Diese Krise war eigentlich schon viel früher fällig. Sie ist ja im Prinzip eigentlich eine stinknormale Überproduktionskrise, wie sie für den Kapitalismus typisch ist. Nur ist sie deutlich radikaler als die gemeine konjunkturelle Überproduktionskrise, an die wir uns schon einigermaßen gewöhnt hatten. Die Radikalität dieser Krise zeigt sich bisher erst ansatzweise in ihren sozialen Auswirkungen. Die ökonomischen Daten aber bezeugen es. Sie legen den Vergleich mit der großen Weltwirtschaftskrise (1929 bis zum 2. Weltkrieg) nahe.
Hier eine kleine Auswahl: In Deutschland ist die Industrieproduktion zu Jahresbeginn um 20 Prozent (im Vorjahresvergleich) gesunken. Die Importe sind im Vergleich zum letzten Quartal 2008 um 6 bis 7 Prozent und die Exporte um 12 bis 13 Prozent gefallen. Die OECD schätzt den Rückgang des (realen) Bruttoinlandsprodukts in Deutschland in diesem Jahr auf 3,5 Prozent. Schon nach dieser Kalkulation wäre die Rezession damit schärfer als jede seit 1945. Dabei ist die Prognose der OECD, wie es sich für eine von Regierungen bezahlte Behörde gebührt, äußerst gemäßigt. Die Volkswirte bei den Banken und mittlerweile auch die bei der Bundesregierung rechnen mit eher minus 5 Prozent.
Die Radikalität der Krise erweist sich auch in ihrer weltweiten Wirkung. Sie umfasst tatsächlich den gesamten globalisierten Kapitalismus. Die USA, wo die Krise begann, befinden sich bereits seit Ende 2007 in der Rezession. Die westeuropäischen Kernländer des Kapitalismus sind ebenso betroffen wie Deutschland. Es spielt dabei kaum eine Rolle, ob sie wie Großbritannien, Irland und Spanien eine eigene inländische Immobilien- und Verschuldungskrise durchmachen oder wie Deutschland vor allem vom Einbruch des Exports getroffen werden. Das Ergebnis ist ähnlich. In Japan sind Nachfrage und Produktion noch drastischer eingebrochen als in Westeuropa. Das Wachstum in China ist von gut 10 Prozent auf 6 Prozent zurückgegangen, wobei diese Wachstumsziffer immer noch ein wenig übertrieben sein dürfte. Auch in den anderen großen so genannten Schwellenländern geht das Wachstum wie in Indien deutlich zurück oder weicht wie in Brasilien und Russland der Rezession. Die kleineren Schwellenländer, vor allem die im Osten Europas, leiden zusätzlich darunter, dass sich das Spekulationskapital zurückzieht. Weil es sich hier um eine weltumspannende und extrem scharfe Krise handelt, ist es auch angemessen, wenn man sie nicht nur als eine unter vielen Überakkumulationskrisen betrachtet. Vielmehr ist es diejenige Überproduktionskrise, die im neoliberalen Kapitalismusmodell längst fällig war und die Phase des Neoliberalismus – zunächst und mit noch unbekanntem Ausgang – abschließt.
Das neoliberale Modell des Kapitalismus
Das neoliberale Modell des Kapitalismus ist aus einer Krise des Kapitalismus, ähnlich der heutigen, in den späten siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts entstanden. Sein Vorgängermodell war wirtschaftspolitisch vom Keynesianismus geprägt, es orientierte auf eine teilweise Befriedung der Arbeiterklasse, es setzte in betonter Form staatliche Mittel zur Stärkung der jeweils nationalen Kapitalakkumulation ein, es wird von manchen auch als „Fordismus“ bezeichnet, also jenes System großer Industriebetriebe mit langen Fertigungsstraßen und dadurch gewonnener größerer Arbeitsproduktivität. Dieses frühere Wachstumsmodell ging aufgrund einer Mischung aus inneren Widersprüchen (steigende Inflation, fallender Dollar) und äußerem Widerstand (relativ starkes sozialistisches Lager, Sieg Vietnams, steigende Rohstoffpreise) zu Ende. Die Regierungen von Thatcher (in Großbritannien von 1979 bis 90) und Reagan (in den USA von 1980 bis 88) markieren auf der offiziellen politischen Ebene den Beginn des Neoliberalismus. (Interessant in diesem Zusammenhang, dass in den USA schon 1979 der vom Demokraten Jimmy Carter eingesetzte Zentralbankchef Paul Volcker mit radikal restriktiver Hochzinspolitik die Phase des Neoliberalismus einleitete. Den alten Volcker findet man heute als engen Wirtschaftsberater des neuen US-Präsidenten Barack Obama wieder.)
