quartal 2008 datiert werden. Damals mag der Rückgang des BIP noch als Konjunkturpause erschienen sein, aber spätestens ab September entfalteten das Moment der Kredit- und Finanzkrise seine volle Wirkung. Der Rückgang im Auftragseingang und in der Industrieproduktion vor allem ab diesem Monat ist beispiellos. Der Order-Capacity-Index, die Relation von Auftragseingang zur Produktionskapazität, der als Frühindikator erfahrungsgemäß etwa vier Monate Vorlauf hat, fiel nach seinem Rückgang seit Ende 2007 erneut in einem historisch einmaligen Ausmaß und kündigte damit von einer der schwersten zyklischen Krisen in der Geschichte des Kapitalismus (Abb. 7).
Abbildung 7: Auftragseingang in der Industrie (Order Capacity Index, %)
Quelle: www.bundesbank.de/statistik (Abruf 8.2.2009) eigene Darstellung
Ab November 2008 stieg die saisonbereinigte Zahl der Arbeitslosen erstmals seit 2006 wieder leicht an. Die Zahl der Kurzarbeiteranzeigen explodierte von 13 Tausend Personen im August auf über 400 Tausend im Dezember 2008, das Vierfache des Dezember-Vorjahreswerts, weil viele Unternehmen die gesetzlich verfügte Erweiterung der entsprechenden Regelungen in Anspruch nahmen. Inzwischen haben viele Betriebe für 2009 einen hohen Personalabbau angekündigt, der sich zweifellos auch 2010 fortsetzen wird. Obwohl in den laufenden Tarifverhandlungen Lohnerhöhungen durchgesetzt werden konnten, werden sich infolge der steigenden Arbeitslosigkeit die gesamtwirtschaftlich nachfragewirksamen Masseneinkommen verringern. Die Exporte sanken Ende 2008 stärker als die Importe, so dass sich der Außenbeitrag deutlich verringerte.
Innerhalb nur weniger Monate wurden die Prognosen in einem bisher unvorstellbaren Ausmaß nach unten revidiert. Wurde im September abgewiegelt und vor Panik gewarnt und ging die Gemeinschaftsdiagnose der deutschen Wirtschaftsforschungsinstitute noch im Oktober 2008 von einem Zuwachs des realen BIP im Jahr 2009 von 0,2 Prozent aus, sagte der Sachverständigenrat wenige Wochen später eine Stagnation (0,0) voraus und die Bundesbank veröffentlichte im Dezember dann einen Wert von – 0,8 Prozent. Der Internationale Währungsfonds prognostizierte nur wenig später – am 28. Januar 2009 - für Deutschland einen scharfen Einbruch von -2,5 Prozent im Jahr 2009. Von diesem Wert geht inzwischen auch die Bundesregierung aus und angesichts der Tatsache, dass Deutschland damit auch im Vergleich zu anderen OECD-Ländern einen Negativrekord hinter Japan und Großbritannien erzielt und zudem höchst exportabhängig ist, bleibt es rätselhaft, wie sie behaupten kann, das Land sei für die Krise gewappnet und verfüge über eine robuste Aufstellung. Ende Februar 2009 halten die Analysten der Deutschen Bank einen Absturz um 5 Prozent für nicht mehr ausgeschlossen.
V. Die Wirtschaftspolitik in der Krise
Um die Rolle der staatlichen Wirtschaftspolitik für die Krise und in ihr darzustellen, sind vier Phasen zu unterscheiden. Erstens die Wirtschaftspolitik vor Beginn der Finanzkrise bis Mitte 2007, zweitens nach Ausbruch der Immobilienkrise 2007 bis Sommer 2008, drittens mit dem unmittelbar drohenden Finanzkollaps ab September und viertens seit auch den Regierungen die Erkenntnis dämmerte (ab Mitte Herbst 2008), dass sich die Weltwirtschaft in der schwersten Wirtschaftskrise seit 1929/33 befindet.
