Geschichtsmythen nach 1989

DDR-Forschung und Geschichtsmythen

Bemerkungen zu herrschenden DDR-Bildern, ihren Kontexten und wissenschaftlichen Ansätzen

September 2009

Die Frage, was die DDR gewesen sei, provoziert seit 1989 zahlreiche pauschale Antworten, deren ideologischer Gehalt nicht selten nur mit wenig Mühe verschleiert wird. Alle simplifizierenden (aber diskursiv wirksamen) Urteile, die den ostdeutschen Staat als „zweite deutsche Diktatur“ oder „totalitären Staat“ charakterisieren, können aus einer analytischen Sicht indes nur verdächtig sein. Freilich: Die Widersprüchlichkeit der DDR-Geschichte erschwert die Schöpfung eines leicht popularisierbaren aber dennoch adäquaten Bildes.

Widersprüchliche DDR

Einerseits legitimierte die DDR ihre Existenz nach der Erfahrung des Nationalsozialismus mit dem Antifaschismus. Andererseits zwangen spätstalinistische Verfolgungen zu Beginn der 1950er Jahre hunderte jüdische Shoah-Überlebende zur Flucht aus der DDR. Völkerfreundschaft und Frieden wurden zwar die Leitsätze des neuen Staates. Dennoch verwies der Staat so genannte Vertragsarbeiter aus „sozialistischen Bruderländern“ nach ihren Arbeitseinsätzen in isolierte Wohnheime oder ließ 1968 – trotz der Erfahrungen von 1938/39 – erneut eine deutsche Armee an den Grenzen zur CSSR aufmarschieren. Nach Jahrhunderten des preußischen bzw. deutschen Militarismus bekannte sich die DDR einerseits zum Antimilitarismus. Andererseits wurden große Teile der Jugend in Massenorganisationen uniformiert, in Aufmärschen, Fahnenappellen und im Wehrkundeunterricht militarisiert. In der DDR sollten Sozialismus, (wirkliche) Demokratie und Freiheit[1] verwirklicht werden. Der Sozialismus aber wurde realiter rein ökonomistisch implementiert als ein Staatskapitalismus, in dem nicht einmal de jure die Produktionsmittel „volkseigen“, sondern in der Hand der Staats- und Parteieliten waren.[2] Den Massen indes versagte man eine freie kritische Mitsprache bzw. eine offene Diskussion über den Marxismus-Leninismus (ML), während die Obrigkeit mit ihren streng verteidigten Dogmen kritisches Bewusstsein verhinderte. Zwar erlangten im „Arbeiter- und Bauern-Staat“ seit 1953 die ArbeiterInnen in den Betriebsbrigaden und LPGen einen gewissen Einfluss auf die konkret zu organisierende Produktion. Der wandelbare, für die DDR immer wieder herrschaftsstablisierend kalibrierte ML allerdings übertrug die eigentliche Entscheidungsgewalt einem bürokratischen Funktionärs-Apparat, da man als „Avantgarde der Arbeiterklasse“ geradezu organisch-esoterisch mit dem ‚Willen des Proletariats’ verbunden sei und glaubte, die Interessen der Arbeiterklasse und den Weg zum herrschaftsfreien Kommunismus notwendigerweise zu kennen.

Alle einseitigen Aussagen über die DDR werden der realen Geschichtsentwicklung nicht gerecht. Statische Vorstellungen von ihr, etwa als Mangelwirtschaft auf der einen und als armutsfreier Sozialstaat auf der anderen Seite, gehen an den wechselvollen ökonomischen Entwicklungen vorbei. Ähnliches gilt für die Geschlechterverhältnisse, die sich bis in die 1980er Jahre hinsichtlich der ökonomischen Unabhängigkeit von Frauen zwar deutlich verbesserten, dennoch weiterhin geprägt waren vom konservativen Rollenverständnis in der Reproduktionssphäre. Weitere Gegensätze ließen sich anführen. Die Komplexität eines Staates und seiner historisch vorbelasteten Bevölkerung liefert derweil für all jene zwischen Verurteilungseifer und Ostalgie oszillierenden Erinnerungsbilder zahlreiche Anknüpfungspunkte. Es ist ganz offensichtlich, welch hohe Sorgfalt Wissenschaft und Geschichtsaufarbeitung hier walten lassen müssten.

DDR-Erinnerung und -Wissenschaft

Zweifelsohne ist die Erinnerungspolitik bzw. -kultur immer auch von den gesellschaftlichen Verhältnissen der Zeit abhängig, in der die Erinnerung (aus-)gestaltet und organisiert wird. Sowohl Publizistik als auch Wissenschaft sind seit 1989 daher erklärbar dominiert von einer verurteilenden Sicht auf die DDR, denn mit der Delegitimierung des unterlegenen Antipoden DDR ist zugleich eine ideologische Legitimierung der übrig gebliebenen BRD gewährleistet. Hinzu kommt das Problem, dass das Ende der DDR noch nahe liegt und die Aufarbeitung aufgrund der personellen und strukturellen Kontinuität der vergangenen Epoche in der aktuellen Diskussion (in Ost und West) noch stark von persönlicher Animosität, Rechtfertigung und Verdrängung dominiert wird. Dies mag ein Grund dafür sein, dass sich Millionen deutscher StaatsbürgerInnen seit fast zwei Jahrzehnten verdutzt die Augen reiben, wenn das vorherrschende bundesdeutsche Geschichtsbild von der DDR als Terror-, Mauer- und Stasistaat ihnen sehr wenig über ihre (persönliche) Realität in der DDR sagt. All jene, die sich mit den Umständen arrangierten (sich nicht zuletzt auch identifizierten) und ihr profanes Leben führten, werden mit einem Geschichtsbild konfrontiert, das ihnen eine DDR vermittelt, die nichts mit „ihrer“ DDR zu tun hat. Nachvollziehbar ist daher – man addiere die zahlreichen sozialen und politischen Enttäuschungen seit 1990 – ein Bedürfnis nach profaner Erinnerung, nach Nostalgie.