Vier markante Merkmale kennzeichnen das neoliberale kapitalistische Wirtschaftsmodell:
- Es zielt radikaler und direkter als das Vorgängermodell auf eine Erhöhung der Kapitalrendite. Zu diesem Zweck werden die Gewerkschaften systematisch geschwächt, wird von Seiten des Staates Druck auf die Löhne ausgeübt. Marxistisch gesprochen wird mit allen Mitteln versucht, die Mehrwertrate zu erhöhen.
- Nationale Schutzschranken für den Warenhandel und den Kapitalverkehr werden systematisch abgebaut, um stärkere Kapitale zu bevorzugen und die Monopolisierung voranzutreiben.
- Die transnationalen Konzerne bauen zunächst in den Industrieländern, nach 1989/90 auch in den Ländern der 2. und 3. Welt im Rahmen der so genannten Globalisierung Produktionsverbünde auf. Damit gelingt es, Arbeitskräfte und natürliche Ressourcen billig einzukaufen und die Früchte des Produktivitätsfortschritts vollständig der Kapitalseite zukommen zu lassen.
- Schließlich entsteht im Zentrum des neoliberalen Modells ein rasant und immer schneller wachsender, überdimensionierter Finanzsektor. Er ist Resultat der ungleicher werdenden Einkommensverteilung, da die wachsenden Profitmassen in den Händen der Wenigen in Anlagen außerhalb der Produktionssphäre drängen. Umgekehrt gelingt es, über die Spekulation im Finanzsektor die Kapitalrendite weiter zu erhöhen.
Als der Neoliberalismus sich Ende der siebziger Jahre des vorigen Jahrhunderts als reaktionärer Ausweg aus der damaligen ökonomischen Krise anbahnte und sich zu Beginn der achtziger Jahre politisch durchsetzte, erwarteten nicht wenige, dass diese spezifische Art des Kapitalismus sehr schnell an seine Grenzen stoßen würde. Denn, so die einfache Überlegung, wenn die Kapitalrendite, die Profitrate, wenn die Mehrwertrate hoch sind, beschleunigt sich die Akkumulation. Da in dieser Logik zugleich die Lohneinkommen real stagnieren oder allenfalls geringfügig wachsen, muss die Akkumulation ganz besonders rasch an die Grenze der zu geringen Konsumption stoßen. Der Crash am Aktienmarkt vom Oktober 1987 schien dieser Auffassung Recht zu geben. Auch die Spekulanten witterten Gefahr. Tatsächlich aber fand das neoliberale Regime Methoden, um einer großen Überakkumulationskrise zu entgehen.
Zwei Faktoren vor allem dürften zur Vermeidung oder besser Verschiebung der eigentlich fälligen großen Überakkumulationskrise beigetragen haben. Der erste ist die geographische Expansion des Kapitalismus, die Ausweitung des Ausbeutungssystems auf Asien (China), das Gebiet der früheren Sowjetunion und Osteuropa. Der zweite Faktor ist die Herausbildung eines überdimensionierten Finanzsektors.
Die Umverteilungswirkung des überentwickelten Finanzsektors
Zunächst ist der sich aufblähende Finanzsektor Ausdruck und zugleich wesentliches Mittel, die gesellschaftliche Mehrwertrate zu erhöhen. Offensichtlich ist der Zusammenhang, dass die ungleicher werdende Einkommensverteilung in der Gesellschaft zu höherem Anlagedruck des Kapitals führt. Die Investitionen im Finanzsektor können somit als Ausweichreaktion des Kapitals interpretiert werden, das vor den als zu niedrig erachteten Renditeerwartungen außerhalb des Finanzsektors flieht. Zugleich ist der Finanzsektor ein wichtiges Mittel, um sowohl die gesellschaftliche Mehrwertrate zu erhöhen als auch die Profite innerhalb der Kapitalistenklasse in Richtung der Monopole umzuverteilen.
