Die Jubelfeiern zum 60. Jahrestag des Grundgesetzes laufen auf vollen Touren. Durchgängiger Tenor: Schaut her, eine deutsche Erfolgsgeschichte. Besonders ausgeprägt war diese Tendenz in der Debatte des Deutschen Bundestages am 14. Mai 2009. Das Preisen der deutschen „Wiedervereinigung“ durch eine „friedliche Revolution“, der Erfolge bei der Gleichberechtigung der Frau, der Institution des Bundesverfassungsgerichtes etc. wollte kein Ende nehmen. Etwas kritischere Töne waren selten. Daß z. B. die Abschaffung des §175 StGB, heute als Ausdruck einer aufgeklärten und toleranten Gesellschaft gepriesen, lange Jahre umkämpft war und erst spät (1969 bzw. 1973) erreicht werden konnte, wurde mehr am Rande und fast verschämt erwähnt.[1] Gemessen an diesen Lobgesängen fällt die folgende Bilanz nüchterner aus.
Die Situation am 8. Mai 1945
Spätestens auf der Konferenz in Casablanca im Januar 1943 waren sich die politisch Verantwortlichen in den USA und England klar geworden, daß eine Lösung, wie sie 1919 der Versailler Vertrag für Deutschland vorsah, nicht in Frage käme und daher von Deutschland die bedingungslose Kapitulation zu fordern sei.[2] Die UdSSR schloß sich dieser Sicht bald an. Als Anfang 1943 die genozidale Komponente der NS-Politik vollends deutlich wurde, wurden alle bisherigen Überlegungen eines möglichen Waffenstillstandes oder gar Friedensvertrages mit einer deutschen Regierung, sei es auch ohne Hitler, von den Alliierten ad acta gelegt.
Die sich aus diesem Sachverhalt ergebenden völkerrechtlichen Folgen hatte der in die USA emigrierte österreichische Völkerrechtler Hans Kelsen, der zu dieser Zeit wie viele deutsche Emigranten für die US-Administration arbeitete, schon 1943 klarsichtig entwickelt, dann 1945 präzisiert.[3] Nicht nur die militärische, sondern die gesamte staatliche Organisation auf deutschem Territorium müßte durch debellatio vernichtet werden. Damit würde die bisherige Regierung (government) insgesamt, das soziologische Fundament für die völkerrechtliche Souveränität des Deutschen Reiches, untergehen. Zur Umgestaltung der Administrationsreste im Kontext des Neuaufbaues einer neuen deutschen Regierung (government) – eine annektierende Aufteilung hatte man aus vielerlei Gründen ausgeschlossen – reiche eine zeitweilige Besetzung (occupatio bellica mit den Einschränkungen der Haager Konventionen) nicht aus. Daher müßten die Alliierten der Antihitlerkoalition ein Condominium errichten, das aus eigener Autorität regiere.
Zwar mögen im Zuge der Umsetzung dieser Vorstellungen der Alliierten in Deutschland, das immer mehr in Schutt und Asche zerfiel, hier und dort Illusionen über einen immer noch möglichen Waffenstillstand oder gar einen Friedensvertrag mit einer deutschen Regierung aufgekeimt sein. Aber diese verflogen schnell. Die bedingungslose Kapitulation in Reims bzw. Karlshorst am 7./9. Mai und bald folgend die Berliner Erklärung vom 5. Juni 1945 beseitigten die letzten Zweifel über die Absichten der Alliierten.
Kalter Krieg und Restauration
Bei deutschen Juristen, die unmittelbar nach Kriegsschluß in den Administrationen der Besatzungsmächte arbeiteten oder in den wiedereröffneten Universitäten forschten und lehrten, stießen die von Kelsen und anderen vertretenen Thesen zunächst kaum auf Widerspruch. Im Gegenteil, sie wurden von der Mehrheit, wozu Vertreter wie Wolfgang Abendroth, damals in der SBZ lebend, oder Hans Nawiasky in der amerikanischen Zone gehörten, wenn auch in unterschiedlichen Nuancen geteilt.[4] Mit dem Heraufkommen des Kalten Krieges und den wachsenden Schwierigkeiten zwischen den Alliierten der Antihitlerkoalition, und dann endgültig mit der Gründung der Bundesrepublik im Jahre 1949 drehte sich der Wind. Das kann und muß hier nicht im Einzelnen skizziert werden. Nur so viel: Bewußt oder unbewußt anknüpfend an ein Gedankengebäude, das schon in der untergehenden Naziadministration entwickelt worden war, sprach man jetzt von der Fortexistenz des Deutschen Reiches. Gegen Kelsens Ansicht opponierend wurde behauptet, es habe lediglich eine kriegerischen Besetzung (occupatio bellica) stattgefunden. Die Siegermächte hätten eine Annexion ausdrücklich abgelehnt. Die Kapitulation sei ein rein militärischer Akt im Kontext des bestehenden Kriegsrechts. Letzteres war der springende Punkt. Das Haager Recht beschränkte nämlich die Kompetenzen des siegenden Besatzers. Gebietsabtretungen z. B. waren ihm nicht gestattet. Das könne erst in einem, wenn auch diktierten Friedensvertrag mit dem Besiegten geschehen. Das war der Kern der Fortbestandsthese, die in verschiedenen Varianten, je nach der politischen Lage, das Credo der alten und neuen Bundesrepublik bis in unsere Tage werden sollte.[5] So glaubte man nicht nur die völkerrechtliche Legalität der Verfolgung der deutschen Kriegsverbrecher in Nürnberg madig machen, sondern auch die im Potsdamer Abkommen vorgesehene Überlassung ehemals deutschen Territoriums an Polen oder die CSR angreifen zu können.[6]
In Potsdam hatten die Alliierten beschlossen, auf dem Restterritorium des ehemaligen Deutschen Reiches einen neuen einheitlichen deutschen Staat zu errichten. Die in den vier Zonen geschaffenen Länder mit eigenen Verfassungen sollten Vorformen dieses neuen Staates sein. Wegen der zunehmenden Spannungen zwischen den Westalliierten und der Sowjetunion kam es jedoch hierzu nicht. Stattdessen entstanden unter der Kuratel der Westmächte in den Westzonen und unter der der Sowjetunion in der sowjetisch besetzten Zone zwei neue getrennte staatliche Gebilde, die schrittweise souverän wurden.