Erstens. Form und Ausmaß der gegenwärtigen Krise sind ohne die Jahrzehnte anhaltende neoliberal geprägte wirtschaftspolitische Strategie nicht denkbar. Sie war darauf gerichtet, die Verteilungsrelationen, die sich im „Golden Age“ nach dem II. Weltkrieg zugunsten der Lohnabhängigen entwickelt hatten, zurückzudrehen, die nationale und internationale Bewegungsfreiheit des beträchtlich angewachsenen Finanzkapitals zu erhöhen und die Entscheidungsspielräume international agierender Konzerne durch Zurückdrängung staatlicher Einflüsse auszuweiten. Gemessen an ihrem öffentlich verkündeten Ziel – Prosperität für alle – muss diese Strategie zwar als gescheitert bezeichnet werden, aber im Hinblick auf die Interessen des hegemonialen Blocks wurden ihre wichtigsten Ziele erreicht. Die gravierend veränderten Macht- und Verteilungsrelationen vollzogen sich vor dem Hintergrund einer strategischen Schwäche der Lohnabhängigen, die sich im Gefolge von Veränderungen der Wirtschaftsstruktur in Richtung auf Bereiche mit einer nur schwach organisierten Arbeitervertretung, als Folge wachsender Konkurrenz unter den Lohnabhängigen im Prozess der Globalisierung und infolge der Niederlagen des Sozialismus im vergangenen Jahrhundert ergab.
Der Siegeszug des Neoliberalismus erweist sich in der gegenwärtigen Weltwirtschaftskrise als Pyrrhussieg, weil die grundlegend veränderten Verteilungsrelationen ein Moment der überzyklischen Überakkumulation sind. Hinzu kommt, dass der weitgehende Verzicht auf Kontrolle und Regulierung der Finanzmärkte zu Innovationen geführt hat, die nur noch den Konstrukteuren der Finanzprodukte verständlich waren und hochriskante Geschäfte zu Lasten der Allgemeinheit, aber auch bestimmter Kapitalfraktionen, ermöglichten. Noch in der Mitte dieses Jahrzehnts, als bereits Erfahrungen mit einer Reihe von Finanzkrisen vorlagen und Insider wie Georg Soros vor weiteren Liberalisierungen des Finanzmarktes und einem Kollaps warnten, wurde diese auch von der deutschen Regierung weiter vorangetrieben.
Eine bedeutende Rolle für den Aufschwung des zehnten Zyklus spielen Geldpolitik und Zinsentwicklung. Der Spielraum der Geldpolitik ist unter den Bedingungen eines Geldumlaufs mit staatlichem Zwangskurs groß, aber wie groß, weiß – wie oben angeführt – nicht einmal „Maestro“ Greenspan. Viele Analysten sind sich heute im Nachhinein sicher, dass eine Ursache der Finanzblase die forcierte Bereitstellung von Liquidität und die Niedrigzinspolitik war, die 2001 eingeleitet und von allen bedeutenden Zentralbanken unterstützt wurde.
Zweitens. Mit Ausbruch der Immobilienkrise im Sommer 2007 kamen viele Finanzinstitute und Banken in eine Schieflage, mussten Abschreibungen vornehmen und Verluste bekannt geben. Die damit verbundene Vertrauenskrise führte zu Engpässen in der Kreditvergabe. Einige Finanzinstitute wurden in dieser Phase durch Staatskredite und Übernahmen gerettet; dazu gehörten in Deutschland die IKB und die SachsenLB; in Großbritannien wird im Februar 2008 die Northern Rock teilverstaatlicht. Die Unsicherheit auf den Geldmärkten ließ die Zinsen steigen, worauf die Zentralbanken mit einer Ausweitung der Geldmenge reagierten. Die amerikanische Fed senkt Ende 2007 erstmals wieder ihre Leitzinsen. In dieser Phase war die Hoffnung, dass die Finanzkrise wie in den 1990er Jahren beherrschbar bleibt, noch weit verbreitet. In Europa glaubten viele, die Krise gehen an ihnen vorüber und die Europäische Zentralbank hob ihre Zinsen im Juli sogar noch leicht an.
