1. Vom Ende des Zweiten Weltkriegs zur Bipolarität
Am 2. August 1945 endete die Potsdamer Konferenz, auf der erhebliche Interessendivergenzen innerhalb der Anti-Hitler-Koalition zu Tage traten. Am 6. August warfen die USA die erste Atombombe über Hiroshima und drei Tage danach die zweite über Nagasaki ab. Erklärtes Ziel war es, Japan zur Kapitulation zu zwingen. Zugleich aber sollten diese Bombardierungen zeigen, dass die USA im Besitz dieser fürchterlichen Waffe und auch bereit waren, sie einzusetzen. Kern der beginnenden Konfrontation zwischen Ost und West war die Frage der Neuordnung Europas vor dem Hintergrund zweier rivalisierender und antagonistischer Gesellschaftssysteme: Im Westen sollte der Marshall-Plan nicht nur den Wiederaufbau Europas unter kapitalistischen Vorzeichen bewirken, er legte auch den Grundstein für eine massive Präsenz des US-Kapitals in Westeuropa. Dabei darf nicht übersehen werden, dass die Sowjetunion damals in Westeuropa über starke Verbündete in Form der kommunistischen Parteien verfügte, die aus dem antifaschistischen Widerstand hervorgegangen waren und eine Überwindung des kapitalistischen Systems forderten: Die KP Italiens war nicht weit von einer parlamentarischen Mehrheit entfernt, die KP Frankreichs war eine starke Kraft mit großem Einfluss auf die Politik, unterstützt von der kämpferischen CGT, in der Türkei und in Griechenland eskalierte die Auseinandersetzung um die zukünftige gesellschaftliche Ordnung zum Bürgerkrieg.
In dieser Situation verkündeten die USA die Truman-Doktrin (12. März 1947), die den Antagonismus der unvereinbaren Ordnungen ausformulierte, „Freiheit“ gegen „Totalitarismus“ setzte und damit die Containment-Politik der USA einleitete, die zum Fundament des Kalten Krieges wurde. Truman erklärte: „… es muss die Politik der Vereinigten Staaten sein, freien Völkern beizustehen, die sich der angestrebten Unterwerfung durch bewaffnete Minderheiten oder durch äußeren Druck widersetzen. Ich glaube, wir müssen allen freien Völkern helfen, damit sie die Geschichte auf ihre Weise selbst bestimmen können. … Wenn sie freien und unabhängigen Nationen helfen, ihre Freiheit zu bewahren, verwirklichen die Vereinigten Staaten die Prinzipien der Vereinten Nationen.“
Die hier angesprochenen Freiheiten waren nicht nur die bürgerlichen Freiheiten, sondern auch die des freien Marktes. Die entstehende Allianz der „freien Völker“ gegen den bedrohlichen „Totalitarismus“ war zugleich eine Allianz zum Erhalt auch der inneren Ordnung: Die im April 1949 gegründete NATO war die konsequente Folge dieses doppelten Anspruchs zur Aufrechterhaltung des nach 1945 in Westeuropa entstandenen Systems[1] – und seiner Expansion in Richtung der noch zu befreienden Völker. Der Beitritt der Bundesrepublik Deutschland zur NATO (1955) war dann im gleichen Jahr Anlass für die Sowjetunion, ihrerseits einen Militärpakt zu gründen, die Warschauer Vertragsorganisation. Die Militarisierung des Systemkonflikts war perfekt.
Zwar verschaffte die Aufrüstung den beiden Supermächten die Fähigkeit zur (mehrfachen) wechselseitigen Vernichtung. Europa aber blieb das primäre Schlachtfeld: Wie die (Sandkasten-)Manöver Wintex und Cimex immer wieder zeigten, wäre im Falle einer nuklearen Eskalation vom zu verteidigenden Europa nichts übrig geblieben. Ob die USA von einem solchen Schlagabtausch in gleicher Weise betroffen gewesen wären, muss dahingestellt bleiben. Europa unter dem Schutz der USA war zugleich dessen strategische Geisel, was den französischen Präsidenten General de Gaulle Anfang der 60er Jahre dazu veranlasste, die französischen Truppen aus der militärischen Integration der NATO zurückzuziehen.