Der Weg zur Spaltung
Den ersten Schritt zur Abkehr von den Plänen, ein einheitliches Deutschland aus den vier Besatzungszonen zu gestalten, vollzogen die „Westmächte“ mit der Gründung der Bundesrepublik („Spaltung“), beschlossen auf der Londoner Außenministerkonferenz (Westmächte und Beneluxländern) Anfang 1948. Daraufhin kam auf „Weisung“ (Frankfurter Dokumente) der drei westalliierten Militärgouverneure der Parlamentarische Rat zusammen, ein von den Landtagen der Länder im August 1948 gewähltes Gremium, um eine Verfassung für die Westzonen zu erarbeiten. Er beschloß am 8. Mai 1949 das Bonner Grundgesetz auf der Grundlage eines Entwurfes, den Experten, beauftragt von den elf Ministerpräsidenten der Länder (Herrenchiemseer Konvent), zuvor erstellt hatten. Nach Genehmigung durch die drei westlichen Besatzungsmächte und Annahme durch die Länderparlamente (zehn Länder, Bayern war dagegen) – eine Volksabstimmung wurde wegen des Provisoriumscharakter von den Ministerpräsidenten der Länder abgelehnt –, wurde es am 23. Mai 1949 verkündet.
Es ist wichtig, sich dieses hier skizzierten historischen Kontextes zu vergewissern, in dem das Grundgesetz entstand. Einerseits war der kollektive Schock der faschistischen Unrechtserfahrung weiterhin lebendig. Aus ihm war die Antihitlerkoalition entstanden. Ihre einschneidenden Maßnahmen in Bezug auf Deutschland sind in diesem Kontext zu verstehen. Andererseits wuchs sich das Zerwürfnis zwischen den Westmächten und der Sowjetunion immer mehr zum Ost-West-Konflikt aus, was restaurative Kräfte Morgenluft wittern ließ. Der antifaschistische Impetus überwiegt jedoch. Er ist auf Schritt und Tritt in dem Bemühen der Väter und Mütter des GG zu spüren, alles zu vermeiden, was ihrer Ansicht nach zum Versagen von Weimar geführt hat. Viel genannt wird der schwache Bundespräsidenten im Kontrast zum starken Bundeskanzler oder der Horror vor Volksabstimmungen. Trotz aller Differenzen in der ehemaligen Antihitlerkoalition – in einem blieb man sich einig: Deutschland sollte auf absehbare Zeit keine dominante Rolle in Europa spielen. In der prominenten Ausbildung des föderalen Systems mit starken Länderkompetenzen (Finanzhoheit, keine Bundespolizei etc.) ist der westalliierte Eingriff am deutlichsten zu spüren. Diese im rechtsgeschichtlichen Diskurs relativ ausführlich behandelten Komplexe sollen im Folgenden ausgespart bleiben.[7] Die Ausführungen beschränken sich vielmehr auf vier Fragestellungen:
- das Verhältnis zwischen den beiden deutschen Staaten
- die starke Stellung des Bundesverfassungsgerichtes
- Frage der Option für eine bestimmte Wirtschaftsordnung
- und der Stellenwert des Friedensgebotes.
Vom Antifaschismus zum Antitotalitarismus
(„Erzfeind“ DDR)
Nach der Gründung der Bundesrepublik durch die Westalliierten folgte diejenige der DDR durch die Sowjets im Oktober 1949, und zwar ebenfalls mit einer eigenen Verfassung. Auch sie wurde zunächst als Provisorium begriffen.[8] Die DDR gab jedoch spätestens seit 1968 (neue Verfassung, revidiert 1978) den Anspruch auf, Gesamtdeutschland zu vertreten. Sie versuchte vielmehr, international Anerkennung als eigener souveräner Staat zu finden. Die offizielle Politik der BRD, die nach wie vor auf dem Alleinvertretungsanspruch für ganz Deutschland beharrte, setzte alle diplomatischen Mittel ein, eine internationale Anerkennung zu verhindern (Hallsteindoktrin[9]). Wie der Grundlagenvertrag und die Ostverträge von 1972 deutlich machen, scheiterte diese Politik spätestens zu diesem Zeitpunkt. Obwohl das Bundesverfassungsgericht die Forderung nach Wiedervereinigung, wie sie das (alte) GG aufstellte, ausdrücklich in mehreren Urteilen als rechtlich verbindliches Verfassungsgebot interpretierte,[10] erstarrte die Wiedervereinigungsforderung Ende der 80er Jahre immer mehr zur reinen Propagandaformel.[11] Der Zusammenbruch des „realen Sozialismus“ schuf allerdings eine neue internationale Situation. Hierauf ist zurückzukommen.
Die Länderverfassungen, die nach 1945 entstanden, waren größtenteils von Juristen formuliert, die im Widerstand gegen das Naziregime gestanden hatten oder aus der Emigration zurückgekehrt waren. Ihre Verfassungskonzeption war daher von antifaschistischem Geist geprägt. Das galt zwar auch noch für das Grundgesetz. Aber der Abstand von vier Jahren und der heraufkommende Kalte Krieg hatten diesen Impetus stark relativiert. Er war inzwischen von so genanntem antitotalitärem Denken überlagert, das sich nur scheinbar sowohl gegen die Nazi- wie gegen die „rote“ Diktatur richtete. In erster Linie zielte es auf alles Kommunistische oder als kommunistisch bzw. sozialistisch Gedachte. Konsequent in dieser Stoßrichtung wurde 1952 zuerst die neonazistische SRP,[12] dann die KPD 1956[13] zum Schutz der „freiheitlich-demokratischen Grundordnung“ vom Bundesverfassungsgericht verboten.