Diese, erst in der ‚gesamtdeutschen’ Massenkultur als „Ostalgie“ bezeichnete Trotzerinnerung ist allerdings keine Gegenbewegung zur verzerrten antikommunistischen Sicht. Die Ostalgie passt eigentlich recht gut in den gegenwärtigen Geschichtsdiskurs, der regelt, was gedacht, gesagt und gemacht (bzw. veröffentlicht) werden darf. Die Verehrung von Ost-Musik und Ost-Produkten ist die gerade noch zulässige (weil scheinbar unpolitische und auch noch ökonomisch verwertbare) Form der Erinnerung an ein Land, dessen Existenz konstitutiv mit dem Ziel des Aufbaus einer antimilitaristischen, antifaschistischen und sozialistischen Gesellschaft verbunden war. Viele vom NS rassisch und politisch verfolgte Intellektuelle sind Ende der 1940er Jahre nur aus diesem Grund bewusst nach Deutschland zurückgekehrt. Hier wird die Bedeutung der DDR als ernsthafter Antwortversuch auf die Barbarei des NS offenbar, was wieder stärker in den Fokus der historischen Beurteilung gerückt werden muss. In der Ignoranz dieses Aspektes aber liegt gerade der große Mangel der Erinnerungskultur. Das Ablenken davon erleichtert freilich die geschichtspolitische Umdeutung der DDR als vermeintlicher Beweis für das Scheitern und die Nicht-Realisierbarkeit der Marx’schen Theorie. Mit dieser Anachronisierung der DDR hat man sich erfolgreich vor der intellektuellen Herausforderung und Notwendigkeit gedrückt, die wichtigen ideengeschichtlichen Grundlagen der DDR wirklich zu verstehen.

Einige geschichtspolitisch engagierte, eigentlich aufgrund ihrer Ausbildung mit den wissenschaftlichen Grundlagen vertraute HistorikerInnen perpetuieren und reproduzieren mithilfe der ihnen öffentlich zugeschriebenen – fast mythisch anmutenden – Glaubwürdigkeit und Verehrung jene unhistorischen Erinnerungsbilder. Nicht wenige dieser bewusst aus dem akademischen Milieu heraustretenden HistoriographInnen[3] vertreten immer wieder die These, dass sich die DDR notwendigerweise so hätte entwickeln müssen, da bereits in der Idee des Sozialismus (als „totalitäre Ideologie“) der Keim des Scheiterns enthalten gewesen sei. Damit aber verstoßen diese GeschichtswissenschaftlerInnen gegen eine Grundregel der Historiographie: Die Geschichte ist von Menschen gemacht, nicht determiniert und zu jedem Zeitpunkt für die ZeitgenossInnen der jeweiligen Epoche handlungsoptional offen. Wer die DDR von ihrem Ende her denkt, hängt einem mythischen Geschichtsverständnis an, dem beharrlich widersprochen werden muss. Die Geschichte der DDR ist zwar (auch) eine Geschichte des Scheiterns eines Dogmensystems: des „Marxismus-Leninismus“. Allerdings bedarf dieses ideengeschichtliche Konglomerat aus Fragmenten der Marxschen Theorie und bürgerlicher Ideologie einer ernsten, kritischen und unvoreingenommenen wissenschaftlichen Analyse, die ebenso in Rechnung stellt, dass der ML ständig den jeweiligen Machtinteressen sich ‚kommunistisch’ nennender Eliten angepasst wurde, wie die Tatsache, dass ein – aus marxianischer Sicht[4] – bereits fehlerhaftes Dogmensystem in einer für die Implementierung nicht unbedingt günstigen welthistorischen Umgebung von oben aufgestülpt wurde.

Wie kommt es aber, dass die ideengeschichtliche Grundlage der DDR, deren Begriffsystem in der DDR allgegenwärtig war, vom gegenwärtigen Geschichtsdiskurs so eklatant ignoriert wird?[5] Bekannt ist, dass sich bestimmte Geschichtslegenden, die keiner wissenschaftlichen Überprüfung standhielten, sehr hartnäckig im allgemeinen Diskurs festsetzen können. Doch leistet die DDR-Forschung ihrerseits den nötigen aufklärerischen Beitrag?

Verzerrte DDR-Forschungen – Teil eins

Bei aller Wechselwirkung zwischen der Wissenschaft und den sie konstituierenden allgemeinen gesellschaftlich-historischen Bedingungen hat die DDR-Forschung ihrerseits sehr entscheidend zum herrschenden DDR-Bild beigetragen.

Die zu beklagenden Verzerrungen sind nicht zuletzt auf die zwei in den 1990er Jahren dominanten und geschichtspolitisch wirksamen Haupttendenzen in der Historiographie zurückzuführen:

An erster Stelle ist die wiedererstarkte (in den 1980er Jahren überwunden geglaubte) totalitarismustheoretische Verurteilungshistoriographie zu nennen. Sie bezog ihre publizistische Stärke vor allem aus dem allenthalben akklamierten Sieg des Kapitalismus über den Nominalsozialismus. Nicht zuletzt dieser nach wie vor dominanten Geschichtsdeutung ist ein diskursives und gesellschaftlich wirksames Bild von der DDR mitzuverdanken, welches den ostdeutschen Staat mehr oder weniger auf den 17. Juni 1953 und seine Niederschlagung, den Mauerbau und das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) reduziert. Vor allem finanziert und protegiert von staatlichen Stellen, der Mehrzahl der parlamentarisch dominierenden Parteien (mit ihren Stiftungen) und den führenden staatlichen wie privaten Medien- und Meinungsproduzenten gelang dieser Interpretationsrichtung eine erfolgreiche Popularisierung ihrer Hauptthesen. Durch aus wissenschaftlicher Sicht problematische aber öffentlich finanzierte Einrichtungen, wie die „Behörde der Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR“ (BStU) oder die beiden Enquêtekommissionen des Bundestages in den 1990er Jahren, erhielten vor allem Themen wie MfS, Mauerbau und 17. Juni ein hohes Gewicht in der Erinnerung.[6]