2. Das Ende der Bipolarität: Chance für eine friedlichere Welt?
Das Wissen um die fürchterlichen Kapazitäten wechselseitiger totaler Vernichtung war schließlich Anlass zu jener am 1. August 1975 begonnenen „Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa“, die über ihren Korb III (Menschenrechte) neben dem ökonomischen Niedergang wesentlich zum realen Zusammenbruch des sozialistischen Systems beitrug. Für einen kurzen Augenblick schien die Spaltung des industrialisierten Nordens überwunden, schien ein neues Europa seine autonome Handlungsfähigkeit zurück zu gewinnen, formulierte doch die nach Ende des KSZE-Prozesses beschlossene Charta von Paris (1990):
„Wir wollen ein Europa, von dem Frieden ausgeht, das für den Dialog und die Zusammenarbeit mit anderen Ländern offen und zum Austausch bereit ist und das mitwirkt an der Suche nach gemeinsamer Sicherheit.“
Im Zuge dieser Entwicklung war die NATO ebenso obsolet geworden wie die WVO, die sich in der Folge dieses Prozesses auflöste. Unter Europa wurde jenes geographische Europa „vom Atlantik bis zum Ural“ verstanden, dem Russland fraglos angehört. Trotz der immer wieder betonten transatlantischen Bindungen und auch der Mitgliedschaft der USA und Kanadas in der zu errichtenden OSZE wurde Europa als eigenständiger Akteur gesehen; die Medien feierten euphorisch „das gemeinsame Haus Europa“.
Jedoch legte bereits der fast zeitgleich abgeschlossene 2+4-Vertrag, der Resultat der Auflösung der Blöcke war und als späte Erfüllung des Potsdamer Abkommens einen Friedensvertrag der Alliierten mit Deutschland darstellte, die Grundlage für die Demontage des erst auf dem Reißbrett entworfenen „gemeinsamen Hauses“: Laut diesem Vertrag wurde die ehemalige DDR, die ja der BRD beitrat, Teil des NATO-Gebiets, auch wenn (zumindest bis 1994) auf ihrem Territorium nur das deutsche Territorialheer, also keine in die NATO integrierten Verbände stationiert werden sollten![2] Schon wenige Monate nach Auflösung der WVO verabschiedeten die NATO-Staaten auf ihrem Gipfel in Rom im November 1991 ein neues strategisches Konzept. Sie bekräftigten darin die Doktrin der Abschreckung (gegen wen?) und die Option des Bündnisses auf den Ersteinsatz von Atomwaffen. Hier lastet eine schwere Verantwortung auf den Regierungen der europäischen Staaten, die es vorzogen, unter dem Dach der US-Dominanz zu verbleiben, statt die Chance zum Bau eines genuin europäischen Hauses wahrzunehmen, wie es de Gaulle schon Anfang der 60er Jahre mit seiner Vision eines Europa vom Atlantik bis zum Ural postuliert hatte. Die NATO war eben mehr als nur ein Verteidigungsbündnis gegen einen realen oder imaginären äußeren Feind, sie war und ist auch Garant der inneren – marktwirtschaftlichen – Ordnung. Die Legitimation als Verteidigungsbündnis bedurfte aber der Gefahren von außen.