Spiegelbildlich vollzog sich ein vergleichbarer Prozess in der DDR zum Schutz der antifaschistisch-demokratischen, später der sozialistischen Ordnung, wie man dort sagte.[14] Mit der eigenen Verfassungsordnung wurde ebenfalls mehr als großzügig umgegangen. Auf welch tönernen Füßen diese Ordnung stand, zeigt das Eingreifen der sowjetischen Besatzungsmacht am 17. Juni 1953. Während an dieses Datum zu Recht heute erinnert wird, ist aber weitgehend vergessen, dass in der Bundesrepublik in der Zeit von 1951 bis 1968 staatsanwaltschaftliche Ermittlungsverfahren gegen 200.000 Personen mit über 10.000 Verurteilungen durchgeführt wurden, die teils zu mehrmonatigen oder mehrjährigen Haftstrafen führten. Allein nach dem Verbot der KPD 1956 sind jährlich bis zu 14.000 staatsanwaltschaftliche Ermittlungsverfahren anhängig gewesen, in denen bis zu 500 Kommunisten und Sympathisanten verurteilt wurden.[15] Nach Haftverbüßung folgten Einschränkungen der staatsbürgerlichen Rechte, entwürdigende Polizeiaufsicht, Pass- und Führerscheinentzug. Auch Berufsverbote waren die Folge, was bis heute Auswirkungen auf die Rentenhöhe der betroffenen Personen hat. Ein Gesetzgebungsantrag der Linksfraktion, dies zu ändern, ist bislang in den Ausschüssen hängen geblieben.[16]
Während man also Kommunisten und solche, die man dafür hielt und die großenteils im NS-Widerstand gestanden und gelitten hatten, strafrechtlich verfolgte, befanden sich in allen Etagen der Ämterhierarchie ehemalige Nazis, z. T. mit hohen Kompetenzen während dieser Zeit.[17] Das galt besonders für die Justiz.[18] Die strafrechtliche Verfolgung wegen schwerer Naziverbrechen erfolgte meist nur auf Drängen der Alliierten oder durch engagierten Einsatz von zurückgekehrten Emigranten, so der Auschwitzprozeß 1963-1965 durch den hessischen Generalstaatsanwalt Fritz Bauer. Er wurde deshalb in der Öffentlichkeit bisweilen sehr angefeindet.[19] Andere Verfahren wurden verschleppt, bis sie wegen Verjährung eingestellt werden mußten.[20] Lediglich einige Verfahren wurden durchgeführt, nachdem in erbitterten politischen Auseinandersetzungen 1979 die Verjährung wegen Mordes aufgehoben worden war. Langsam war ein Mentalitätswandel eingetreten. Die internationale Entspannung und die so genannte 68er-Bewegung taten ihre Wirkung. Da hatte sich jedoch das Problem der strafrechtlichen Verfolgung von Naziverbrechen weitgehend biologisch erledigt.
Die Perhorreszierung alles Kommunistischen und Sozialistischen in der Kalte-Kriegsstimmung der Adenauerära ist noch unter einem anderen Gesichtspunkt eine Abkehr von der ursprünglichen Konzeption des Grundgesetzes. Unmittelbar nach 1945 bezweifelte niemand, daß die Weltwirtschaftskrise von 1929 ein, wenn nicht sogar der wichtigste Faktor für das Heraufkommen des NS war. Deshalb sollten auch Vorkehrungen für die Wirtschaftsordnung getroffen werden, die eine solche Wiederholung verhinderten. Einen ungezügelten Kapitalismus lehnten alle politischen Strömungen ab. Selbst in den USA war die Richtung des New Deal unbestritten. Die Vorstellungen reichten von sozialistischer Planwirtschaft, allerdings verbunden mit Demokratisierung des Produktionssektors (Mitbestimmung etc.) bis zur sozialen Marktwirtschaft, bei der zumindest die Schlüsselindustrien starker öffentlicher Kontrolle unterliegen sollten. In den ersten Landesverfassungen war deren Überführung in Gemeinwirtschaft normiert, z.B. in Hessen und Nordrhein-Westfalen.[21] Das Grundgesetz ging nicht mehr so weit: In Art. 15 stellt es allgemein ins Ermessen des Gesetzgebers, die Schlüsselindustrien in Gemeineigentum zu überführen. Das private Eigentum wird zudem einer Gemeinwohlbindung unterstellt (Art. 14 Abs. 2 GG). Wegen der politischen Mehrheitsverhältnisse hatten diese Bestimmungen bisher jedenfalls – denn seit der aktuellen Wirtschaftskrise sieht manches anders aus – keine reale Bedeutung. Ihre eigentlich normative Wirkung bestand jedoch darin, zum einen die Frage der Wirtschaftsordnung im Grundgesetz „offen“ zu halten, man spricht unspezifisch von der wirtschaftspolitischen Neutralität des GG, zum anderen aber fundamentale Änderungsbestrebungen bis hin zu sozialistischen bzw. kommunistische Vorstellungen vor „Illegalisierung“ zu schützen. Das Bundesverfassungsgericht mußte in dem schon erwähnten KPD-Urteil von 1956 einen großen Formulierungsaufwand betreiben, um diesem normativen Zwang auszuweichen. Erleichtert wurde diese Umgehung durch den Umstand, dass es im Grundgesetz nicht mehr zu sozialen Grundrechten (Grundrecht auf Arbeit, auf Sozialversicherung etc.) gekommen war, wie noch zuvor in den Landesverfassungen. Denn dies hätte zwar ebenfalls zu keiner weiteren Einschränkung des privaten Eigentums wegen der realen Machtverhältnisse geführt, aber den Legitimationsdruck für Repressionen von sozialistischen bzw. kommunistischen Bestrebungen erhöht. Interessant ist in diesem Zusammenhang noch folgender Aspekt. Die FDP, als Repräsentant derjenigen Kräfte, denen die angedeutete wirtschaftspolitische Offenheit (Neutralität des GG) ein Dorn im Auge war und ist, unternahm im Laufe der Jahre mehrere Anläufe im Bundestag, durch eine Verfassungsänderung den Art. 15 GG aus dem GG zu beseitigen. Er sei obsolet geworden, war die Begründung, so noch im Jahre 2007. Der Antrag wurde stets von allen anderen Fraktionen abgelehnt.[22] Die Normativität der genannten Artikel ist also unberührt geblieben.
Die DDR ein „Unrechtsstaat“?