Ein entwickelter, großer Finanzsektor erhöht die Flexibilität des Kapitals. Er dient sozusagen als Schmiermittel beim Prozess des Ausgleichs der Profitraten. Die Suche nach der höchsten Rendite ist für das Kapital und seine Verwalter bei einem hochentwickelten Finanzsektor eine billige und wenig Zeit raubende Angelegenheit. Ist der Finanzsektor dagegen wenig entwickelt, dann ist es für das in der industriellen Produktion engagierte Kapital mühsam und langwierig, sich einer lockenden anderen Investition zuzuwenden.
Fabriken, Immobilien, Lizenzen, Rechte und alles drum und dran müssen verkauft werden oder all diese schönen Dinge müssen verwertet werden oder schließlich sie müssen beliehen werden, bevor das Kapital seine Beweglichkeit zurückgewinnt. Verkauf und Beleihung sind für den modernen hyperaktiven Finanzsektor kein Problem. Für ersteres bietet sich als Agent eine Investmentbank vom Schlage Goldman Sachs oder Deutsche an. Für Letzteres ist der Kapitalist nicht mehr auf die Gnade und Geschick seiner Hausbank angewiesen. Er hat vielmehr die Wahl. Auch Kapital in liquider Gestalt, zum Beispiel Aktien oder Anleihen, wird im entwickelten Finanzmarkt noch beweglicher. Die steigenden Umsätze am Kapitalmarkt zeigen es. Die Beweglichkeit des Kapitals erweist sich in der Auseinandersetzung mit den Lohnarbeitern als Vorteil. Entlassungen, Rationalisierungsmaßnahmen, Standortschließungen sind meist die unmittelbare Folge von Fusionen und Übernahmen. Die in volkswirtschaftlichen Seminaren an Universitäten und Business Schools gepriesene „Produktivität“ des Finanzsektors bedeutet genau das: die Fähigkeit, eine höhere Ausbeutungsrate durchzusetzen.
Ein großer Finanzsektor trägt auch viel zur Umverteilung innerhalb der Kapitalistenklasse bei. Am deutlichsten wird das im hohen Einsatz von Fremdkapital. Wie das Beispiel der als Heuschrecken bekannten Finanzinvestoren zeigt, kann mit der Minimierung des Eigenkapitaleinsatzes und entsprechend hohen Fremdkapitalanteilen die Rendite auf das Eigenkapital bei entsprechend erhöhtem Risiko erheblich nach oben gehebelt werden. Je höher der Fremdkapitaleinsatz, je höher der Anteil der Bankkredite, desto höhere Anteile fließen in Richtung Finanzsektor. Diejenigen Kapitalisten, die sich als Zeichner von Hedge- oder Private-Equity-Fonds oder wie die Familien Porsche, Piëch, Schäffler und Quandt/Klatten auf direktem Wege im Finanzsektor betätigen, können so, ganz wie das originäre Bankkapital, einen Teil des im industriellen Sektor anderswo erzielten Profits für sich abzweigen.
Die Umverteilungswirkung des Finanzsektors verzögert die Krise nicht. Im Gegenteil, insoweit der wachsende Finanzsektor auf Kosten der Lohnempfänger geht, rückt die Krise näher. Zum Vorteil des Neoliberalismus hat die überproportionale Expansion des Finanzsektors aber auch noch andere Wirkungen. Ein wachsender Finanzsektor trägt auf verschiedene Weise zur Verschiebung der Überakkumulationskrise bei:
- Der Finanzsektor absorbiert hohe anfallende Gewinne in unproduktive Investitionen.
- Durch im Finanzsektor entstehende Preis- und Spekulationsblasen werden Gewinne suggeriert, reale Investitions- und Konsumnachfrage angeregt.
- Schließlich werden im Zuge der Spekulationskrisen nicht nur suggerierte Profite, sondern auch reale Profite, das heißt Kapital, vernichtet.
Der erste Punkt ist offensichtlich. In der Phase, da der Finanzsektor wächst, absorbiert er größer werdende Anteile an den angehäuften Profitmassen. Diese „Investitionen“ des Kapitals sind Finanzanlagen. Sie stehen nicht sofort zur industriellen Kapitalakkumulation zur Verfügung. Sie vergrößern zunächst nur die Ansprüche auf Teile des in der Gesellschaft entstehenden Profits. Sie erhöhen damit die Verschuldung der Gesellschaft. Sie erhöhen zugleich die Preise der Gewinnansprüche und verursachen damit die Spekulationsblasen.