Zur Rechtfertigung der Fortexistenz des Bündnisses lieferte dieser Gipfel auch gleich die neuen (potenziellen) Bedrohungen mit:
- Instabilitäten in Mittel- und Osteuropa
- Potenzielle (!) Bedrohungen aus dem noch immer über Nuklearwaffen verfügenden osteuropäischen Raum
- Potenzielle (!) Bedrohungen aus dem Nahen Osten und dem Mittelmeerraum, von wo „Massenvernichtungswaffen und ballistische Flugkörper … das Hoheitsgebiet einiger Bündnisstaaten erreichen können.“
Diese noch sehr wolkigen Bedrohungen wurden in Eile konkretisiert und als „neue Risiken“ zum Hautaufgabengebiet des Bündnisses gemacht: die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen, Unterbrechung der Zufuhr von lebenswichtigen Ressourcen, Terror- und Sabotageakte. Hier wurden die Weichen gestellt zu jenem „erweiterten Sicherheitsbegriff“, der dann gewissermaßen als „Risiken“ all jene Probleme erfasst, die der kapitalistische Raubbau produziert: Ökologie, Migration, internationale Kriminalität, Klimawandel[3] etc. Diese schier endlose Erweiterung der „neuen Risiken“ nicht nur im Diskurs der NATO, sondern auch in den Verteidigungsweißbüchern Englands, Frankreichs und Deutschlands aus dem Jahre 1994[4] (und erst recht im jüngsten deutschen Verteidigungsweißbuch von 2006) wird seither weiter sorgsam gepflegt, wie der NATO-Diskurs auf dem Gipfel Baden-Baden – Strasbourg zeigt. Sie liefern zugleich die Grundlage für die hinfort weltweite Zuständigkeit der NATO:
„Risiken“ dieser Art sind in der Tat global. Ihre Definition als potenzielle Bedrohung der Sicherheit der westlichen Welt aber machen die NATO zum weltweit zuständigen Akteur. Phänomene und Prozesse, die ökologischer und sozialer Natur oder allenfalls polizeilicher Relevanz sind, werden nun „versicherheitlicht“,[5] und damit zum Gegenstand militärischer Bearbeitung gemacht.
Dies führt geradlinig zur derzeitigen Debatte, die Militärinterventionen als „ultima ratio“ bezeichnet. Denn: Indem Konflikte und Probleme gleich welcher Art „versicherheitlicht“ werden, wird ihre „Lösung“ gewissermaßen automatisch dem Militär übertragen, eine zivile Konfliktbearbeitung wird so schon konzeptionell ausgeschlossen.
3. Die „neue NATO“: Weg frei für globalen Interventionismus
Die Krönung dieses Prozesses der Verwandlung der NATO von einem regionalen Verteidigungsbündnis, das sie immer nur an der Oberfläche war, zu einem weltweiten Interventionsinstrument fand statt auf dem NATO-Gipfel in Washington am 24. April 1999, exakt einen Monat nach dem Beginn des Krieges der NATO gegen Jugoslawien, der nicht nur völkerrechtswidrig, sondern auch der erste Krieg out of area war. Der NATO-Vertrag wurde unter der Hand radikal verändert, indem die NATO die „Nicht-Artikel-5-Einsätze“[6] erfand, die in Ziff. 29 des „Neuen Strategischen Konzepts“ festgehalten wurden:
„Militärische Fähigkeiten, die für das gesamte Spektrum vorhersehbarer Umstände wirksam sind, stellen auch die Grundlage für die Fähigkeit des Bündnisses dar, durch nicht unter Artikel 5 fallende Krisenreaktionseinsätze zur Konfliktverhütung und Krisenbewältigung beizutragen. Diese Einsätze können höchste Anforderungen stellen und in hohem Maße von den gleichen politischen und militärischen Qualitäten wie Zusammenhalt, multinationale Ausbildung und umfassende vorherige Planung abhängen, die auch in einer unter Artikel 5 fallenden Lage von ausschlaggebender Bedeutung wären.“[7]
Ohne den Vertrag zu verändern, erklärte sich die NATO damit zum weltweiten Akteur. Artikel 3 des Vertrages, der noch die „eigene und die gemeinsame Widerstandskraft gegen bewaffnete Angriffe“ als Kern und Ziel des Bündnisses definiert hatte, wird damit zur Marginalie. Regelte Artikel 5 des NATO-Vertrags noch den Verteidigungsfall, so wird militärisches Handeln nun zum Normalfall – ohne einen Angriff von außen oder auch nur die Existenz einer äußeren Bedrohung. Krisenreaktionseinsätze und Krisenbewältigung im globalen Maßstab haben nichts mehr zu tun mit Verteidigung. Die neue Aufgabe heißt im Klartext: Intervention, und dies weltweit. Genau das erklärt, weshalb die NATO ihre Militärausgaben gegenüber der Zeit des Kalten Krieges, in der die atomare Rüstung noch den gewaltigsten Posten ausmachte, massiv erhöht hat. Laut Cremer[8] hatte die „alte“ NATO (1985) noch einen Anteil von 48 Prozent an den weltweiten Militärausgaben, 1995 waren es bereits 58 Prozent - vor dem 11. September 2001, vor dem Afghanistan-Krieg und vor Operationen wie Enduring Freedom oder Active Endeavour. Die NATO präsentiert sich so als Garant der weltweiten Ordnung und der Freiheit der Märkte.