Viele VertreterInnen des Totalitarismusansatzes scheuten auch nicht den Weg in die nichtakademische Öffentlichkeit.[7] Mehr oder weniger wissenschaftliche, normativ aber häufig extrem aufgeladene Thesen aus diesen Forschungsbereichen, die ausschließlich auf eine radikale Delegitimierung der DDR-Gesellschaft abzielten, gelangten somit direkt oder über Museen, staatlich finanzierte Gedenkstätten, Schulbücher und Lehrpläne etc. in die veröffentlichte Meinung. So wie es Peer Pasternack in einer Untersuchung über die „Gelehrte DDR“ beschrieben hat, sickerten auf diese Weise die noch in der Forschungsdiskussion mittels realer Beweise aus Archiven und Bibliotheken bestreit- und widerlegbaren nunmehr aber „vergröberten Deutungen in die Poren der Gesellschaft und entfalt[et]en dort ein Eigenleben als Unhinterfragbarkeiten“[8]. Sehr richtig weist Pasternack in diesem Zusammenhang auf den aufzuwendenden „höchsten Kraftaufwand“ hin, welcher nötig ist, diese „allgemeinen Meinungsbestände im öffentlichen Bewusstsein“ wieder aufzuheben.[9] Die diskursiven Standards in Öffentlichkeit und Wissenschaft setzten in den 1990er Jahren fast ausschließlich auf die totalitarismustheoretische und stark emotional argumentierende verurteilende DDR-Geschichtserzählung.

Diese Euphorie der Emotionen führte indes zu zum Teil erheblichen Nachlässigkeiten hinsichtlich der wissenschaftlichen Sorgfalt in Sprachduktus und Quellenarbeit. Bestätigt, ja ermöglicht wurde die Dominanz dieser Herangehensweise an DDR-Geschichte vor allem aber durch öffentliche Subventionierung im politisch-diskursiven sowie im finanziellen und administrativen Bereich. Die bis zum heutigen Tage zu spürenden Ergebnisse dieser Entwicklung sind zum einen die immer noch starke personelle Dominanz der TotalitarismustheoretikerInnen in den wichtigen Institutionen (BStU, Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur, Lehrstühle für Zeitgeschichte etc.), die in der Regel über die Finanzierung bzw. Ermöglichung von Forschungsvorhaben, über die Lehre an den Universitäten sowie über den Zugang zu Quellenmaterial bestimmen, und zum anderen festsitzende, allgemein sedimentierte „Meinungsbestände“ in Forschung, Lehre, politischer Bildung und Öffentlichkeit. Diese Entwicklung seit den 1990er Jahren verschüttete viele wichtige Ansätze und Erklärungsmodelle der DDR-Gesellschaft, die sich seit den 1960er Jahren in der westdeutschen DDR-Forschung herausgebildet hatten und der Komplexität des Phänomens DDR zunehmend gerecht geworden waren[10]; ein bedrückender Umstand, der den neueren Generationen von DDR-HistorikerInnen eine schwere Hypothek ist. Nach 1989 hat es zwar weiterhin andere Ansätze der DDR-Aufarbeitung gegeben. Diese aber litten unter einer vergleichsweise geringen öffentlichen Aufmerksamkeit und Unterfinanzierung. An der Dominanz der allgemein anerkannten, die DDR charakterisierenden Begrifflichkeiten wird die Wirkung der Entwicklung dabei besonders spürbar. Es hat zwar immer einen großen „Jahrmarkt der Begrifflichkeiten“ und zahlreiche Erklärungsmodelle zur DDR-Geschichte[11] gegeben. In Forschung und Publizität setzten sich vorrangig aber Begriffe wie „Unrechtsstaat“ oder „totalitäre Diktatur“ durch.[12]

Verzerrte DDR-Forschungen – Teil zwei

Jene oben beschriebene, historiographisch konstruierte, diskursiv nunmehr als ‚Wissen’ fest verankerte und öffentlich subventionierte Reduktion des Komplexes „DDR-Geschichte“ auf MfS und Mauer führte zu einer tendenziellen und generationsübergreifenden Erinnerungsspaltung. Diese entstand zwischen Millionen Westdeutschen auf der einen Seite, die seit Jahrzehnten vom Antikommunismus geprägt worden waren und vor dem Hintergrund der beschriebenen dominanten „Aufarbeitung“ ihre innere Gefühlswelt bestätigt sahen, was mangels Neuigkeit allerdings kaum zu gesteigertem Interesse an der DDR und ihren Menschen führte, und Millionen Ostdeutschen auf der anderen Seite, die zum großen Teil nie die DDR aus der Perspektive eines/r DissidentIn wahrgenommen hatten und daher nunmehr dem öffentlich dominanten Erinnerungsdiskurs befremdet gegenüberstanden.

Gerade diese zweite Gruppe bildete die Zielgruppe einer anderen DDR-Forschungsrichtung, die zwar aus anderer Perspektive, prinzipiell aber ähnliche Mängel im Geschichtsbild produzierte. Wie die TotalitarismustheoretikerInnen haben auch die „OstalgikerInnen“ ihren Anteil an den Verzerrungen. Mit Beschönigungen und (Selbst-)Rechtfertigungen verhinderten VertreterInnen dieses Erinnerungspols eine (selbst-)kritische Aufarbeitung des Nominalsozialismus und trugen somit ebenfalls zum aktuellen defizitären DDR-Geschichtsbild (und auch zur diskursiven Diskreditierung bspw. marxistischer Philosophie und Wissenschaft) bei.[13]