Die Inkorporation der DDR 1990/1991 in die fortbestehende Bundesrepublik führte zur Ausdehnung des Geltungsbereiches des Grundgesetzes von 1949 auf das Gebiet der ehemaligen DDR. Als Staat war diese völkerrechtlich durch die Inkorporation untergegangen. Im 2plus4-Vertrag von 1990 hatte sich das dergestalt vereinte Deutschland, die BRD, verpflichtet, alle revisionistischen Ansprüche, die über die Inkorporation des Territoriums der DDR hinausgingen und die aus der bislang offiziell vertretenen „Fortbestandsthese des Deutschen Reiches“ (Präambel, Art. 23 Abs. 1, Art. 146) folgen konnten, wie die Wiederherstellung der Oder-Neiße-Linie z.B., aufzugeben.[23]
Es ist im öffentlichen Diskurs üblich, vom „Unrechtssystem“ oder „Unrechtsstaat“ der ehemaligen DDR zu sprechen.[24] Die Assoziation mit dem „Unrechtssystem“ Nazi-Deutschlands ist gewollt.[25] Der Einigungsvertrag von 1990 gebraucht in Art. 17 im Zusammenhang mit der Rehabilitierung von „Opfern einer politisch motivierten Strafverfolgungsmaßnahme“ den Begriff „Opfer des SED-Unrechts-Regimes“. Er knüpft damit selbst an die übliche Nomenklatur für das NS-Unrechtsregime im bundesrepublikanischen Straf- und Entschädigungsrecht an und legt die erwähnte Gleichsetzung nahe. Damit werden in der Tradition der Bonner Republik sozusagen zwei Fliegen mit einer Klappe erledigt: Damals sollte die „Delegitimierung“ der DDR die bundesrepublikanische Politik der „Entsorgung“ der NS-Vergangenheit verdecken. Heute dient dasselbe Muster für die untergegangene DDR der „veröffentlichten Meinung“ dazu, das vereinte Deutschland als das Muster für „Aufklärung und Vergangenheitsbewältigung“ zu präsentieren.[26]
Die offizielle Doktrin der Bonner Republik vom „Forbestand des Deutschen Reiches“ hatte in Bezug auf die DDR die rechtliche Folge, dass diese nicht als Ausland sondern als Inland betrachtet wurde. DDR-Bürger waren deutsche, also bundesrepublikanische Staatsangehörige, die nach unserem Strafrecht sanktioniert werden konnten, sobald sie in den deutschen, also bundesrepublikanischen Hoheitsbereich gerieten. Das galt auch für – im Sinne des DDR-Rechts – hoheitliches Handeln. Es wurde den normalen allgemein strafrechtlichen Kategorien, wie schon bei den NS-Verbrechen geschehen, unterstellt. 1961 nahm in Salzgitter eine zentrale Beweismittel- und Dokumentationsstelle der Landesjustizverwaltungen ihre Arbeit auf. Sie sammelte strafrechtlich relevantes Material für diesen Fall bzw. für den der „Wiedervereinigung“.[27] 1966 wurde ein eigenes Gesetz verabschiedet, das für bestimmte Kategorien von Besuchern aus der DDR, z. B. Volkskammerangehörige, die zu Veranstaltungen in die Bundesrepublik eingeladen waren, die Strafverfolgung zumindest zeitweise aussetzte, im DDR-Jargon „Handschellengesetz“ bezeichnet.[28] Als der damalige Staatsratsvorsitzenden der DDR Erich Honecker im Jahre 1987 zu einem Staatsbesuch in der Bundesrepublik weilte, wurde ebenfalls über eine Aussetzung einer möglichen Strafverfolgung – es ging schon um die Verantwortung für so genannte Mauerschützenfälle – gesprochen.[29] Die Diskussion hierüber ebbte aber schnell wieder ab. Trotz Grundlagenvertrag und Ostverträge von 1972 hat die bundesrepublikanische Politik unter dem Druck der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes bis zur Wende 1989/1990 diese Linie verfolgt. Dieses Verhalten war völkerrechtswidrig, denn in den erwähnten Verträgen hatte die Bundesrepublik die DDR als souveränen Staat anerkannt.[30] Die entgegenstehende Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes war durch diesen völkerrechtlichen Vertrag in der Form eines Gesetzes nach Art. 59 Abs. GG als älteres Recht derogiert. Abgerückt ist die Bundesrepublik von ihrer Praxis gegenüber der DDR aber erst im 2plus4-Vertrag. Allerdings erfolgte dieses Abrücken nur für eine juristische Sekunde, nämlich nur für die Phase des Abschlusses des Einigungsvertrages. Denn nunmehr wurden das BRD-Recht und damit auch das Strafrecht auf das inkorporierte Territorium ausgedehnt, wobei für Straftaten, die vor der Vereinigung begangen worden waren, grundsätzlich DDR-Recht gelten sollte.[31] Da die Inkorporation mit der vorher erklärten Zustimmung der Repräsentanten der untergehenden DDR (im Einigungsvertrag) erfolgte, ist diese Ausdehnung im Gegensatz zur Praxis während des Bestehens der DDR völkerrechtlich nicht zu beanstanden. Denn das Völkerrecht verbietet lediglich Annexionen, also territoriale Einverleibungen unter Anwendung militärischer Gewalt (Art. 2 Ziff. 4 UN-Charta).
Die rechtliche Umsetzung des Einigungsvertrages nach der erfolgten Inkorporation wurde nunmehr eine Angelegenheit, die „ihrem Wesen nach zur inneren Zuständigkeit“ (Art. 2 Ziff. 4 UN-Charta) des vereinten Deutschlands gehörte. Die Gleichstellung von NS- und SED-Unrecht, wie sie in der Bonner Republik im Sinne der Fortbestandsdoktrin üblich war, konnte jetzt „ungestört“ und nahtlos bei der strafrechtlichen Verfolgung von Taten, die vor der Vereinigung begangen worden waren, fortgesetzt werden. Besonders deutlich wurde dies bei der „Mauerschützen“-Rechtsprechung.[32] An sich hätte es nahe gelegen, gerade wenn man die Parallelisierung von DDR-und NS-Recht favorisierte, auf Art. 95 der DDR-Verfassung von 1968/1974 bzw. auf die strafrechtliche Umsetzung der § 91 ff. DDR-StGB abzustellen. Art. 95 DDR-Verfassung bestimmte nämlich, daß die „allgemein anerkannten Normen des Völkerrechts über die Bestrafung von Verbrechen gegen den Frieden, gegen die Menschlichkeit und von Kriegsverbrechen als unmittelbar geltendes Recht“ zu betrachten sind und daß sie nicht der Verjährung unterliegen. Einige der „Mauerschützenfälle“ wären dann als Exzesstaten wohl strafrechtlich relevant geworden.[33] Die politischen Entscheidungen jedoch, die zum Mauerbau und zur Einrichtung des Grenzregimes geführt haben, wären nur sehr schwierig zu kriminalisieren gewesen, weil sie durch das völkerrechtliche Kriterienraster gefallen wären, das auf das typische NS-Unrecht entsprechend der Nürnberger Trias ausgerichtet war. Daher judizierten die Gerichte und der Bundesgerichtshof[34] stattdessen nach allgemeinem Strafrecht und zogen die „Radbruchformel“ wie schon früher bei der Verfolgung von NS-Verbrechen heran, um einen möglichen Rechtfertigungsgrund auszuschließen. Das Bundesverfassungsgericht segnete diese Praxis ab. Es unterstrich ausdrücklich, dass „ähnliche Konfliktlagen für die Bundesrepublik bei (schon) der Beurteilung nationalsozialistischen Unrechts aufgetreten“ seien. „Ein „Rechtfertigungsgrund, der einer Durchsetzung des Verbots, die Grenzen zu überschreiten, schlechthin Vorrang vor dem Lebensrecht von Menschen gibt, sei wegen offensichtlichen, unerträglichen Verstoßes gegen elementare Gebote der Gerechtigkeit und gegen völkerrechtlich geschützte Menschrechte unwirksam.“[35] Trotz einiger salvatorischer Nebenbemerkungen blieb es also bei der in langen Jahren eingefahrenen Gleichsetzung von NS-und DDR-„Unrechtsregime“.