Diese „neue NATO“ zeigt nicht nur eine gewandelte Substanz, sie demonstriert ihre weltweite Zuständigkeit, aber sie scheint auch wachsende innere Widersprüche zu produzieren. So erhebt sich die Frage, weshalb die Mitglieder der Organisation diese – noch – unterstützen. Denn: Gerade die Interessen der EU sind in zentralen Aspekten nicht deckungsgleich mit denen der USA, ja teilweise geradezu gegenläufig. Hier seien nur einige Aspekte genannt, die die Rivalitäten deutlich machen:
Die Entwicklung seit dem Ende der Bipolarität hat dazu geführt, dass geradezu ein Wettlauf um die Mitgliedschaft in NATO und EU begann, wobei beide Organisationen teils in Kooperation, vor allem aber auch in Konkurrenz ihren Einfluss wechselseitig durch die Aufnahme neuer Mitglieder zu sichern suchen. Die historisch bedingten Perzeptionen eines Sicherheitsbedürfnisses gegenüber Russland seitens der baltischen Staaten und Polens, das teilweise geradezu russophobe Züge hat, war der NATO willkommener Anlass, die Osterweiterung voranzutreiben, veranlasste aber auch die EU ihre Grenzen zu erweitern. Beide wollen sich durch die Osterweiterung Einfluss und Mitspracherechte sichern und geraten dadurch in Konkurrenz zueinander: Während die Neumitglieder den Kurs der USA einer Einkreisung und Isolierung Russlands unterstützen, konterkarieren sie die Ziele der „alten“ Kernstaaten der EU, die – aus energiepolitischen wie geostrategischen Gründen – eine Einbindung Russlands wollen.
Erstmals in ihrer Geschichte hat die NATO nach den Anschlägen des 11. September 2001 den Bündnisfall (Art. 5) ausgerufen. Die Angriffe auf das World Trade Center und das Pentagon wurden damit als Kriegshandlungen definiert, die allerdings nicht von einem Staat ausgingen, sondern von einer terroristischen Organisation,[9] deren Sitz in Afghanistan lokalisiert wurde. Auch wenn sich die NATO in diesem Falle auf Art. 5 des Vertrages berief, erfolgten die militärischen Maßnahmen doch weit out of area, wären also vom NATO-Vertrag vor dessen Uminterpretation im Jahre 1999 nicht möglich gewesen. Ins Leben gerufen wurden auf dieser Grundlage auch die Operationen Enduring Freedon und Active Endeavour, die sowohl den Terrorismus in Afghanistan bekämpfen sollen wie auch – unter der Begründung der Terrorbekämpfung – die Kontrolle der Seewege am Horn von Afrika und im Mittelmeer umfassen.[10] Das Argument der Terrorismusbekämpfung dient schließlich dem Griff der USA nach Afrika,[11] wo diese in Konflikt mit angestammten kolonialen Interessen vor allem Frankreichs geraten.