Wozu Spekulationsblasen gut sind
Diese Blasen sind das spektakulärste und sicher auch interessanteste Resultat des Finanzsektors. „Resultat“ ist kein besonders treffender Ausdruck, denn schließlich gilt auch, dass der Finanzsektor nicht nur die Spekulation produziert, sondern umgekehrt von ihr produziert und aufgebläht wird. Über den Charakter, über Ursachen und Folgen von Spekulationsmärkten und -krisen wird aus aktuellem Anlass in jüngster Zeit viel geschrieben. Hier nur einige wenige Anmerkungen dazu. Spekulationsmärkte sind Erscheinungen des Finanzsektors, denn es sind reine Preisphänomene. Von einer Spekulationsblase kann man dann sprechen, wenn die auf einem Markt Handelnden die Waren nicht mehr zum Verbrauch oder zur nützlichen Verwendung kaufen, sondern nur, um sie teurer zu verkaufen.
Im Prinzip kann jeder Markt für jedes Produkt in dieses verrückte Spekulationsstadium eintreten. Dieses Produkt muss allerdings einen realen Wert (durchaus im Sinne der klassischen Werttheorie) haben oder zumindest versprechen. In diesem Sinne gleichen spekulative Finanzmärkte durchaus dem Casino. Die im Casino ausgegebenen Chips sind Ansprüche auf Bargeld, genau so wie die verschiedenen Derivate, ob Futures, Optionen oder Kreditversicherungsverträge ebenso Ansprüche auf Zahlungen in „echtem“ Geld bedeuten. Im Casino wird allerdings nicht gehandelt, sondern gespielt. Weil das Casino kein Markt ist, sondern weil alle gegen die Bank (den Casino-Veranstalter) spielen und jeder Gewinn zugleich einen Verlust für die Bank bedeutet und umgekehrt, fehlt bei dieser Veranstaltung jene Erscheinung, die die Spekulation überhaupt erst so attraktiv werden lässt: In der spekulativen Aufwärtsphase gewinnen alle. Alle beteiligten Spekulanten verkaufen teurer als sie gekauft haben. Natürlich versuchen sie zugleich, sich gegenseitig zu übervorteilen. Das bestimmt nur darüber, wer mehr gewinnt als der andere. Grundsätzlich aber gewinnen bei steigenden Preisen alle.
Tatsächlich ist dieser Gewinn für alle nicht wirklich real. Er ist insofern fiktiv, als die Ware, mit der die Spekulationsgewinne erzielt werden, sich im Zuge der Spekulation und der steigenden Preise nicht verändert. Allein die Spekulanten haben mehr Geld in der Tasche. Das Fiktive dieser Gewinne wird in der Abwärtsphase der Spekulation bei auf breiter Front sinkenden Preisen schmerzhaft deutlich. Die Spekulanten verlieren, denn sie verkaufen billiger, als sie gekauft haben. Das Geld in ihren Taschen schwindet. Was vorher da war, ist nun weg. Wie zuvor der Gewinn, betrifft nun der Verlust alle.
Bemerkenswert ist zudem, dass die eigentlich nur fiktiven Gewinne der Spekulanten in der Aufwärtsphase reale ökonomische Wirkungen haben. Denn das zusätzliche Geld in den Taschen der Spekulanten führt dazu, dass sie nicht nur ihre Spekulationseinsätze erhöhen, sondern es führt auch dazu, dass sie mehr andere Waren kaufen, beispielsweise Brötchen, Porsches, Luxusreisen oder teure Villen. Im Ergebnis werden die Bäcker, Autoproduzenten, Reiseveranstalter, Makler und Baufirmen ihr Angebot bzw. ihre Produktion erhöhen. Aus einem fiktiven Reichtum der Makler wird also ein höchst reales Plus in der wirklichen Ökonomie. Somit erklärt sich auch, dass steigende Preise an Spekulationsmärkten, zum Beispiel am Aktienmarkt, durchaus wohlwollend, wenn nicht sogar begeistert kommentiert werden. Leider gilt der Zusammenhang der Spekulation mit der realen Wirtschaft auch in der Abwärtsphase. Die sinkende effektive Nachfrage der ärmer werdenden Spekulanten hemmt Absatz und Produktion.
Deshalb werden in Finanzkrisen nicht nur suggerierte Profite, sondern auch ganz reale vernichtet. Finanzkrisen haben eine reinigende Wirkung. Der Zusammenbruch der Preise und der Spekulation schafft Raum für neue Spekulation. Die Kapitalvernichtung in der realen Ökonomie mindert den Anlagedruck. Die große Akkumulationskrise wird durch das Auftreten von Finanzkrisen und ihren realwirtschaftlichen Konsequenzen weiter in die Zukunft verschoben.