Drittens. Der Sommer 2008 endet mit Paukenschlägen. In den USA wurden die wichtigsten Hypothekenfinanzierer FreddieMac und FannieMae verstaatlicht, weil sie faktisch pleite waren und eine hohe Ansteckungsgefahr von ihnen ausging. Ähnliche Entwicklungen vollziehen sich in anderen Staaten. Nachdem eine der weltweit führenden US-Banken, Lehman-Brothers, am 15.September 2008 Insolvenz anmeldete, war kein Halten mehr. Überall wurden Banken mit staatlichen Mitteln gerettet oder überhaupt verstaatlicht. Weltweit brachen die Börsenkurse ein. In Deutschland war die neue Phase staatlicher Regulierungspolitik mit dem denkwürdigen Treffen am 29. September zur Rettung der Hypo Real Estate eingeleitet worden. Die Leitzinsen werden drastisch gesenkt, die Geldmenge wird schlagartig erhöht. In den USA wird das Zentralbankgeld (Monetary Base) innerhalb von drei Monaten verdoppelt (von 880 im September auf 1700 Mrd. US-Dollar im Dezember)[14]. Die Fed verkündet ein Kreditpaket von 800 Mrd. US-Dollar, Deutschland den „Rettungsschirm“ von 480 Mrd. Euro für die Kreditwirtschaft. Die nationalen Rettungspakete der wichtigsten Industrieländer für die Banken summieren sich 2008 auf eine bislang undenkbare Höhe von 2 bis 3 Billionen Euro.[15] Auf einer Reihe von internationalen Treffen wird die Notwendigkeit eines koordinierten Vorgehens und einer neuen internationalen Finanzarchitektur betont. Bisheriger Höhepunkt war das G-20-Treffen Anfang April in London, dessen Ergebnisse trotz einiger sinnvoller Beschlüsse insgesamt enttäuschend blieben. Inzwischen erweisen sich diese Pakete als unzureichend, um die Kreditvergabe wieder anzukurbeln und es werden Pläne entwickelt, wie mit Hilfe des Staates die Banken von ihren Bilanzrisiken durch Auslagerung ihrer risikoreichsten Wertpapiere (Stichwort Bad Bank) befreit werden können.
Viertens. Im Spätherbst 2008 wurde auch dem letzten Berufsoptimisten klar, dass sich auch die Realwirtschaft in einer Krise befindet. Zuerst kündigte die Autoindustrie massive Produktionseinschränkungen an. In anderen, weniger im Focus der Öffentlichkeit stehenden Wirtschaftszweigen vollzog sich Ähnliches. Und was dem einen recht ist, ist dem anderen billig: Warum sollen nur die Banken mit Hilfe von Steuergeldern gerettet werden, warum nicht auch die Industriekonzerne? Mit geradezu unglaublicher Chuzpe meldeten sich die Konzernvorstände bei ihren Regierungen: die Autobosse in den USA, die Halbleiterindustrie und die Schaeffler-Konzernchefin in Deutschland. Die Gewerkschaften, die einen Rettungsschirm für Arbeitsplätze fordern, unterstützen solche Pläne notgedrungen, bleiben aber im Hinblick auf die politisch-ökonomische Dimension der Krise insgesamt passiv.[16] Nach einem zaghaften Konjunkturpaket I im Herbst verabschiedete die deutsche Regierung im Februar 2009 das Konjunkturpaket II in Höhe von insgesamt 50 Mrd. Euro für zwei Jahre. Es umfasst Steuer- und Abgabenerleichterungen, Subventionen und Transferleistungen sowie öffentliche Investitionen. In den USA wird ein Konjunkturprogramm von fast 800 Mrd. Dollar verkündet.
Mit diesen Programmen scheinen sich die herrschenden Kreise vom neoliberalen Credo funktionierender Märkte, das sie der Öffentlichkeit jahrelang einhämmern ließen, verabschiedet zu haben und ein keynesianisches Programm zu verfolgen. Sie drängen die Regierungen zu einer aktiven staatlichen Stabilisierungspolitik, weil die Bank- und Unternehmensgewinne in bisher ungekannter Höhe einbrachen und das neoliberal geprägte Wirtschaftssystem eine hohe systemische Labilität offenbarte. Allerdings setzt die praktizierte Politik an der Stabilisierung der Gewinne sowie an den Erscheinungsformen der Krise und keineswegs an ihren Ursachen an, und erklärtermaßen sollen diese Maßnahmen bei Stabilisierung der Konjunktur wieder zurückgenommen werden. Anders als 1929/33 vollzog sich der Strategiewechsel ohne Regierungswechsel (auch in den USA wurde die Modifizierung bereits von der Bush-Administration vollzogen) und auch nicht vor dem Hintergrund einer erst zehn Jahre zurückliegenden revolutionären Krise und einer starken sozialistischen und Arbeiterbewegung wie in jenen Jahren.
