Das Thema DDR, oder genauer: DDR-Geschichte, wird im Jubiläumsjahr 2009 mehr denn je als Kriminalgeschichte abgehandelt: in den Reden der Regierenden, der mit ihnen verbundenen Medien, in Ausstellungen, Schulen und Parlamenten. Insofern ist es durchaus berechtigt, von einer regelrechten „Erinnerungsschlacht“ zu sprechen.[1]
Von Oben inszeniert und geführt hat sie unverkennbar Züge einer staatlich verordneten Gehirnwäsche gegen, wie Meinungsumfragen belegen, immer noch überwiegend positive DDR-Erinnerungen. Die Grenze zur massiven Beschimpfung ist längst überschritten. Der Spiegel vom 23. Januar sprach von der DDR als „Misthaufen der Geschichte“; die Welt vom 5. Juni sinngemäß von der DDR als „Tat von Großkriminellen“. Seit Mai gibt es in Bonn im „Haus der Geschichte“ die Ausstellung „Bilder im Kopf – Ikonen der Zeitgeschichte“. In dem Raum „Diktatur der schönen Bilder“ sind Wilhelm Pieck und Erich Honecker neben Adolf Eichmann, dem Organisator der Judenvernichtung, zu sehen. Es ist so, als ob wir nicht 20 Jahre nach dem Ende des Kalten Krieges leben, sondern auf dessen Höhepunkt. Die DDR ist jeden Tag mehrfach in den entsprechenden Medien präsent: als SED-Regime, als Hölle auf Erden, als Unrechtsstaat, als mit dem Nazifaschismus an der Macht wesensverwandte zweite deutsche Diktatur. Überall sind entsprechende Geßlerhüte aufgestellt. Diese zu grüßen, bringt Lob und Sympathie bei den Herrschenden.[2]
Wie der Kampagne begegnen?
Die marxistische Linke muss die ideologische Funktion dieser Kampagne deutlich machen. Angesichts einer latenten Vertrauenskrise gegenüber Kapitalismus und Kapitalherrschaft hat DDR-Verunglimpfung immer mehr die präventive Aufgabe, den Kapitalismusfrust in Grenzen zu halten und das Nachdenken über eine sozialistische gesellschaftliche Alternative abzublocken. Scharfer Protest ist angesagt (und Hans Modrow hat das mit seinem Brief an Horst Köhler getan), wenn im Geiste militanter DDR-Hetze der Geschichtsunterricht an vielen Schulen abläuft. Aber wir sollten auf diese „Erinnerungsschlacht“ auch mit einer gewissen Gelassenheit reagieren. All diese Hasstiraden werden mittlerweile von der Mehrheit der Bevölkerung in Ostdeutschland als unseriös zurückgewiesen (in Westdeutschland allerdings stärken sie augenscheinlich massiv antikommunistische Feind- und Leitbilder). Die Erfahrungen mit zwei Gesellschaftssystemen haben bei den Ostdeutschen überwiegend ein abgewogenes, differenziertes DDR-Bild entstehen lassen. Sie haben auch eine kritische Sicht auf die kapitalistische Produktionsweise und die bürgerliche Demokratie befördert.
Die marxistische Linke hat in Bezug auf die DDR-Geschichte aber zugleich ein eigenes wichtiges Thema. Sie hat in den letzten 20 Jahren viel über die Ursachen des Scheiterns der DDR und des europäischen Sozialismusversuchs diskutiert. Es ist an der Zeit, aus der nunmehr gegebenen historischen Distanz eine Bilanz dieser Debatte zu ziehen. Im Zentrum muss dabei die Beantwortung der Frage stehen, welche bleibenden Erkenntnisse sich aus der DDR-Geschichte (und überhaupt aus dem 1917 eingeleiteten Ausbruch eines Teils der Menschheit aus dem kapitalistischen Weltsystem) als „’Erfahrungsobjekt’ für eine sozialistische Neuorganisation“[3] ergeben. Eine derartige Bilanz hat sich auch mit denjenigen auseinander zu setzen, die das Scheitern des Sozialismus mit der „Aufweichung“ des Realsozialismus durch „den Revisionismus“ erklären wollen. An die Stelle einer Analyse der Erfahrungen des Realsozialismus und einer Weiterentwicklung des Marxismus als Theorie progressiver Gesellschafts- und Weltveränderung tritt die pauschale Schuldzuweisung für den Zusammenbruch des europäischen Sozialismus insbesondere an Nikita Sergejewitsch Chruschtschow und den 20. Parteitag der KPdSU.[4]