Diese Gruppe zeigt sich in ihren Positionierungen wesentlich heterogener als die der Totalitarismustheorie. Dies hat u.a. darin seine Ursache, dass AkademikerInnen aus der ehemaligen DDR – aus denen sich diese Gruppe hauptsächlich rekrutierte – im Rahmen der seit 1990 stattfindenden „Abwicklung“ der DDR-Wissenschaft nicht selten aus ihren professionalisierten Strukturen herausgerissen wurden.[14] Entweder mussten sie sich nunmehr als EinzelkämpferInnen durch eine für sie neue und nicht selten ihnen gegenüber ablehnende Bürokratie etwa bei der Forschungsfinanzierung durchbeißen oder sich als Privatiers und Rentiers zurückziehen, um sich hin und wieder publizistisch zu Wort zu melden. Zwar gab es Versuche, alte personelle Strukturen in neuen Institutionen zu erhalten.[15] Der Auflösungsprozess dieser Strukturen war indes nicht mehr aufzuhalten. Für die weiterhin Forschungswilligen führte der starke ‚Ent-Ideologisierungsdruck’ innerhalb der neuen Strukturen zusätzlich zur Heterogenität dieser Gruppe. Zur Anpassung blieb vielen nur eine Flucht in die Postmoderne bzw. in die Ideologie vom Ende der Ideologien, sodass es keine gemeinsame theoretische Ausrichtung mehr gab (also ganz im Unterschied zu den TotalitarismustheoretikerInnen – die freilich eine ideologische Ausrichtung kaum zugäben).

Die Richtungslosigkeit wurde allerdings zum Problem dieser Gruppe: Häufig findet sich eine äußerst seltsam anmutende Position, die bemüht ist, Einzelaspekte der DDR-Geschichte zu rechtfertigen, ohne dabei auf den ideologischen oder besser ideengeschichtlichen Hintergrund einzugehen. Ohne Zweifel „verbietet“ das allgemeine diskursive Regelwerk eine unverkrampfte oder gar positive, aber auch eine wirklich kritische Auseinandersetzung mit dem ML in Publizität und Wissenschaft. Dies führt insofern aber zur Paradoxie, dass z.B. der Antifaschismus aus seinem ideengeschichtlichen Zusammenhang herausgerissen und als solcher nunmehr schwer verständlich, für erhaltenswert für heutige historische Bedingungen erklärt wird. Ähnliche, etwas anachronistisch wirkende, Beispiele sind etwa Versuche, die Wirtschaftserrungenschaften der DDR in einem postumen kategorial-kapitalistischen Wettbewerb mit denen der BRD zu vergleichen oder die Bildungspolitik der DDR, von ihren marxistisch-leninistischen Implikationen befreit, als Modell für die heutige BRD vorzuschlagen. Diese spezielle Form der Entkontextualisierung ist ein charakteristisches Problem dieser DDR-Forschung, die sich in ihrer rechtfertigenden Attitüde im Übrigen auch mit ihrer unhistorischen Methode weit von Marx entfernt hat.

Es hat freilich seit 1990 immer auch andere DDR-Historiographien[16] gegeben, die mithilfe sozial-, mentalitäts-, kulturgeschichtlicher Ansätze mehr oder weniger geeignete Erklärungsmodelle für die DDR-Realitäten geliefert haben. Forschungsergebnisse aus dieser Richtung erhielten oftmals aber entweder wenig außerakademische Aufmerksamkeit, weil geschichtspolitisch nicht verwertbar, oder lieferten weiteren Stoff für die beiden Haupttendenzen. Obwohl alternative DDR-Geschichtsschreibungen zwischen den beiden beschriebenen Polen oftmals zerrieben wurden, zeigte sich allerdings doch immer wieder eine größere Offenheit der OstalgikerInnen gegenüber neueren Erklärungsansätzen. Doch auch dies muss wieder eingeschränkt werden: Denn nicht selten wurden Ergebnisse vor allem kulturwissenschaftlicher Forschungen selektiv für die Konstruktion einer harmlosen und gemütlichen DDR missbraucht.

Erinnerung im Zeitalter der Ideologie der Ideologielosigkeit

Totalitarismustheorie und Ostalgie haben gemeinsam, dass sie sich mit politischen Konzepten bzw. mit der ideengeschichtlichen Grundlage des Staates nicht auseinandersetzen müssen. Eine Erkenntnis über die DDR, die über undifferenzierte Erklärungsmuster hinausgeht, bedarf aber einer ernsthaften Auseinandersetzung mit ihren politischen Begriffen. Warum jene zumindest die Sprache der offiziellen DDR so stark prägenden ‚Ideen’ wie Antifaschismus und Sozialismus weder in Wissenschaft[17] noch in Publizistik so auffällig keine Rolle spielen, soll im Folgenden grob durchdacht werden.

Immer wieder ist beschrieben worden, wie der hohe Politisierungsdruck in der DDR die Entstehung einer privaten und entpolitisierten „Nischengesellschaft“[18] erzwungen habe. Insofern hinterließ die DDR-Geschichte eine Bevölkerung, die – scheinbar entpolitisiert – gelernt hatte, in ihren Nischen eine persönliche Distanz zum politischen System zu wahren. Große, inflationär und formelhaft verbalisierte und vor allem nicht reflektierte Politikkonzepte wurden nicht mehr ernst genommen. Spätestens in den 1980er Jahren kam es dann zwar (z.B. mit Aufkommen der DDR-Friedens- und Umweltbewegung) zu einer Politisierung der Nische, die sich auch auf die DDR-Führung auswirkte und in den 1980er Jahren zur Reduzierung des staatlichen Politisierungsdrucks führte. Politisches Engagement fand allerdings jenseits moderner politischer Strukturen (Partei, Gewerkschaft etc.) statt. Sie zerfaserte in einem scheinbar zusammenhangslosen Flickenteppich der Einzelpolitiken. Jene „Biotope der Subkultur“[19] bestehen fort und beeinflussen das DDR-Bild vieler Ostdeutscher bis heute.