Die Wirkung der Spekulation auf die reale Ökonomie ist so zunächst nur modellhaft beschrieben. Im wirklichen Leben haben die vom Finanzsektor betriebenen Spekulationen die stärkste Wirkung nicht auf den Konsum, sondern auf die Investitionen. Ein geradezu klassisches Beispiel liegt noch nicht lange zurück: Die vorletzte der im Zuge des Neoliberalismus häufig gewordenen Spekulationskrisen war die des internationalen Aktienmarktes und da besonders das Teilsegment der Internet- und Telekommunikationsaktien. Der Preisanstieg dieser Aktien verlief bis ins Frühjahr 2000 hinein außergewöhnlich spektakulär. Die eigentlich langweilige Aktie der Deutschen Telekom wurde zeitweise mit dem 150fachen des erwarteten Gewinns bezahlt. Die Firma Mannesmann wurde wegen einiger Lizenzen, Mobilfunknetze betreiben zu können, zum höchsten je für ein Unternehmen bezahlten Preis übernommen. Nicht nur diese Finanzinvestitionen, sondern auch die realen Investitionen in die Computer- und Telefontechnik vervielfachten sich. Als der Crash am Aktienmarkt folgte, sackten diese realen Investitionen in allen Kernländern des Kapitalismus zusammen. Eine Rezession war die Folge. Sie war in den USA und einigen europäischen Ländern relativ kurz. In Deutschland folgte die längste Stagnationsperiode seit dem Zweiten Weltkrieg.
In den USA ist es gelungen, eine schon in der Entstehung befindliche Spekulationsblase weiter aufzupumpen. Der Wohnimmobilienmarkt und die Verschuldung der US-Haushalte wurde zur größten bisher bekannten Spekulationsblase. Die Wirtschaftspolitik hatte bereits seit zwei Jahrzehnten ganz explizit die positiven Wirkungen der Finanzspekulation nicht nur auf die Gewinne der Spekulanten selber, sondern auch auf die Ökonomie in der Breite ausgenutzt. Die Politik der Notenbank unter Alan Greenspan folgte diesem Muster. Der von Goldman Sachs kommende Finanzminister Präsident Clintons, Robert Rubin, untermauerte in den neunziger Jahren diese Taktik auch verbal mit der „Politik des starken Dollar“. Der Dollar sollte dabei nicht wirklich gegenüber anderen Währungen teurer werden. Es ging vielmehr um die Attraktion für in Dollar denominierte Vermögenswerte. Diese Politik ging voll und ganz auf. Seit den neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts sind die USA das größte Kapitalimportland. Auch nach Rubin und selbst in der Aktienmarktkrise von 2000 bis 2003, deren Zentrum schließlich auch in den USA lag, strömte weiter Kapital in die USA.
Dieser Kapitalstrom finanzierte ohne Probleme das wachsende Außenhandels- und Leistungsbilanzdefizit der immer noch bei weitem größten Volkswirtschaft der Erde. In immer stärkerem Maße diente der Zufluss von Kapital der Finanzierung des Konsums der US-Bürger. Die US-Haushalte, deren Lohneinkommen ebenso stagnierte wie das ihrer Kollegen in anderen Ländern, finanzierten einen wachsenden Anteil ihres laufenden Konsums mit steigender Verschuldung. Dank der damit kräftigeren Endnachfrage war das Wachstum in den USA stetig höher als in Europa oder gar Japan. Da der Konsum in der Volkswirtschaft der USA ein Gewicht von 70 Prozent hat und die US-Wirtschaft wiederum mit etwa 30 Prozent des Weltsozialprodukts immer noch die weitem größte Volkswirtschaft der Erde ist, wirkte die durch Verschuldung aufgepeppte Nachfrage als effektiver Nachfragesog auf die Weltwirtschaft. Das aufstrebende China richtete sich mit einer auf rasantes Wachstum getrimmten Exportindustrie von Konsumgütern ganz darauf aus. Andere Exportländer wie Japan und Deutschland lieferten vorwiegend die Investitionsgüter in alle Welt, waren aber indirekt ebenso von der stetig steigenden Konsumgüternachfrage der USA abhängig. Knapp zusammengefasst hat die Spekulation die Verschuldung der USA ermöglicht und damit auf globaler Ebene der Tendenz zur wirtschaftlichen Stagnation entgegengewirkt, die sich aus der Unterkonsumption der breiten Massen in von wachsender Ungleichheit gekennzeichneten Gesellschaften ergibt.