VI. Perspektiven der Krise
Wegen der hohen Labilität der Finanzmärkte und der realwirtschaftlichen Konjunktur sind Prognosen über den weiteren Verlauf der Wirtschaftskrise, darunter auch die Frage, ob sie in einer anhaltenden Depression mündet, kaum möglich. Einige Entwicklungen liegen jedoch auf der Hand:
Erstens wird der Abschwung im Verlauf des Jahres 2009 an Schärfe gewinnen. Noch ist die Beschäftigung relativ hoch, aber sobald der Personalabbau Raum greift, werden mit ihrem Rückgang Einkommen, Nachfrage, Umsätze und Preise weiter sinken. Alle bisher veröffentlichten Frühindikatoren weisen auf eine sich weiter verschlechternde Konjunktur hin.
Die Abwertung und Vernichtung von Geldvermögen wird sich nicht nur in den Bankbilanzen und auf den Konten der Bürger widerspiegeln, sondern mit einer weiteren Konzentration im Bankbereich infolge von Zusammenbrüchen und Fusionen, verbunden mit einem Beschäftigungsabbau einhergehen. Diese Entwicklung hat bereits 2008 eingesetzt. Ähnliche Prozesse laufen im produktiven Bereich ab, wo eine Steigerung der Insolvenzzahlen um 17 Prozent für 2009 vorausgesagt wird.[17] Ob und wann die sich im Verlauf des Abschwungs vollziehende Bereinigung der Überakkumulation im realen wie im Finanzbereich und die Senkung der Zinsen den Fall der Unternehmensgewinne aufhält, wann also die Talsohle erreicht ist, wie lange die Depression dauert und wann mit einem erneuten Aufschwung zu rechnen ist, lässt sich nicht vorhersagen. Der IWF erwartet für 2009 ein Schrumpfen der Weltwirtschaft um 0,8 Prozent; in den Industriestaaten wird mit einem Minus von 2,6 Prozent gerechnet und nur für einige Entwicklungsländer werden positive Wachstumsraten unterstellt. Der Welthandel wird stark zurückgehen, was vor allem die europäischen Länder trifft.[18] Die Volatilität der Devisenkurse und damit die Gefahr von Währungskrisen hat sich erhöht.
Abbildung 8: Jährliche Veränderung von
Ausrüstungsinvestitionen
und Erwerbstätigkeit
Quelle: Statistisches Bundesamt, Fachserie 18, Reihe 1.1, Tab. 1.11, 3.10., eigene Darstellung
Zweitens wird sich die Lage der Lohnabhängigen verschlechtern. Dies drückt sich vor allem in den Arbeitslosenzahlen sowie in der Kurzarbeit aus. Die Bundesregierung geht inzwischen von einem Rückgang der Erwerbstätigkeit um 0,7 Prozent im laufenden Jahr aus, was einem Anstieg der Arbeitslosenquote auf 8,4 Prozent entspräche[19]. Ob dies so eintrifft, darf bezweifelt werden.
Die Ausrüstungsinvestitionen werden nach derselben Prognose um 11,7 Prozent einbrechen. Da die Entwicklung der Erwerbstätigkeit dieser Dynamik folgt (vgl. Abb. 8), wird nach allen Erfahrungen der Rückgang der Beschäftigung wohl höher ausfallen. Zusammen mit der ansteigenden Arbeitslosigkeit und der Kurzarbeit sowie dem zunehmenden Übergang von Erwerbslosen in Hartz IV werden sich der Druck auf die abhängig Beschäftigten und Arbeitslosen erhöhen und ihre Einkommensverhältnisse verschlechtern.