Diese Tendenz der politischen Vereinzelung, um nicht zu sagen Entfremdung, wird nach 1990 nunmehr zusätzlich verstärkt durch eine Ideologie der Ideologielosigkeit, die freilich nicht nur die Ostdeutschen betrifft. Seit dem ausgerufenen „Ende der Geschichte“ und dem Ende des Zeitalters der Ideologien hat eine erschreckende Theorie-Phobie eingesetzt. Wer die DDR unter politisch-konzeptuellen Aspekten seitdem be- oder verurteilte, machte sich der „Ideologie“ schuldig und musste damit rechnen, im Rahmen des diskursiven Regelwerkes sanktioniert zu werden; Anfeindungen oder schlimmer noch Ignoranz oder Belächeln waren die zu erwartenden und vernichtenden Strafen. Der Totalitarismusbegriff lieferte ergänzend dazu die unpolitisch daherkommende Analysekategorie, bei der Faschismus, Nationalsozialismus, Kommunismus, Marxismus etc. vertauschbare bzw. äquivalente, Diktaturen hervorbringende „Ideologien“/„Utopien“ seien. Die Atomisierung der Gesellschaft, die Egalisierung bedeutet, betrifft nicht nur den einzelnen Menschen, sondern auch seine qualitätslos gewordenen Begriffe.

Darunter leidet bis zum heutigen Tage vor allem die kritische Historiographie. Zum einen lähmt sie der Anpassungsdruck an die totalitarismustheoretische Ideologie der Ideologielosigkeit, der sie zu einer sprachlichen Verzerrung ihrer Forschung zwingt[20] oder eine etwa an Marx’schen Kategorien ausgerichtete Auseinandersetzung mit der DDR zumindest nicht durch öffentliche Aufmerksamkeit honoriert. Verdächtig sind bereits alternative methodisch-historiographische Ansätze in der mehrheitlich „eher traditionellen Ausrichtung der DDR-Forschung“[21], die bis heute vor allem die scheinbar ideologiefreie Ranke’sche Politik- und Institutionengeschichte betreibt. Zum anderen lässt sich aber auch eine Lähmung der kritischen und/oder Marx’schen/marxistischen Historiographie feststellen, die einer schwer nachvollziehbaren Berührungsangst mit einer kritischen Geschichte der Irrtümer der ArbeiterInnenbewegung geschuldet ist. Zu lange haben marxistisch orientierte WissenschaftlerInnen sich genötigt gefühlt, die DDR gegen den Kapitalismus im Westen zu verteidigen. Dabei sind wohl zu viele Konzessionen an die Wirklichkeit im Ostblock gemacht worden.

Eine weitere wichtige Ursache für die verschrobenen Bilder vom zweiten deutschen Staat nach 1945 liegt zweifelsohne im Versuch einer Reaktivierung des deutschen Patriotismus bzw. Nationalismus. Dies wird besonders in dem auffällig oft bemühten Vergleich von NS und DDR deutlich. Die Totalitarismustheorie liefert dazu die Grundlage für eine neue „Meistererzählung“ der deutschen Nation.[22] Diesem Narrativ zufolge musste das „deutsche Volk“ vom „braunen Totalitarismus“, der scheinbar plötzlich über die Deutschen gekommen war, befreit werden, um dann sogleich – als Strafe – dem „roten Totalitarismus“ zum Opfer zu fallen. Davon konnte sich nunmehr schließlich das gereifte „deutsche Volk“ endgültig befreien. Spätestens an diesem weit verbreiteten Motiv offenbart sich die Dominanz der Geschichtspolitik gegenüber der Geschichtswissenschaft. Während sich die Geschichtslegende von der DDR als „zweiter deutscher Diktatur“ als gesichertes Wissen fest in der deutschen Geschichtskultur sedimentiert hat, beklagt die DDR-Forschung nämlich einen erheblichen Forschungsrückstand hinsichtlich komparatistischer Forschungen.[23] Für den NS-DDR-Vergleich kann konstatiert werden, dass die Geschichtslegende von den zwei Diktaturen bisher sehr gut ohne eine wissenschaftliche Verifizierung auskommt.

Betrachtet man aber die DDR im engen Zusammenhang mit der NS-Vorgeschichte, löst sich die nationalistische Meistererzählung in Wohlgefallen auf. Es drängt sich dabei nämlich die Frage auf, ob die Scheu vor einer immer noch unvollständigen Aufarbeitung des NS eine Ursache dafür ist, dass sich ein differenziertes DDR-Bild nicht durchsetzen kann. Die Geschichte der DDR ist – für ‚PatriotInnen’ – nämlich erschreckend eng mit der ‚nationalen Schande’ verwoben. Eine allumfassende Aufarbeitung der DDR bedeutet demgemäß auch eine Gegenbewegung zum deutschen Neo-Nationalismus. Zwar ist in beiden deutschen Staaten mehr oder weniger stark versucht worden, das deutsche Jahrtausendverbrechen zu verdrängen. Doch es war gerade die „deutsche Teilung“, die immer wieder an die historisch-singulären NS-Verbrechen erinnerte und einer nationalen „Normalisierung“ eklatant widersprach. Und sie erinnert heute noch an die damalige Notwendigkeit, eine Gesellschaft niederkämpfen zu müssen, die nicht fähig war, den NS von allein zu überwinden. Die pure Existenz der DDR legt somit ständiges Zeugnis ab für die einst völlige Durchwirkung der deutschen Gesellschaft und Kultur mit dem NS.[24]

Dies wiederum schließt den Kreis zu einem zentralen Begriff der DDR: den Antifaschismus. So sehr dieser Begriff zur Selbstlegitimation von der Führung missbraucht wurde, so sehr lieferte er der DDR durchaus auch eine moralisch schwer angreifbare Legitimationsgrundlage.[25] DDR-Aufarbeitung kommt daher nicht ohne eine kritische Auseinandersetzung mit der (Nicht-)Umsetzung einer notwendigen Erkenntnis aus dem 20. Jahrhundert, dem Antifaschismus, aus. DDR-Forschung, die auf ein wirkliches Verstehen gerichtet ist, muss bei jeder Fragestellung den deutschen Zivilisationsbruch stets mitdenken.