Als die Finanzkrise im Sommer 2007 ausbrach, hörte auch das internationale Kapital auf, den Konsum der US-Haushalte zu finanzieren. Entsprechend hörte er zu wachsen auf. Aufgrund der nachlassenden Nachfrage glitt die US-Volkswirtschaft Ende 2007 in die Rezession. Es dauerte etwa neun Monate, bis sich die schwach werdende Nachfrage auch in den Aufträgen der deutschen Exportwirtschaft niederschlug. Aber es war unvermeidlich. Schließlich hatten die USA (und einige andere Länder wie Großbritannien) mit ihrer Importnachfrage die Weltkonjunktur in Schwung gehalten. Die resultierende Weltwirtschaftskrise ist die typische Unterkonsumptionskrise, wo es an effektiver Nachfrage fehlt. Die lohnabhängigen Konsumenten kaufen nicht, weil es ihnen an Geld fehlt, die Unternehmen investieren nicht, weil die Absatzchancen mager sind. Die Banken geben keinen Kredit, weil sie angesichts magerer Konjunkturaussichten um die Rückzahlung fürchten und weil sie aus ihren spekulativen Altengagements noch weitere Löcher in ihren Bilanzen erwarten.
Präzision der Stamokap-Analyse
Man kann deshalb mit Recht behaupten: Das neoliberale System funktioniert nicht mehr. Die Überakkumulationskrise ist – in mehrfach erweiterter Form – angekommen. Es gibt keinen spekulativen Markt mehr, mit dem die Realwirtschaft aus der Nachfrageschwäche herausstimuliert werden könnte. Es wird dennoch versucht. US-Demokraten, Grüne, die SPD, Toyota und andere setzen ihre Hoffnung darauf, Umweltschutz, Energiesparen und Ähnliches zu einem neuen Spekulationsobjekt hochzupäppeln. Dies müsste mit sehr viel staatlichem Geld geschehen. Aus jetziger Sicht sieht es nicht wahrscheinlich aus, dass diese Spekulation tatsächlich einmal abhebt.
Außerdem ist das potenzielle Subjekt einer solchen Spekulation, der Finanzsektor, in seiner Funktionsweise gestört. Deutlicher ausgedrückt: Das Finanzsystem ist in dieser Krise tatsächlich kollabiert. Ein Beweis dafür sind die Notmaßnahmen der Staaten, die dazu dienen, den bisher üblichen Betrieb der Geldschöpfung und Kreditgewährung aufrecht zu erhalten. Andererseits funktionieren einige Teile des Finanzsystems noch gut und scheinbar wie früher. Die staatlichen Sparkassen und die Genossenschaftsbanken halten zum Beispiel in Deutschland die Kreditversorgung in der Fläche aufrecht. Dennoch gilt allgemein und weltweit: Die Kreditpyramiden brechen immer noch zusammen. Die Verschuldung der Weltwirtschaft geht trotz steigender Staatsverschuldung immer noch zurück. Entweder wird Kredit zurückgezahlt oder der Schuldner ist pleite. Der Finanzsektor schrumpft auch knapp zwei Jahre nach Ausbruch der Finanzkrise immer noch.
Im Zuge der Finanz- und nun auch offenen Weltwirtschaftskrise beginnt sich das neoliberale Regime zu wandeln. Ganz offen übernimmt der Staat ökonomische Funktionen, die bisher privatkapitalistische Akteure übernommen hatten. Das ist am offensichtlichsten im System der Geld- und Kreditschöpfung selbst. Die Zentralbanken übernehmen wichtige Funktionen der Geschäftsbanken. In den USA, in Großbritannien und Japan finanzieren die Notenbanken die Großunternehmen direkt, sie kaufen deren Commercial Paper, geben ihnen also kurzfristigen Kredit. Die Europäische Zentralbank ist noch nicht ganz so weit. Allerdings nimmt sie mittlerweile so gut wie jeden Unternehmenskredit als Sicherheit an, um die Banken zu refinanzieren. Darüber hinaus haben alle kapitalistischen Staaten „ihre“ Banken mit Staatsgarantien versehen und darüber hinaus Rettungsprogramme aufgelegt, die die Banken mit Kredit oder sogar mit Eigenkapital versorgen sollen.