In den Kontext des Vorantreibens der NATO-Grenzen nach Osten gehört auch die von den USA betriebene Politik der Aufnahme der Ukraine und Georgiens in das Bündnis. Nicht nur im Baltikum, sondern auf breiter Front würde die NATO so direkt an die russischen Grenzen heranrücken. Nirgendwo zeigten sich in jüngster Zeit die Interessendivergenzen zwischen den Westeuropäern und den USA deutlicher als im Konflikt um Georgien und im Gasstreit mit der Ukraine. Um die Situation im Kaukasus zu verstehen, ist es wichtig, dass schon 1992, spätestens aber 2001 der UN-Sicherheitsrat Russland als Ordnungskraft im Kaukasus mandatierte, mit der Einrichtung von UNOMIG vor allem russische Einheiten als Friedenstruppen für Abchasien und Südossetien beauftragte.[12] Trotz europäischen Widerstands (außer den baltischen Staaten und Polen) machen die USA massiven Druck, um die Mitgliedschaft Georgiens (und der Ukraine) in der NATO durchzusetzen,[13] und der NATO-Generalsekretär erklärte – ohne vorige Konsultationen mit den Vertragspartnern – öffentlich, das Tor zur NATO stehe den Georgiern „weit offen“.[14] Ungeachtet der Gefahren für das Verhältnis zu Russland und der Zurückhaltung der EU, die in der Entschärfung der Krise nach dem georgischen Überfall auf Südossetien eine durchaus konstruktive Rolle spielte, bekräftigt die NATO ihre konfrontative Politik, indem sie im Mai 2009 gemeinsam mit Georgien ein Manöver durchführen wird.[15] Im Rückblick auf den Konflikt im August 2008 kann man es beinahe als Glücksfall ansehen, dass Georgien seine Militäraktion begann, bevor dieses Land Mitglied der NATO war. Die massive russische Reaktion dürfte sich gleichfalls aus dieser Konstellation erklären.
Erhebliche Interessendivergenzen zeigten sich auch im - völkerrechtswidrigen – Krieg der USA und ihrer coalition of the willing gegen den Irak (März 2003), als die Achse Berlin-Paris sich weigerte, den USA Gefolgschaft zu leisten. Dass es weniger um regime change und den Import von Demokratie ging, als um die Kontrolle des Öls zeigen spätestens die Verträge, die die USA dem Land aufgezwungen haben.[16] Sie heben nicht nur die Kontrolle des irakischen Staates über Förderung und Export irakischen Erdöls auf, sondern sind zugleich ein entscheidender Schlag gegen die OPEC: Der Wille zur (Wieder-)Herstellung „freier“ Marktverhältnisse ist unübersehbar.
Die z. T. hysterisch geführte Debatte um den Bau „der Bombe“ in Iran verschleiert zentrale strategische und ökonomische Interessen: Iran ist das einzige Land, das sich der Kontrolle durch die USA entzieht und somit eine Lücke im Greater Middle East bildet. Iran ist – mit Russland, Qatar, Algerien und Venezuela - Betreiber einer in Bildung begriffenen Gas-OPEC, die in Analogie zur Organisation der Erdöl exportierenden Staaten einen Zusammenschluss der Erdgasproduzenten aufzubauen versuchen. In einer gemeinsamen Verlautbarung erklärten die US-amerikanischen Nachrichtendienste am 3. Dez. 2007, dass Iran sein militärisches Nuklearprogramm 2003 eingestellt habe.[17] In der Frage des Umgangs mit Iran zeigten sich massive Interessendifferenzen zwischen der Bush-Regierung und den Europäern. Wie dieser Konflikt sich unter dem neuen US-Präsidenten und mit der rechtslastig-aggressiven israelischen Regierung entwickeln wird, muss hier noch offen bleiben.