Drittens:. Die Lage der öffentlichen Haushalte, die sich im Verlauf des letzten Aufschwungs verbessert hatte, wird sich erneut nachhaltig verschärfen. Alle Pläne bezüglich eines Schuldenabbaus und Haushaltsausgleichs sind Makulatur. Die Steuereinnahmen werden sinken, wozu die bereits vor der Rezession auf den Weg gebrachten Steuersenkungen, der zu erwartenden Einbruch der Gewinne und die steigende Arbeitslosigkeit beitragen. Die Haushaltsdefizite würden auch ohne das Anfang 2009 aufgelegte Konjunkturpaket wieder ansteigen, da mit der Arbeitslosigkeit auch die entsprechenden Sozialausgaben anwachsen. Da es fast zeitgleich Beschlüsse über die mittelfristige Haushaltskonsolidierung und eine Schuldenbremse gegeben hat, wird es unzweifelhaft zu Einschränkungen bei der Bereitstellung von öffentlichen Gütern und Dienstleistungen kommen.
In einer ganzen Reihe von Staaten hat sich die Haushaltslage schon heute dramatisch, teilweise bis zum bevorstehenden Staatsbankrott, verschärft. Dazu gehört auch erstmals ein US-amerikanischer Bundesstaat (Kalifornien). In Ungarn, Island, der Ukraine und einigen baltischen Ländern konnte der Bankrott nur durch Hilfe von außen – Kredite anderer Staaten und des IWF – abgewendet werden.
Viertens: Obwohl die Krise globalen Charakter trägt und kein Land davon unberührt bleibt, sind für die verschiedenen Länder und Ländergruppen insgesamt sehr differenzierte Entwicklungen zu erwarten. Eine Reihe von Ländern wird zwar Wachstumseinbußen hinzunehmen haben, aber weiter überdurchschnittlich wachsen; das gilt vor allem für einige asiatische Staaten, darunter insbesondere China. Deren weltwirtschaftliches Gewicht hat sich in den letzten Jahrzehnten drastisch erhöht, heute wird die Hälfte des weltweiten BIP in der ehemaligen Peripherie erzeugt. Die Europäische Zentralbank schätzt ein, dass die beträchtlichen Devisenreserven einiger Schwellenländer, allen voran Chinas, diese für die weltweiten Risiken weniger verwundbar machen[20]. Das internationale ökonomische Kräfteverhältnis wird eine Verschiebung erfahren. Die neue Rolle Chinas deutet sich auch darin an, dass es im Interesse seiner Exportwirtschaft eine Dollar-Abwertung verhindern kann. Die USA sind auf diese Politik angewiesen, weil sie einen immer noch starken Dollar benötigen, um den Kapitalzufluss zur weiteren Finanzierung ihrer immer größer werdenden Defizite aufrecht und ihre Energieimporte bezahlbar zu halten.
Die zu erwartende Stagnation in armen Ländern wird die soziale Lage dort besonders negativ beeinflussen und kann zu erhöhter politischer Labilität beitragen. Dies gilt sogar für hoch entwickelte Länder, wie das Beispiel Island zeigt. In dieser Situation werden viele Länder versuchen, eine stark national orientierte Wirtschaftspolitik zu betreiben, was die immer latent vorhandenen Tendenzen von Protektionismus, Währungs- und Handelskriegen oder Subventionswettlauf verstärkt. Dies wurde gleich zu Beginn des Einbruchs im September 2008 deutlich, als selbst innerhalb Europas wechselseitige Vorwürfe laut wurden, weil die nationalen Kreditsicherungsprogramme zum Abfluss von Kapital aus anderen Ländern beitragen können. Schon hat eine Diskussion darüber begonnen, ob der Euro-Währungsverbund angesichts der Versuchung einer Politik des ‚beggar my neighbour’ halten kann.
Fünften:. Obwohl die Finanzkrise auch aus die Existenz riesiger Geldvermögen im Verhältnis zur Realwirtschaft resultiert, betreiben die Zentralbanken eine expansive Geldpolitik, um die Zinsen zu senken und damit die Profiterwartungen und die Risikobereitschaft bei der Kreditaufnahme zu steigern. Damit kann ein weiterer deflationärer Einbruch kurzfristig gebremst oder verhindert werden, aber zugleich entstehen erneut die Voraussetzungen für eine Überakkumulation. Die heutige expansive Geldpolitik wird in ein paar Jahren dieselbe Rolle spielen, die sie zu Beginn dieses Jahrzehnts spielte und birgt ein beträchtliches langfristiges Inflationspotenzial mit entsprechend negativen Wirkungen auf die Realeinkommen.