Völkerrechtlich war eine derartige „Aufarbeitung“ nach der Vereinigung, wie schon erwähnt, nicht zu beanstanden. Das hat auch der Europäische Menschenrechtsgerichtshof in Strasbourg bestätigt. Die „unrechtsstaatliche Gleichsetzung“ machte er allerdings in seiner Begründung nicht mit. Auf den deutschen Rechtsstaatsbegriff als Raster für die Beurteilung der DDR konnte und wollte er sich als eine Spruchinstanz auf völkerrechtlicher Ebene nicht einlassen.[36] Man hätte gehofft, die politische Klasse des vereinten Deutschlands hätte den richterlichen Wink verstanden. Aber so schnell legt man einen ideologischen Dauerbrenner nicht beiseite, der sich so bequem zu jeder Gelegenheit zünden lässt. Oder anders formuliert: Das seit dem 2plus4-Vertrag vereinte Deutschland, die Berliner Republik, verharrt weiterhin auf Bonner Niveau. Dass sie sich mit diesem Verhalten einer kritischen Reflexion ihrer eigenen Geschichte verweigert, steht auf einem anderen Blatt und kann hier nicht mehr Thema sein.[37]
Bundesverfassungsgericht: Hüter oder (heimlicher) Geber der Verfassung?
Unübersehbar, auch aus heutiger Sicht, ist der starke Schutz der Freiheitssphäre des Individuums (Grundrechte), den das Grundgesetz gegenüber staatlichen Eingriffen gewähren will. Dies war eine nahe liegende und unmittelbare Folgerung aus der fundamentalen Unrechtserfahrung des Nationalsozialismus. Die unantastbare Würde des Menschen wurde in Art. 1 GG an den Anfang gestellt und alle staatliche Gewalt verpflichtet, sie zu achten und zu schützen. Abs. 3 wiederholte nochmals ausdrücklich, daß Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung an die Grundrechte gebunden sind. „Würde“ war und ist auf diesem historischen Hintergrund ein sehr konkreter Begriff. So ist z. B. „Folter oder grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe“, so Art. 5 der allgemeinen Menschenrechtserklärung, am 10. 12. 1948, kurz vor Verkündung des GG durch die UN-VV angenommen, mit der Würde des Menschen unvereinbar. Will man heute allerdings den Stand und die Wirklichkeit der Grundrechte ausloten, so hilft die Lektüre des Grundgesetzes nicht weiter. Man muß die inzwischen auf 121 Bände angeschwollene Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes genauestens studieren.
Das im GG vorgesehene Bundesverfassungsgericht geht zurück auf historische (Paulskirche, Staatsgerichtshof von Weimar) und ausländische Vorbilder (Supreme Court der USA). Es hat jedoch, was die gesellschaftliche Wirkkraft anlangt, seine Vorbilder längst überrundet („mächtigstes Gericht der Welt“). Die Bindungswirkung seiner Entscheidungen für alle Verfassungsorgane des Bundes und der Länder sowie für Gerichte und Behörden (§ 31 Abs. 1 BVerfGG) und die Normwerfungskompetenz mit negativer Gesetzeskraft (§ 31 Abs. 2 BVerfGG) machen es funktional zum Ersatzgesetzgeber. Die Verfassungsbeschwerde, mit der jeder Bürger sich an das Gericht wenden kann mit der Behauptung, durch die Staatsgewalt in seinen Grundrechten verletzt zu werden, wobei unter Staatsgewalt auch Normen (Gesetze etc.) und Gerichtsentscheidungen fallen, verstärken diesen Effekt. Es liegt letztlich am politischen „Fingerspitzengefühl“ der Richtermehrheit (sie muß die öffentliche Toleranzschwelle antizpieren), ob sich die Institution zum heimlichen Ersatzverfassungsgeber aufschwingt oder sich eher zurückhält (judicial restraint). Zudem läuft das Bundesverfassungsgericht Gefahr, mit seiner Handhabung der Grundrechte als Wertesystem, eine Art Superrevisionsinstanz zu werden. Denn die Grundrechte als Wertesystem prägen das gesamte Rechtssystem, auch das Privatrecht. Ob diese „Machtzuwächse“ mit der dieser Institution ursprünglich zugedachten Funktion des „Hüters der Verfassung“ noch übereinstimmt, mag fraglich sein, wird aber weder in der Staatsrechtslehre noch in der übrigen Publizistik reflektiert geschweige denn kritisiert. Der Gesetzgeber mit Unterstützung der „politische Klasse“ findet es bequem, politisch nicht unmittelbar lösbare Konflikte via Verschiebebahnhof Bundesverfassungsgericht zumindest zeitweise still zu legen. Das deutsche Beispiel ist inzwischen sogar Exportschlager geworden.
Die Veränderungen in zentralen gesellschaftlichen Komplexen im Laufe der Geschichte der Bundesrepublik werden entscheidend mitgeprägt durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes. Zu nennen sind Felder wie die Gleichberechtigung der Frau – der Stichentscheid des Mannes fiel 1958. Bei der Beseitigung von Diskriminierungen wie der Strafbarkeit der Homosexualität (in der alten Bundesrepublik seit 1969 hinfällig) spielte das Gericht eher eine hemmende Rolle.[38] Bei der Ausgestaltung der öffentlichen und privaten Massenkommunikationsmittel, beim Schutz und Ausbau der Demonstrationsfreiheit bis hin zur Abwehr des allzu dreisten Zugriffs der Exekutive auf „private“ Daten ist dem Gericht ein über den Tag hinaus reichender Blick nicht abzusprechen. Bilanzierend ist festzustellen, dass die Spruchpraxis alles andere als gradlinig verlief. Die exekutive Disziplinierungs- und Repressionspraxis während der siebziger Jahre, die auf dem so genannten „Radikalenerlaß“ (Berufsverbot = Demokratieverbot) der Ministerpräsidentenkonferenz von 1972 fußte, konnte sich zunächst ungehemmt entfalten. Sie hatte zum Ziel, die Beamtenschaft insgesamt und die Hochschulen insbesondere von allzu alternativen oder fundamentaloppositionellen Tendenzen freizuhalten. Sie wurde vom Bundesverfassungsgericht zwar begrenzt,[39] aber in ihrer Demokratiefeindlichkeit kaum behindert. Daß die Praxis Ende der achtziger Jahre wieder verschwand, wenn man die kurzfristige Renaissance während des DDR-Abwicklungsgeschäftes abrechnet, ist eher auf den internationalen Druck zurückzuführen bzw. auf die erwähnte lange Geduldsstrecke zu den europäischen Gerichtsinstanzen. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat auch hier für europäisches Niveau gesorgt. [40] Die Demokratie bewahrende oder gar erweiternde Aktivität des Bundesverfassungsgerichtes seit Beginn der siebziger Jahre wie zuvor während der Adenauerära die eher reaktive und staatliche Repression absichernde Tätigkeit spiegeln den Grad der Mobilisierung der gesellschaftlichen Auseinandersetzungen (modisch ausgedrückt den Zustand der Zivilgesellschaft) wider, dem sich die Richter – und insgesamt nach wie vor wenigen Richterinnen – geschmeidig angepasst haben.