Kritische DDR-Forschung

Das Bild der DDR-Forschung sollte freilich nicht zu düster gezeichnet werden. Es hat, wie beschrieben, seit den 1990er Jahren immer wieder Ansätze zu einer alternativen DDR-Forschung gegeben. Es lässt sich zumindest für die Wissenschaft konstatieren, dass sich die Emotionalität seit der Jahrtausendwende etwas gelegt hat. Damit ging aber auch die Etablierung der (irrigen) Vorstellung einher, dass die DDR überforscht sei, was wiederum zu einem weiteren Rückgang finanzieller Möglichkeiten geführt hat. Konsequenzen daraus könnten sein, dass der nicht selten eifersüchtig geführte Streit um Forschungsgelder und Forschungsrichtungen sich entweder verschärfen oder aber aufgrund der Dominanz einer bestimmten Richtung, die kritische Geister schlicht nicht zum Zuge kommen lässt, gänzlich entschieden sein wird. Auch wenn die im Jahr 2009 zu begehenden Jahrestage der vorsichtig begonnenen Entemotionalisierung eher im Wege stehen werden, bleibt abzuwarten, ob die ‚Gedenkepidemie’ wenigstens zu erneutem Interesse an der DDR animiert und sich daraus Chancen für eine neue DDR-Forschung ergeben könnten. Da die Wissenschaft Wissen für das allgemeine Geschichtsbild einer historischen Epoche produziert, sollte sich eine kritische DDR-Forschung daher nicht scheuen, sich in die Auseinandersetzung um das ‚richtige’ DDR-Bild (bewusst) einzumischen.

Was darf nun aber von einer kritischen DDR-Forschung erwartet werden? In erster Linie kann sie kein Dazwischen sein, kein Mittelweg aus Ostalgie und Totalitarismustheorie. Stattdessen sollte sie ein Jenseits sein, ein weitgehender Neustart der DDR-Forschung. Dabei lässt sich zwar durchaus auf den vorhandenen nicht-ostalgischen und nicht-totalitarismustheoretischen Forschungen aufbauen. Doch es mangelt diesen diffus nebeneinander bestehenden Einzelergebnissen oftmals an einem Kontext. Die Angst vor der „Ideologie“-Falle einerseits und der aus der Resignation erwachsene Wunsch nach einer relativistischen, also beliebigen Pluralisierung der DDR-Forschung andererseits führen zu einer Auflösung aller Zusammenhänge der DDR-Geschichte und haben eine lose Sammlung von DDR-Geschichten zum Ergebnis. Historiographische Selbstverständlichkeiten, wie etwa die Einordnung der DDR in die historischen Rahmenbedingungen ihrer Zeit, in die internationalen Zusammenhänge oder die Betrachtung der kausalen Verknüpfungen der DDR-Geschichte nicht zuletzt mit der NS-Vorzeit, sollten auch in der DDR-Forschung wieder einen größeren Stellenwert erhalten. Wer die komplexe DDR-Gesellschaft verstehen will, muss sich der Tatsache stellen, dass die DDR und ihre Bevölkerung nur als historisch geworden und als von vorherigen Generationen belastet zu betrachten sind.

Die Kontextualisierung sollte allerdings nicht abgleiten in eine alles relativierende Historisierung, was durch eine Theoretisierung der DDR verhindert werden kann. Eine ernsthafte Betrachtung der ideengeschichtlichen Wirklichkeit der DDR tut nämlich dringend not. Theorie aber bedarf einer begrifflichen Schärfe hinsichtlich der zentralen Termini der DDR wie Sozialismus, Marxismus-Leninismus, Antifaschismus etc. Ein gewisses Maß an Unbefangenheit diesen Begriffen und den dahinter stehenden Politikkonzepten gegenüber ist dabei ohne Alternative.

Ähnliches lässt sich ebenfalls aus methodologischer Perspektive konstatieren. Eine Rückkehr zur (freilich nicht naiven, sondern kritischen) Wissenschaftlichkeit erfordert ein im Vergleich zur DDR-Forschung der 1990er Jahre höheres Maß an methodisch-historiographischer Vielfalt, quellenkritischer Reflexion[26] und begrifflicher Genauigkeit. Eine ausschließliche Politikgeschichte der DDR wird der Komplexität der Gesellschaft zweifelsohne nicht gerecht. Die traditionelle Theoriefeindlichkeit in der Mehrheits-DDR-Forschung bedarf einer – wenn man so will – theoretischen Gegenoffensive. Zwar hat Max Horkheimer nach wie vor Recht, wenn er vor der (bürgerlichen) Theorie als „aufgestapeltes Wissen“, als „Aufnehmen, Umformen, Durchrationalisieren des Tatsachenwissens“ warnt.[27] Absurderweise aber muss von der mehrheitlich geschichtspolitisch ambitionierten zeitgenössischen DDR-Forschung als Minimum erst einmal wieder das alte bürgerliche Ideal der Wissenschaftlichkeit – also strenge Methodik zur Entzauberung der Geschichtsmythen – stärker eingefordert werden. Erst wenn dies wieder verstärkt angestrebt wird, kann es mit Blick auf eine kritische DDR-Forschung kritisiert, also verbessert werden.

Dringend benötigt wird dabei freilich ein kritisch-reflektierender Abstand zu zeitgenössischen Diskursen und den dazugehörigen gesellschaftlichen Verhältnissen. Das Wissen um die Historizität und gesellschaftliche Funktionalität jedes DDR-Bildes sollte zu den ständigen Überlegungen jeder DDR-Forschung gehören. Hinzu kommt die Notwendigkeit einer kritischen Distanz zum Nominalsozialismus selbst; denn kritische DDR-Forschung schließt positivistisch-rechtfertigende Attitüden aus.