Die gegenwärtig betriebene staatliche Nachfragepolitik kann das entstandene Ungleichgewicht und den Arbeitsplatzabbau für den Moment abmildern, vor allem wenn diese Mittel in öffentliche, dem Verwertungszwang entzogene Investitionen fließen. Die andere Seite der Medaille besteht darin, dass die Finanzierung mittels Staatsanleihen die weitere Verwertung des überakkumulierten, brachliegenden und risikoscheuen Kapitals mit Hilfe von Steuermitteln sichert. Der Kern der heutigen geld- und fiskalpolitischen Wirtschaftspolitik besteht also darin, die Verwertung des Kapitals im produktiven und Finanzbereich wieder zu erhöhen, was die eigentlichen Ursachen der Krise reproduziert. Obwohl mit dieser Politik durchaus auch positive Effekte für die Beschäftigung verbunden sein können, bleibt die Chance für eine grundlegend andere Weichenstellung in der Stabilisierungspolitik[21] ungenutzt.
[1] Spiegel, Nr. 6/2009 vom 2.2. 2009, S. 81.
[2] Der polnische Ökonom Michal Kalecki mutmaßte schon in den 1940er Jahren, es existiere ein politischer Zyklus, ein Auf und Ab der ökonomischen Strategie der Großbourgeoisie bezüglich mehr oder weniger Regulierung.
[3] Hier wird dem allgemeinen Sprachgebrauch gefolgt, wo sich die Begriffe Realwirtschaft und Finanzbereich eingebürgert haben. Sie sind beide real.
[4] Dies hat in Form der Gier auch eine moralische Dimension, von deren Analyse hier allerdings abgesehen wird.
[5] Vgl. dazu vor allem: Lucas Zeise, Ende der Party, Köln 2008.
[6] Alan Greenspan, Mein Leben für die Wirtschaft, Frankfurt/New York 2007, S. 206, 417.
[7] Zur Datierung vgl.: Stephan Krüger, Konjunkturzyklus und Überakkumulation, Hamburg 2007, S. 113. Das US-amerikanische Business Cycle Dating Committee, das die als offiziell geltende Datierung der US-Zyklen vornimmt, terminiert den oberen Wendepunkt für März 2001 und den Tiefpunkt für November 2003. wwwdev.nber.org/cycles/cyclesmain.html (abgerufen 7.2.2009).
[8] Monatsbericht der Deutschen Bundesbank, Januar 2009, S. 36.
[9] Die Relation Konsum zu Investitionen spiegelt hier nicht – wie im Marxschen Reproduktionsmodell - die Dynamik der Zusammensetzung des Kapitals wider, weil der Konsum nicht nur den Verbrauch der Lohnabhängigen, sondern den öffentlichen und privaten Gesamtkonsum, einschließlich der nicht erwerbstätigen Bevölkerung umfasst. Der Tempounterschied ist also nicht primär technologisch bedingt.
[10] Vgl. www.bundesbank..de/statistik/statistik_wirtschaftsdaten_jahresabschluss.php, Tab.1, Mittelaufkommen.
[11] Robert Reich, Superkapitalismus, Frankfurt/M./New York 2008, S. 25.
[12] Spiegel 6/2009, S. 73.
[13] Nouriel Roubini in Faz.net, 28.Januar 2009.
[14] http://research.stlouisfed.org (abgerufen 11.2.2009).
[15] Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie (Hrsg.): Schlaglichter der Wirtschaftspolitik. Sonderheft Finanzkrise, Berlin 2008, S. 8.
[16] Vgl. den Disput in Sozialismus Nr. 12/2008 und 2/2009.
[17] Focus-online, 2.1.2009.
[18] IMF, World Economic Outlook, Update 28.1.2009.
[19] BMWT, Jahreswirtschaftsbericht 2009, Berlin, S. 11.
[20] Vgl. EZB, Monatsbericht Januar 2009, S. 91.
[21] Vgl. dazu Jürgen Leibiger, Stabilisierungspolitik mit Marx?, in: Günter Krause (Hrsg.), Politische Ökonomie und die Linke heute, Helle Panke Berlin, im Erscheinen.