Die Staatsinstitutionen fangen den Finanzsektor nicht nur auf, sie übernehmen explizit die volkswirtschaftliche Lenkungsfunktion des Finanzsektors. Ein wenig ähnelt das dem, was der linke Flügel der SPD sich in den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts unter staatlicher Investitionsplanung vorgestellt und im schnell vergessenen Programm „Orientierungsrahmen 85“ eingebaut hatte. Die Machtinstrumente solcher Planung werden nun fast mit Selbstverständlichkeit eingesetzt. Nur fehlt das, was man gewöhnlich als „Planung“ bezeichnet. Die staatlichen Institutionen reagieren lediglich. Die Zentralbanken schütten so viel Geld aus wie sie können. Organisationen wie der Soffin, der in Deutschland die im Oktober 2008 vom Bundestag genehmigten Bankhilfen von 480 Mrd. Euro verwaltet, reagieren einerseits auf akute Notlagen. Ob aber eine Bank wie die Commerzbank eine massive Eigenkapitalzufuhr erhält oder wie die WestLB zum Abschuss oder Verkauf freigegeben wird, entscheidet andererseits nach Gutdünken die Regierung. Diese wiederum folgt den Anregungen der vor dem Untergang zu rettenden Banker aufs Wort. Die Theorie vom staatsmonopolistischen Kapitalismus (kurz Stamokap), wonach der Staat die Mängel des Kapitalismus auch mit ökonomischen Mitteln auszubügeln hat, erweist sich in der Krise als präzise Beschreibung.
Da diese Mängel in der Krise aber so gravierend sind und zugleich so offen auftreten, kann man zur Schlussfolgerung gelangen, die Herrschaft des Finanzkapitals sei angeknackst. Sie wird in den Köpfen der Menschen in Frage gestellt. Außerdem setzt sie sich real und ohne für alle sichtbare ökonomisch-politische Eingriffe des Staates nicht durch. Dass das grundlegende Kapitalverhältnis deshalb angeknackst wäre, davon kann allerdings keine Rede sein. Es gibt auch niemanden, der das behauptet. Ideologisch verliert die Produktionsweise Kapitalismus zwar aktive Anhänger. Aber sie wird nicht in Frage gestellt, sondern akzeptiert, wie man eben unerfreuliche Grundtatsachen wie Tod, Krankheit oder schlechtes Wetter akzeptieren muss.
Staats- und Banklenker sind erklärtermaßen bemüht, die herrlichen neoliberalen Zustände von vor der Krise wieder herzustellen. Sie setzen dazu die Mittel des Staates, vor allem seine Verschuldungsfähigkeit sehr freizügig ein. Man kann auch sagen, sie sind bemüht, einen reaktionären Ausweg aus der Krise zu suchen. Das ist nicht einfach. Der Weg zurück in die Wirkungsweise des neoliberalen, finanzmarktdominierten Systems ist nicht ohne Weiteres möglich. Weder kann auf Sicht eine neue Spekulationsblase aufgepumpt werden, noch bietet sich Ersatz für die früher muntere, aber jetzt schlaffe Nachfrage des sich verschuldenden US-Konsumenten an.
Ein progressiver Weg aus der Krise ist dagegen konzeptionell einfach: Es geht darum, mit großen, international koordinierten Konjunkturprogrammen und entsprechend expansiver Staatsverschuldung den Einbruch der effektiven Nachfrage weltweit zu stoppen oder zumindest zu bremsen. Es muss zweitens der Einstieg durch mehr Gleichheit geprägte Einkommensverteilung gefunden werden. Nur mit steigenden Realeinkommen der breiten Massen kann die Überakkumulation gebremst und das Auseinanderklaffen von Konsum und Produktion gemildert werden. Schließlich braucht der Kapitalismus Fesseln für den Finanzsektor. Die Unterwerfung der Politik unter das Regime der Finanzmärkte muss umgekehrt werden.
Ein solcher Weg aus der Krise ist nur dann durchzusetzen, wenn der Protest gegen die alte Politik erheblich zunimmt. Da die Herrschaft des Monopolkapitals an einer Stelle gelockert oder angeknackst ist, gibt es auch Chancen, diesen Riss, diese Lockerung auszuweiten und einen progressiven Weg aus der Krise zu finden.