Abschließend sei, die gesellschaftliche Funktion betreffend, die Andeutung erlaubt, dass eine kritische DDR-Forschung zwar die verzerrende Popularisierung und Politisierung der DDR zu kritisieren hat. Sie darf sich zugleich aber nicht vor der öffentlichen Debatte scheuen und sich in den akademischen Elfenbeinturm oder in exklusive Milieus zurückziehen. Eine Wissenschaft nämlich die glaubt, sich der diskursiven Entwicklung herrschender geschichtspolitischer Narrative entziehen zu können, negiert ihren wissenschaftlichen Anspruch, einen Beitrag zur (analytisch-kritischen) Wissensproduktion zu erbringen. Die Gefahr, dass eine zur Etablierung und damit zur Wirksamkeit drängende Wissenschaft in der bestehenden Gesellschaft „in den gesellschaftlichen Apparat eingespannt“ und in diesem Augenblick dann auch „ein Moment der Selbsterhaltung, der fortwährenden Reproduktion des Bestehenden“[28] wird, ist nicht von der Hand zu weisen. Demgemäß sollte sich eine kritische DDR-Forschung auch keiner Illusion hingeben und glauben, dem (sozio-)ökonomischen Zwang und der Rolle der Wissenschaft in der heutigen Gesellschaft, verwertbare – wenn man so will – warenförmige Wissensprodukte kreieren zu müssen, entkommen zu können. Auch wenn Wissensproduktion (Konsum-)Bedürfnisse erfüllen kann, so schafft sie sie auch; und hier liegt ein Schlüssel zur Veränderung.

[1] Die Freiheits- und Demokratievorstellungen vieler MarxistInnen, die sich nach 1945 bewusst für die DDR entschieden hatten, fasste Leo Kofler 1951 pointiert zusammen: Kofler, Leo: Über die Freiheit, in: ders.: Zur Kritik bürgerlicher Freiheit. Ausgewählte politisch-philosophische Texte eines marxistischen Einzelgängers (hrsg. Jünke, Christoph), Hamburg 2000, S. 30-39.

[2] Dies war im Übrigen ein Grund dafür, warum man beim Beitritt der DDR zum System der BRD so „reibungslos“ – mit allen schlimmen sozialen Konsequenzen – die ehemaligen DDR-Staatsbetriebe übernehmen, privatisieren und/oder schließen konnte. Der Eigentümer – die DDR als Staat – existierte nicht mehr und „volkseigen“ waren die VEB in der Tat nicht.

[3] Vgl.: Hüttmann, Jens: Die „Gelehrte DDR“ und ihre Akteure. Inhalte, Motivationen, Strategien: Die DDR als Gegenstand von Lehre und Forschung an deutschen Universitäten, Wittenberg 2004, S. 49f.

[4] Hiermit ist eine wissenschaftliche – so verstanden nicht nur theoretische, sondern auch praktische – Perspektive gemeint, die bemüht ist, sich bei der Analyse jedes historisch gewordenen Gegenstandes – auch der Marxschen Theorie – so nah wie möglich an den Marxschen Schriften zu orientieren, ohne dabei in die Orthodoxie also in ein unkritisches und anachronistisches Proselytentum abzudriften. Sie unterscheidet sich vom Marxismus, der als Lehre daherkommt und auf eine lange verwinkelte und widersprüchliche Geschichte der Marx-Interpretationen zurückschaut.

[5] Die Germanistin Ursula Heukenkamp bemerkt dazu: „Man wird doch auch nicht anfangen, Goethe zu interpretieren, ohne sich mit dem Spinozismus zu beschäftigen. Das gilt insbesondere für den Marxismus. Es ist mittlerweile fast eine Kabarettnummer, wie Marx abgewandelt zitiert wird. Die Forschung ist derartig theorielos, das ist erstaunlich. Vielleicht braucht die Wissenschaft Widerstand, um Theorie zu entwickeln, aber das hat sie sich versagt […]. Wirkliche Theorie enthält immer widerständische Keime.“ Zit. in: Hüttmann, a.a.O., S. 42.

[6] Zur Übersicht über die Forschungslage und die (auch außeruniversitären) Institutionen in der DDR-Forschung siehe Mählert, Ulrich (Hrsg.): Vademekum DDR-Forschung: ein Leitfaden zu Archiven, Forschungsinstituten, Bibliotheken, Einrichtungen der politischen Bildung, Vereinen, Museen und Gedenkstätten. Eine Publikation der Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur, Berlin 2002.

[7] Werner Müller, ein Schüler Hermann Webers, etwa sieht die DDR-Forschung als offensive (und daher auch polemische) Gegengeschichte gegen eine von ihm als problematisch bewertete Geschichtsvermittlung in ostdeutschen Schulen und Familien. Vgl. Hüttmann, a.a.O., S. 70f.

[8] Pasternack, Peer: Gelehrte DDR. Die DDR als Gegenstand der Lehre an deutschen Universitäten 1990-2000, Wittenberg 2001, S. 15.

[9] Ebd., S. 12f.

[10] Man denke an die Modernisierungstheorie, welche die DDR in den historischen Kontext der Entwicklung moderner Nationalstaaten rückte und zur Verwissenschaftlichung der DDR-Forschung in der BRD beitrug.