Die Bedeutung Afghanistans ist geostrategisch zentral: Es grenzt an Russland, China, Pakistan und an die öl- und gasreichen Länder des Kaspischen Beckens.[18] Der schon vor 9/11 geplante Bau einer Pipeline über Pakistan in den Indischen Ozean würde Russland die Gebühren aus dem Öltransport entziehen und zugleich seinen politischen Einfluss in der Region schwächen. Genau dies mag der Grund sein, weshalb Russland eng mit dem Krieg der NATO in Afghanistan kooperiert, Durchgangs- und Überflugrechte gewährt: Nur so kann es einen Teil seines Einflusses in der Region aufrecht erhalten. Die offene Frage für die am NATO-Einsatz beteiligten EU-Staaten bleibt, wie lange die Bevölkerung dieser Staaten die Folgen dieses nicht gewinnbaren Krieges zu tragen bereit ist.[19] Das Scheitern des Krieges in Afghanistan wäre in der Tat das existenzielle Versagen der „neuen NATO“: Ihr Anspruch, als weltweite Ordnungsmacht erfolgreich zu agieren, würde – nach dem mehr als diskutablen „Erfolg“ in Jugoslawien – von einer archaischen Stammesgesellschaft und mit Hilfe der Friedensbewegungen im „alten“ Europa zunichte gemacht. Dieser groteske Zusammenhang erklärt, weshalb das Bündnis in Sachen Afghanistan schon geradezu nach Beschwörungsformeln greift, um eine offenbar bröckelnde Solidarität zusammen zu halten.[20]
4. Ausblick
So erscheint die Zukunft ungewiss: Nicht nur ist keineswegs absehbar, welche Auswirkungen die immer massiver auf die Realwirtschaft durchschlagende weltweite Finanzkrise haben wird, nicht absehbar ist auch, inwieweit diese die hegemoniale Stellung der USA – und damit der NATO – beschädigen wird. Unabsehbar ist auch, welche Folgen sie für die EU und ihre Wirtschaftsmacht haben wird. Unabsehbar ist ferner, welches ihre Folgen für die Schwellenländer letztlich sein werden. Unabsehbar und im Westen viel zu wenig beachtet sind die Perspektiven, die sich aus dem Eintritt der neuen Großmacht China und der Shanghai-Organisation für Zusammenarbeit in die Weltpolitik ergeben werden; klar scheint nur, dass die Welt des 21. Jahrhunderts definitiv multipolar wird.
Da nimmt sich die Rolle der NATO zunehmend anachronistisch aus: Die Politik der USA, und in ihrem Gefolge die der NATO ist nach wie vor darauf gerichtet, die Kohlenwasserstoffreserven dieser Welt zu kontrollieren und, vielleicht mehr noch, die inzwischen transkontinentalen Netze der Pipelines nicht nur in Europa, sondern auch im euro-asiatischen Raum und die immer wichtiger werdenden Routen für Öl- und Gastanker zu kontrollieren. Es ist diese Kontrolle, die die Europäer nach wie vor dazu zwingt, sich den US-Interessen unterzuordnen und nach dem Motto zu agieren „nur wer mitschießt, darf mitreden“. Reicht aber das Schießen nicht mehr aus – siehe Afghanistan – wird man verhandeln müssen. Und genau hier divergieren die Interessen: Die EU scheint – zumindest in ihrer großen Mehrheit – zu begreifen, dass Verhandlungen und Kooperation nicht nur mit Russland, sondern auch mit den übrigen Energieproduzenten wie Iran, den Golfstaaten, den Staaten Nordafrikas und Schwarzafrikas für die rd. vierzig Jahre aussichtsreicher und sinnvoller sind, um „Energiesicherheit“ zu erreichen, als Militär und kostspielige Kriege.