Bundesrepublik, noch ein Friedensstaat?
Ein besonderer Aspekt in der ursprünglichen Konzeption des GG und dessen tiefgehende und qualitative Veränderung im Auf und Ab der Geschichte der Bonner und der Berliner Republik soll abschließend angesprochen werden, das Friedensgebot. Daß auf keinen Fall von dem neu entstehenden Staat Bundesrepublik eine Friedensgefährdung ausgehen dürfe, war 1949 ein Credo, das niemand bezweifelte oder zu bezweifeln wagte. Das Grundgesetz justiert die gesamte staatliche Politik auf Friedenserhaltung. In der Präambel heißt es, das deutsche Volk wolle „als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt dienen“. Gemäß Art. 24 Abs. 2 GG kann sich der Bund zur Wahrung des Friedens einem System gegenseitiger kollektiver Sicherheit einordnen. Er wird hierbei in die Beschränkungen seiner Hoheitsrechte einwilligen, die eine friedliche und dauerhafte Ordnung in Europa und zwischen den Völkern der Welt herbeiführen und sichern. Art. 25 GG setzt die allgemeinen Regeln des Völkerrechts – so auch das universelle Gewaltverbot des Art. 2 Ziff. 4 UN-Charta – in vorrangiges innerstaatliches Recht um. Nach Art. 26 GG, dem normativen Kern des Friedensauftrags, sind Handlungen, die geeignet sind und in der Absicht vorgenommen werden, das friedliche Zusammenleben der Völker zu stören, insbesondere die Führung eines Angriffskrieges vorzubereiten, verfassungswidrig und unter Strafe zu stellen. Gemäß Abs. 2 dürfen zur Kriegführung bestimmte Waffen nur mit Genehmigung der Bundesregierung hergestellt, befördert und in Verkehr gebracht werden.
Die tief greifenden Verfassungsänderungen, die durch die Einfügung der Regelungen zur Bundeswehr, später der „Notstandsverfassung“ eintraten und die hier nur erwähnt werden,[41] haben die genannten normativen Festlegungen im Kern nicht ändern können. Erst die tektonischen Verschiebungen in den internationalen Beziehungen nach 1989/90, die zur erwähnten Inkorporation der DDR und einer Neujustierung des vereinten Deutschlands im europäischen Machtgefüge führten, haben eine schleichende Erosion der Verfassung in dieser Hinsicht bewirkt. Was bis zu diesem Zeitpunkt undenkbar war, sieht heute nur noch eine winzige Minderheit, wenn überhaupt, als Skandalon an, den Einsatz der Bundeswehr out of area, wie man sagt, wenn man die Überschreitung des Vertragsgebietes der NATO anspricht.[42] Eine zentrale Rolle für den Mentalitätswandel im öffentlichen Bewusstsein spielt hier wiederum das Bundesverfassungsgericht. Vor allem in seiner „out of area“-Entscheidung vom 12. 7. 1994[43] hat es eine wichtige Weichenstellung vorgenommen. Es hat die fundamentale Differenzierung der UN-Charta in Art. 51 zwischen traditionellen Verteidigungsbündnissen und kollektivem Sicherheitssystem aufgehoben, an dem sich das Grundgesetz in Art. 24 Abs. 2 orientierte. Die NATO und in folgenden Entscheidungen auch andere zwischenstaatliche Militärkollektive im Rahmen der EU oder zur Unterstützung der USA (enduring freedom) werden durch diese Interpretation auf dieselben Stufe wie die UNO bzw. die ihr unterstehenden Regionalsysteme gestellt. Dieser Paradigmenwechsel ist unter Verfassungs- und Völkerrechtlern kaum kritisiert worden,[44] vielleicht deswegen, weil der Parlamentsvorbehalt für Bundeswehreinsätze als „Trostpflaster mit Befriedungsfunktion“ (Jutta Limbach) mit der besagten Entscheidung eingeführt wurde. Bei Licht besehen handelt es sich aber um ein Linsengericht, für das die normativ gebotene Friedensstaatlichkeit des GG pervertiert, wenn nicht völlig aufgegeben wurde. Auf keinen Fall wurde die UNO gestärkt, im Gegensatz zu allen Verlautbarungen wurde ihr vielmehr ein Bärendienst erwiesen. Es sind daher Krokodilstränen, die über ihre viel beklagte und selbst gemachte Wirkungslosigkeit vergossen werden.
Fazit
Besinnt man sich auf den Ausgangspunkt dieser Ausführungen, so wird man nicht sehr glücklich mit der verfassungsrechtlichen Entwicklung bis zum heutigen Tage sein. So sehr das Bundesverfassungsgericht als Hüter und Schützer der Freiheit des Individuums zu loben sein mag – Demonstrationsrecht und Datenschutz wurden erwähnt –, im Bereich der Außen- und Verteidigungspolitik entspricht die Bilanz jedenfalls nicht den ursprünglichen Intentionen der Verfassungsgeber. Gewiß, die internationalen Beziehungen und die Stellung der Berliner Bundesrepublik in ihnen haben sich radikal geändert. Daß Deutschland sich vor seiner Verantwortung in einer globalisierten Welt nicht drücken könne, dieses viel bemühte Argument mag man akzeptieren, aber nicht, daß die Antwort militärisch sein müsse. Niemand wird ernsthaft behaupten können, daß eines der aktuellen Probleme, sei es am Hindukusch sei es am Golf von Aden[45] oder anderswo durch den Einsatz militärischer Mittel auch nur ansatzweise gelöst werde. Umgekehrt scheint es eher richtig: Je höher der militärische Einsatz, umso prekärer die Situation, und gerade für das Gut, das man schützen wollte und dessentwegen eingegriffen wurde, die Würde und Rechte des Menschen. Die ursprüngliche Antwort des Grundgesetzes, militärisch, wenn überhaupt, dann nur im kollektiven Sicherheitssystem der UNO, also gerade entgegen der Interpretation des Bundesverfassungsgerichtes zu reagieren, mag vielen heute blauäugig erscheinen. Nach 60 Jahren erscheint dem Autor zumindest diese Antwort weitaus realistischer als all die anderen, bei Licht besehen kurzschlüssigen Angebote.