[11] Dazu Gerd Dietrich: „Da ist von einem totalitären bzw. posttotalitären Staat, von einem vormundschaftlichen Staat, von einem Versorgungsstaat oder von einem Ständestaat mit Kastenherrschaft die Rede, da spricht man von moderner Diktatur, Erziehungsdiktatur, von parteibürokratischer Herrschaft oder von einer Patrimonialbürokratie neuen Typs, da gibt es Charakteristika wie durchherrschte Gesellschaft, Organisationsgesellschaft, Klassengesellschaft, Konsensgesellschaft oder Nischengesellschaft, und da geistern Begriffe wie arbeiterliche und tragische Gesellschaft oder das Land der kleinen Leute und die roten Preußen durch die Literatur. […] Auf eine allgemein anerkannte Formel ließ sich die DDR freilich […] bisher nicht bringen.“ In: Dietrich, Gerd: Rezension zu: Eppelmann, Rainer/Faulenbach, Bernd/Mählert, Ulrich (Hrsg.): Bilanz und Perspektiven der DDR-Forschung, Paderborn 2003, in: H-Soz-u-Kult, 7.7.2009, http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2004-1-034.

[12] Vgl. Hüttmann, a.a.O., S. 37.

[13] Ein anschauliches Beispiel des ostalgischen Diskurses war die Diskussion um die Frage nach der Existenz von Antisemitismus in der DDR. Sehr lesenswert sind etwa die Beiträge zahlreicher AutorInnen in der Wochenzeitung „der Freitag“ u.a. von Regina General am 27.4.2007, Thomas Ahbe am 22.6.2007.

[14] Zwar hat es nach 1990 wissenschaftspolitische Programme wie das „Wissenschaftler-Integrations-Programm“ (WIP) zur ‚Eingliederung’ einiger WissenschaftlerInnen, die vor allem aus den ehemaligen DDR-Wissenschaftsinstitutionen wie der „Akademie der Wissenschaften der DDR“ und dem „Institut für Marxismus-Leninismus“ kamen, in bundesdeutsche Wissenschaft und Hochschullandschaft gegeben. Doch weder dieses noch spätere Programme zur „Förderung innovativer Forschungsvorhaben in den neuen Ländern und Berlin“ (HSP III und HWP 3) konnten die Massenarbeitslosigkeit unter den ehemaligen DDR-WissenschaftlerInnen verhindern.

[15] Genannt seien etwa die „Helle Panke“, die Rosa-Luxemburg-Stiftung und die Leibniz-Gesellschaft.

[16] Zu nennen sind hier bspw. die mit dem Potsdamer „Zentrum für Zeithistorische Forschung“ assoziierten Martin Sabrow, Konrad H. Jarausch, Christoph Kleßmann oder der Jenaer Zeithistoriker Lutz Niethammer.

[17] Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass sich große Teile der Akteure der DDR-Forschung offensichtlich sehr bewusst sind, dass ideengeschichtliche oder ideologiekritische Ansätze in der DDR-Forschung bisher kaum zum Zuge kamen. Vgl. Hüttmann, a.a.O., S. 43f.

[18] Der Begriff wurde von Günter Gaus geprägt. Vgl. Gaus, Günter: Wo Deutschland liegt: Eine Ortsbestimmung, Hamburg 1983, S. 156ff.

[19] Vgl. Mittenzwei, Werner: Die Intellektuellen. Literatur und Politik in Ostdeutschland 1945-2000, Berlin 2003, S. 347.

[20] So ist etwa die Verwendung des Begriffs „Diktatur“ zur Charakterisierung der DDR Pflicht, um am Diskurs teilhaben zu können. Will man also sagen, dass die DDR nicht ein totalitärer Staat im Sinne etwa des NS, sondern eine modernisierte und bürokratisierte Herrschaftsstruktur war, muss man von „moderner Diktatur“ sprechen. Vgl. Hüttmann, a.a.O., S. 39f.

[21] Ebd., S. 43.

[22] Zum National-Narrativ in der Geschichtswissenschaft vgl. Berger, Stefan: Narrating the Nation: Die Macht der Vergangenheit, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, 1-2/2008, S. 7-13.

[23] Zum auffälligen Widerspruch zwischen scheinbar allgemein-diskursiver Gewissheit hinsichtlich der Vergleichbarkeit von DDR und NS einerseits und dem hohen Defizit in Forschung und Hochschullehre andererseits vgl. Pasternack, a.a.O, S. 49ff., Hüttmann, a.a.O., S. 59 und Mählert, Ulrich: Analyse der zur Zeit in Bearbeitung befindlichen und der bereits abgeschlossenen Forschungsarbeiten zur DDR-Geschichte, in: Deutscher Bundestag (Hrsg.), Materialien der Enquete-Kommission „Überwindung der Folgen der SED-Diktatur im Prozeß der deutschen Einheit“ (13.Wahlperiode des Deutsches Bundestages), Bd. VII, Baden-Baden, S. 865f.

[24] Dies war im Übrigen ein Problem für „PatriotInnen“ in Ost und West. Vgl. Bergmann, Werner/Erb, Rainer/Lichtblau, Albert: Einleitung. Die Aufarbeitung der NS-Vergangenheit im Vergleich. Österreich, die DDR und die Bundesrepublik Deutschland, in: dies. (Hrsg.): Schwieriges Erbe: Der Umgang mit Nationalsozialismus und Antisemitismus in Österreich, der DDR und der Bundesrepublik Deutschland, Frankfurt/M. u.a. 1995, S. 11-17.

[25] Vgl. dazu Herf, Jeffrey: Zweierlei Erinnerung. Die NS-Vergangenheit im geteilten Deutschland, Berlin 1998; Mertens, Lothar: Die SED und die NS-Vergangenheit, in: Bergmann/Lichtblau, a.a.O., S. 194-211.

[26] Allein eine quantitativ gute Quellenlage ist kein Garant für eine adäquate Rekonstruktion der DDR-Wirklichkeit. Das Überangebot an schriftlichen Hinterlassenschaften der bürokratischen DDR ist nicht nur Segen, sondern häufig auch Fluch. Hinsichtlich der Aussagekraft bleibt bspw. der politische und wissenschaftliche Umgang mit den Akten des ehemaligen MfS problematisch.

[27] Horkheimer, Max: Traditionelle und kritische Theorie, in: ders.: Traditionelle und kritische Theorie. Vier Aufsätze, Frankfurt a.M. 1968, S. 18f.

[28] Ebd.