Eine EU ohne den „Schirm“ der NATO mag ungewohnt und deshalb utopisch klingen. In der gegenwärtigen Situation stellt sich jedoch die Frage, ob die NATO nicht längst ihre raison d’être verloren hat: Die Kombination aus alter Strategie mit dem angemaßten Willen zu weltweitem militärischem Interventionismus beschwört ein Sicherheitsproblem herauf und reproduziert die Spaltung Europas. Die konstruktive Alternative wäre, dass die EU – unter Einschluss der europäischen Nicht-EU-Mitglieder - eine kooperative, vertrauensbildende Politik auf der Grundlage gegenseitiger Interessen entwickelt. In einer solchen Situation könnte und müsste die EU auf ihre militärische Aufholjagd gegenüber den USA verzichten - nicht um aus ihren militärischen Defiziten eine pazifistische Tugend zu machen, sondern um als soft power jene Politik zu betreiben, die nun sogar Schmidt et al. einfordern, [21] ganz einfach weil „kein globales Problem durch Konfrontation oder durch den Einsatz militärischer Macht zu lösen ist“[22] und weil, wie der Neo-Realist Stanley Hoffmann schon 2002 schrieb,[23] eine zivilmächtige EU auch das Potenzial entfalten könnte, die US-Außenpolitik zu zivilisieren. Diese Chance könnte sich aus selbstbewusster Kooperation mit dem neuen US-Präsidenten Obama ergeben.
Der erste, richtige und wichtige Schritt in diese Richtung wäre die Auflösung der NATO. Der einfachste Weg dazu ist der Austritt, denn laut NATO-Vertrag kann jedes Mitglied diesen erklären. Binnen Jahresfrist wird er wirksam. Die Auflösung des Militärbündnisses entspräche genau der Erkenntnis des Philosophen der Aufklärung Immanuel Kant, der in seinem Traktat „Zum Ewigen Frieden“ die simple Erkenntnis formulierte, dass allein die Bereitschaft, zum Kriege gerüstet zu sein, den Automatismus der Rüstungsspirale und damit den Krieg als Mittel der Politik permanent reproduziert. Proliferation, das zeigen die Beispiele Nord-Korea, Indien, Pakistan, Israel und möglicherweise Iran, kann nicht durch atomare Bedrohung beendet werden, sondern nur durch ein verlässliches internationales Regime, das allen Staaten ihre Sicherheit gewährleistet, also schlicht durch Kooperation – genau wie es in der (nicht zufällig) 1944/45 geschaffenen Charta der Vereinten Nationen und dem dort verankerten absoluten Gewaltverzicht vorgesehen ist. Solche Politik impliziert allerdings, dass die offiziellen Atommächte, die ja allesamt Mitglieder des UN-Sicherheitrats sind, endlich den Art. VI des Atomwaffensperrvertrags umsetzen und selbst atomare Abrüstung betreiben.
Dass unsere (deutschen) elder statesmen dies erst in Anlehnung an ähnliche Erkenntnisse früherer Kalter Krieger wie Sam Nunn, George Shultz, William Perry und Henry Kissinger[24] begriffen haben, anstatt solche Überlegungen zur Maxime der Politik während ihrer Amtszeiten zu machen, sollte kein Hinderungsgrund sein, um endlich diese elementaren Wahrheiten in reale Politik umzusetzen. Kooperation statt Konfrontation ist die einzige rationale Alternative zur Neuauflage einer Politik der Arroganz und der Erpressung, konkretisiert in der Androhung wechselseitiger totaler Vernichtung.
[1] Dies beweist der Aufbau der NATO-Geheimarmee „Gladio“, auf den hier nicht näher eingegangen werden kann. Eine gründliche Recherche zu diesem Thema kann auf rd. 573.000 Einträge bei google zurückgreifen!
[2] Vgl. Cremer, Uli: Neue NATO – neue Kriege? Hamburg 1998, S. 56.
[3] Das Londoner IISS widmete diesem Folgeproblem der industrialisierten Ausbeutung des Globus eine umfangreiche Untersuchung: Dupont, Alan: Climate Catastrophe? The Strategic Implications of Climate Change; in: Survival, June-July 2008, S. 29-54.