[1] So MdB Herta Däubler-Gmelin, Plenarprotokoll 16/222, S. 24320 ff. Sie erinnerte auch an die lange Schonung der NS-Täter in der Adenauerära. Es wäre sicherlich erwähnenswert gewesen, dass im „Unrechtsstaat“ DDR seit 1957 die Homsexualität nicht mehr verfolgt wurde, während es in der Bundesrepublik von 1958 bis 1968 noch zu über 30.000 Verurteilungen kam. Vgl. www.juraforum.de
[2] Im Gegensatz zu der bis heute herrschenden Sicht, das „Versailler Diktat“ habe den deutschen „Lebensnerv“ zerstört und dadurch den Nazis den Weg geebnet, vgl. schon Gerhard L. Weinberg, Eine Welt in Waffen, Hamburg 2002 (engl. Originalausgabe 1994), insbes. S. 21 ff.
[3] Vgl. Hans Kelsen, The International Legal Status of Germany to Be Established Immediately upon Termination of the War, AJIL 38, 1944, S. 689 ff.
[4] Wolfgang Abendroth, Die Haftung des Reiches, Preußens, der Mark Brandenburg und der Gebietskörperschaften des öffentlichen Rechtes für Verbindlichkeiten, die vor der Kapitulation vom 8.5.1948 entstanden sind, Neue Justiz 1947, S. 73 ff.; Hans Nawiasky, Die Grundgedanken des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland, Stuttgart/Köln 1950, S. 8.
[5] Die Entwicklung der verschiedenen Ansichten ist nachgezeichnet bei Norman Paech, Finis Germaniae? Der juristische Kampf um das Deutsche Reich nach dem 8.5. 1945, in: Restauration im Recht, Jahrbuch für Sozialökonomie und Gesellschaftstheorie, Opladen 1988, S. 155 ff.
[6] Vgl. die Hinweise bei Gerhard Stuby, Nürnberg 1945/46. Die Harmlosigkeit des Gedenkens, Blätter für deutsche und internationale Politik 1/2006, S. 90 ff.
[7] Vgl. Hierzu Bernhard Diestelkamp, Verfassungsgebung unter Besatzungsherrschaft in Westdeutschland 1945-1949 Die Länderverfassungen und das Grundgesetze, in: Mohnhaupt (Hrsg.), Rechtsgeschichte in den beiden deutschen Staaten (1988-1990), Frankfurt a. M. 1991, S. 650 ff. Aus der Sicht der siebziger Jahre Udo Mayer, Gerhard Stuby (Hrsg), Die Entstehung des Grundgesetzes. Beiträge und Dokumente, Köln 1976; für die Zeit ab 1949 dies., Das lädierte Grundgesetz. Beiträge und Dokumente zur Verfassungsgeschichte 1949-1976, Köln 1977.
[8] Vgl. W. Abendroth, Zwiespältiges Verfassungsrecht in Deutschland. Die Verfassung der „Deutschen Demokratischen Republik“ im Vergleich zum Bonner Grundgesetz, in: AÖR Bd. N.F. 37. 1950/51 = 76 1950/51, S. 1- 25.
[9] Die völkerrechtliche Anerkennung der DDR und die Aufnahme diplomatischer Beziehungen durch einen Staat wurden als feindlicher Akt begriffen, der mit dem Abbruch der diplomatischen Beziehungen zu diesem Staat durch die BRD beantwortet wurde.
[10] Grundlagenurteil BVerfGE 36, 1ff.; dann folgend die Entscheidung zu den Ostverträgen BVerfGE 40, 141ff.; der sog. Teso-Beschluß BVerfGE 77, 137ff. und zuletzt die Entscheidung zu den beitrittsbedingten Änderungen BVerfGE 82, 316ff..
[11] Das wurde besonders augenscheinlich beim Staatsbesuch des Generalsekretärs der SED und DDR-Staatsratsvorsitzenden Erich Honecker im September 1987.
[12] BVerfGE 2, 1ff.
[13] BVerfGE 5, 85ff.
[14] In der Anfangszeit der DDR gab es auch eine Diskussion über den Begriff des Rechtstaates. Hierzu immer noch sehr informativ Klaus Sieveking, Die Entwicklung des sozialistischen Rechtsstaatsbegriffs in der DDR. Eine Studie zur Auseinandersetzung mit dem Rechtsstaat in der SBZ-DDR 1945 und 1968, Baden-Baden 1975.
[15] Grundlegend hierzu immer noch Alexander von Brünneck, Politische Justiz gegen Kommunisten in der Bundesrepublik Deutschland 1949-1968. Vorwort von Erhard Denninger, Frankfurt a. M. 1978.
[16] Drs 16/3934
[17] Prominentes Beispiel Dr. Hans Maria Globke, Staatssekretär im Bundeskanzleramt bis 1963 und rechte Hand Adenauers. Er gehörte u.a. zu den Verfassern und Hauptkommentatoren der Nürnberger Rassegesetze.
[18] Ein Beispiel von vielen ist Willi Geiger, Richter am Bundesverfassungsgericht bis 1977. Er wirkte u.a. an der Entscheidung zum Grundlagenurteil v. 1973 und am sog. Extremistenbeschluß von 1973 mit. In der Nazizeit war er als Landgerichtsrat am Sondergericht Bamberg tätig, wo er nachweislich an mehreren Todesurteilen beteiligt war.
[19] Hierzu jetzt eingehend und eindrucksvoll Imrtrud Wojak, Fritz Bauer 1903-1968, München 2009.
[20] Helmut Kramer, Kriegsverbrechen, deutsche Justiz und das Verjährungsproblem. Amnestie durch die legislative Hintertür, in: Wolfram Wette, Gerd R.Ueberschär (Hrsg.), Kriegsverbrechen im 20. Jahrhundert, Darmstadt 2001, S. 493 ff.; Adalbert Rückerl, NS-Verbrechen vor Gericht, Heidelberg 1982.
[21] Auch die Bremer Landesverfassung sah z. B. in Art. 43 Ziff. II c vor: „Durch Gesetz können in Gemeineigentum überführt werden: Unternehmen, die volkswirtschaftlich notwendig sind, aber nur durch laufende staatliche Kredite Subventionen oder Garantien bestehen können“. Auch die schon genannte DDR-Verfassung von 1949 sah Volks- bzw. Gemeineigentum für bestimmte Unternehmen vor, hierzu Wolfgang Abendroth, Das Grundgesetz. Eine Einführung in seine politischen Probleme, Pfullingen 1976, S. 20 ff.
[22] Gesetzesantrag FDP-Fraktion, Drs. 16/3301, abgelehnt am 15.11.2007 Plenarprotokoll 16/226, S. 131296-13131.
[23] Auf die Frage, ob damit auch die bislang vom Bundesverfassungsgericht vertretene Fortbestandstheorie hinfällig ist, kann in diesem Zusammenhang nicht eingegangen werden. Hierzu jetzt Gerhard. Stuby, Der Mythos „Wiedervereinigung“, in: Gedächtnisschrift für Helmut Ridder, erscheint demnächst.
[24] Schon der Begriff des Rechtstaates ist weit und unbestimmt, wie das Bundesverfassungsgericht immer wieder feststellt. Er hat aber immerhin „Ränder“, an denen die richterliche Interpretation Grenzen findet. Der Begriff „Unrechtsstaat“ hingegen ist „grenzenlos“, also untauglich als Rechtsbegriff. Daher ist er eher als politischer Kampfbegriff einzustufen. In der Tendenz ebenso Uwe Wesel, Fast alles, was Recht ist, Frankfurt a. M. 1991.
[25] Expliizit und in kaum mehr zu überbietender Simplifizierung, Gerd Roellecke, War die DDR ein Unrechtsstaat?, in: FAZ v. 15.06.2009, Nr. 135 , S. 29; hierzu der differenzierte Leserbrief von Klaus Sieveking, FAZ 7.7.2009.
[26] Etwas schrill zu diesen Versuchen sticht die Klage Deutschlands vor dem Internationalen Gerichtshof im Haag (IGH) ab, die die Bundesregierung im Dezember 2008 gegen Italien eingereicht hat. Die italienische Justiz habe Entschädigungsklagen italienischer Bürger wegen deutscher Kriegsverbrechen zugelassen und damit die Immunität Deutschlands verletzt. Hierzu Norman Paech, Staatenimmunität und Kriegsverbrechen, in: Archiv des Völkerrecht (AVR) 47/2009, S. 36 ff.
[27] Sauer, Heiner/Plumeyer, Hans O: Der Salzgitter-Report - Die zentrale Erfassungsstelle berichtet über Verbrechen im SED-Staat, 1991.
[28] Sie wären auf jeden Fall durch den (alten) § 90a StGB bedroht gewesen, der „Vereinigungen, deren Zwecke oder deren Tätigkeit sich gegen die verfassungsmäßige Ordnung“ gerichtet waren, kriminalisierte. Zu ihnen waren selbstverständlich die SED und mit ihr verbundene Organisationen nach der Rechtsprechung des BGH zu zählen. Zum Gesetz über „Freies Geleit“ vom 23.06.1966 vgl. „Handschellengesetz“, in: Der Spiegel 36/1966, S. 14; „Freies Geleit“ – für wen?, in: Die Zeit v. 13.05.1966.
[29] Honecker-Besuch. Schwieriger Gast, in: Der Spiegel Nr. 36 v. 31.8.1987.
[30] Vgl. hierzu Helmut Ridder, Die „deutsche Staatsangehörigkeit“ und die beiden deutschen Staaten, in: In: Gedächtnisschrift für Friedrich Klein, Hrsg. Dieter Wilke und Harald Weber, München 1977, S. 437-449.
[31] Art. 315 EGStGB in Verbindung mit § 2 StGB bestimmt, dass für die Beurteilung von Straftaten, die in der ehemaligen DDR begangen wurden, das Strafrecht der DDR anzuwenden ist, es sei denn das bundesrepublikanische Recht träfe eine mildere Regel.
[32] Insbesondere BGHSt. 39, 1 ff. und 40, 218 ff., die das BVerfGE 95, 96 ff. am 24.10.1996 im Wesentlichen bestätigte. Die Rechtsprechung zu den „DDR-Spionen“, insbesondere BVerfGE 92,277 ff., kann hier insofern genannt werden, als ebenfalls, wenn bei weitem verhaltener als in den „Mauerschützenfällen“, vom hohen „Siegerroß“ des „Fortbestandes des Deutschen Reiches“ judiziert wird.
[33] Vgl. zu dieser Argumentation schon Gerhard Stuby, Der Honecker-Prozeß, in: Demokratie und Recht 4/1992, S. 416 ff.
[34] Insbesondere BGHSt 39, 1 ff. und 40, 218 ff.
[35] BVerfGE 96, 96ff. (135f.)
[36] Hierzu Gerhard Stuby, „Exzeßtaten“ als Rechtsbruch, Blätter für deutsche und internationale Politik 5/2001, S. 547 ff.
[37] So erklärte z. B. der Fraktionsvorsitzende der CDU im Bundestag, Kauder: „Wir haben das Ziel der Wiedervereinigung nie aufgegeben. Wir haben immer daran festgehalten, dass es nur eine deutsche Staatsbürgerschaftgibt – nicht eine westdeutsche und eine ostdeutsche. Dies war unsere Umsetzung des Wiedervereinigungsgebotsund vor allem an der einheitlichen deutschen Staatsbürgerschaft festgehalten.“ (Plenarprotokoll 16/222, S. 24315) Dieses ständig wiederholte Stereotyp liegt jedenfalls unterhalb der Meßlatte einer notwendigen kritischen Reflexion.
[38] Vgl. die Entscheidung vom 10. Mai 1957 BVerfGE 6, 389 ff.
[39] BVerfGE 39, 334 – Extremistenbeschluß v. 22.Mai 1975.
[40] Entscheidung v. 26.9.1995 Az: 7/1994/454/535 (Dorothea Vogt).
[41] Hierzu die Beiträge in: Udo Mayer, Gerhard Stuby, Das lädierte Grundgesetz, a.a.O..
[42] Zur problematischen „Akzeptanz“ in der Bevölkerung vgl. Eric Chauvistré, Verdrängte Kriege. Die Bundeswehr zwischen Nichtbeachtung und Überforderung, in: Blätter für deutschen und internationale Politik 4/2009, S. 65 ff.
[43] BVerfGE 90, 286 ff.
[44] Eine wichtige und bemerkenswerte Ausnahme: Dieter Deiseroth, Die NATO – Ein System „kollektiver Verteidigung“ oder „kollektiver Sicherheit“? Kritische Bemerkung zur Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes, in: Die Friedenswarte 75/2000/1, S. 101 ff.
[45] Zu den völker- und verfassungsrechtlichen Problemen der Pirateriebekämpfung vgl. Andreas Fischer-Lescano, Bundesmarine als Polizei der Weltmeere? Völker-, europa- und verfassungsrechtliche Grenzen der Pirateriebekämpfung, in: NordÖR 12 (2009), S. 49-55.