[4] Ruf, Werner: Europa auf dem Weg zur konstitutionellen Militärmacht? In: Gießmann, Hans J./Tudyka, Kurt P. (Hrsg.): Dem Frieden dienen. Zum Gedenken and Prof. Dr. Dr. Dieter S. Lutz, Baden-Baden 2004, S. 66 – 81.
[5] S. dazu Berndt, Michael: Die „neue Europäische Sicherheitsarchitektur“, Sicherheit in, für und vor Europa?, Wiesbaden 2007, insbesondere S. 110 – 112.
[6] Art. 5 regelt den Bündnisfall der kollektiven Verteidigung und die Beistandspflicht der Bündnispartner. Allerdings verpflichtet er keine Partei zu militärischen Leistungen, sondern stellt fest, „dass … jede von ihnen … Beistand leistet, indem jede von ihnen unverzüglich für sich und im Zusammenwirken mit den anderen Parteien die Maßnahmen, einschließlich der Anwendung von Waffengewalt, trifft, die sie für erforderlich erachtet …“.
[7] http://www.nato.int/docu/pr/1999/p99-065d.htm [05-01-09].
[8] Cremer, Uli. Neue NATO: Die ersten Kriege. Hamburg 2009, S. 12.
[9] Anzumerken ist, dass sich Bin Laden in seinen auf die Anschläge folgenden Video-Botschaften nie als Urheber der Anschläge bezeichnete.
[10] Marischka, Christoph: Weltherrschaft durch die Kontrolle von Strömen. IMI-Analyse 2009/001; http://www.imi-online.de/fpdf/index.php?id=1872 [20-01-09].
[11] Africom – Ressourcen statt Freiheit. Der Sprung der USA nach Afrika. In: Utopie kreativ Nr. 216, Okt. 2008, S. 883 – 892.
[12] S/RES/1339 (2001).
[13] Süddeutsche Zeitung 10. Okt. 2008.
[14] FAZ, 22. Okt. 2008.
[15] FAT 17. April 2009.
[16] http://www.motherjones.com/washington_dispatch/2007/03/iraqi_oil_agreement.html [19-01-09].
[17] http://www.guardian.co.uk/world/2007/dec/04/politics.topstories3 [19-01-09].
[18] Vgl. Strutynski, Peter: 60 Jahre NATO. In: Friedensjournal Nr. 1/2009, S. 9f.
[19] Zu den düsteren
Aussichten s. Afghanistan:State and Society,Great Power Politics,
and the Way ahead. Rand Corporation 2007, sowie Filkins, Dexter:
Bribes: corrode Afghans’ Trust in Government. New Times
01-01-2008,
http://www.nytimes.com/2009/01/02/world/asia/
02kabul.html?_r=2&th&emc=th
[20] Ruf, Werner: Geopolitik und Ressourcen: Der Griff er USA nach Afrika. In: ÖSFK/Thomas Roithner (Hrsg.): Von kalten Energiestrategien zu heißen Rohstoffkriegen? Berlin-Wien 2008, S. 160–174. Vgl. auch die Beiträge von Elmar Altvater und Andreas Zumach im selben Band.
[21] S. das Plädoyer der elder statesmen Helmut Schmidt, Richard von Weizsäcker, Egon Bahr, Hans-Dietrich Genscher für eine kooperative Weltordnung, In vollem Wortlaut in: FAZ, 9. Januar 2009, FAZ, S. 7.
[22] Ebenda.
[23] Hoffmann, Stanley: Clash of Globalizations; in: Foreign Affairs, Juli/August 2002.
[24] http://www.uni-kassel.de/fb5/frieden/themen/Atomwaffen/us-aufruf.html [10-01-09]. Der Aufruf erschien ursprünglich am 4. Jan. 2007 im konservativen Wall Street Journal.