Der Kapitalismus erlebt derzeit eine der tiefsten Wirtschaftskrisen seit langem. Die Forderung nach einer Alternative zur kapitalistischen Produktionsweise wird mit deren Fortschreiten an Aktualität gewinnen. Ein wichtiger Aspekt ist, was von dem im 20. Jahrhundert real existierenden Sozialismus für die Zukunft der Bewegung zu lernen ist. Es geht damit auch um eine Neubestimmung von Identität und Programmatik der sozialistisch-kommunistischen Bewegung. Natürlich wird ein neuer Sozialismus nicht als verbesserter Realsozialismus oder als dessen Neuauflage entstehen. Herausforderungen wie die konsequente Abwehr von irreversiblen Umweltzerstörungen bedingen andere Schwerpunktsetzungen, insbesondere in der Wirtschaftspolitik. Neue Sozialismusversuche werden aus den zukünftigen Klassenkämpfen hervorgehen. Die Volksrepublik China oder auch Kuba werden in diesem Zusammenhang mit Sicherheit eine Rolle spielen, welche, das ist freilich noch ungewiss. Sinn der Debatte um eine Bilanz die bisherigen Sozialismuserfahrungen ist es, das Problembewusstsein unter antikapitalistischen Linken in Bezug auf die Eckpunkte sozialistischen Gesellschafts-, Staats-, Wirtschafts- und Demokratiegestaltung zu stärken und dabei nicht zuletzt den Blick für die Gefahr vermeidbarer Fehlentwicklungen zu schärfen. „Niederlagen noch mehr als Siege“ können, so Friedrich Engels, dazu beitragen, „den Weg zu vollkommener Einsicht in die wirklichen Voraussetzungen der Emanzipation der Arbeiterklasse zu bahnen.“[5]
Ausgangspunkt: Historische und ökonomische Rahmenbedingungen der DDR
Erste These: Vorab ist zu bedenken, dass die DDR sich unter sehr schwierigen Rahmenbedingungen zu behaupten hatte. Sie entwickelte sich jedoch durchaus in einer – wenn auch sehr komplizierten – historischen Situation, in der die reale Möglichkeit gegeben war, den seit den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts geführten Kampf der deutschen Arbeiterklasse um Befreiung als Kampf um eine „neue Gesellschaft“ fortzusetzen.
Eine politisch-moralische Bewertung der DDR, ihrer Politik und ihrer politischen Strukturen, die sich weigert, diese schwierigen Rahmenbedingungen zu beachten, ist ungerecht, methodisch unsolide und desorientierend. Die DDR entstand nicht durch eine „Revolution von unten“, sondern im Ergebnis der Zerschlagung des Hitlerfaschismus und einer komplizierten antifaschistischen Umwälzung unter dem Schirm der UdSSR. Sie war im Vergleich zum kapitalistischen Westen wirtschaftlich von den Ausgangsbedingungen und den Entwicklungsmöglichkeiten her extrem benachteiligt. Der Kalte Krieg und die hochbrisante Grenzlage zur BRD und dem NATO-Territorium brachten Belastungen und Einschränkungen mit sich, die eine sozialistische Entwicklung außerordentlich erschwerten. Von Hegel wissen wir, dass eine Abstraktion von wesentlichen Seiten einer Erscheinung unweigerlich dazu führt, sich von der Wahrheit zu entfernen. Eine Bewertung der Entwicklungen in der DDR ohne die Beachtung der Rahmenbedingungen läuft darauf hinaus, aus diesen Bedingungen sich ergebende Zwänge zu ignorieren. Wenn man die DDR wollte bzw. erhalten wollte, so ging das nicht ohne den Aufbau von rigiden Macht-Strukturen und Maßnahmen ihrer Absicherung. Stichworte sind: führende Rolle der Partei im Sinne der Ausübung der politischen Macht durch eine Avantgardepartei, Wahrnehmung der Schutzfunktion durch entsprechende staatliche Apparate, Bau der „Mauer“ 1961 u.a.m. Davon zu unterscheiden sind nicht durch Zwänge gerechtfertigte Fehlentscheidungen und -entwicklungen, die die Interessen bürokratischer Leitungsapparate bedienten und die DDR zu einem Zeitpunkt, wo Alternativen notwendig waren und möglich wurden, nicht festigten, sondern letztlich ihren Zusammenbruch mit herbeiführten. Dazu gehörten: Die Einengung der innerparteilichen Demokratie in der SED, der Abbruch der ökonomischen Reformen Anfang der siebziger Jahre, die Beibehaltung eines anachronistischen Wahlrechts, die Verweigerung einer entschiedenen Ausdehnung der politischen Machtausübung direkt durch die Werktätigen, die weitgehende Ablehnung des Ausbaus unmittelbarer Demokratie sowie von öffentlichen Debatten über anstehende gesellschaftliche und politische Probleme.
Zu den schwierigen Rahmenbedingungen sozialistischer Gesellschaftsgestaltung in der DDR gehörten im besonderen Maße drei ständig mitwirkende Gegebenheiten:
· Die antifaschistisch-demokratische Entwicklung in den ostdeutschen Ländern und die Entwicklung DDR vollzogen sich in einem gespaltenen Land, unter Bedingungen einer ökonomischen Abtrennung von einem historisch gewachsenen einheitlichen Wirtschaftsgebiet. Sie war behaftet mit dem Nachteil einer Wirtschaft, die sich 1950 gemessen am Bruttoinlandprodukt pro Kopf der Bevölkerung zur Wirtschaft der Bundesrepublik wie 19,3 zu 100 verhielt.[6]
· Die Sowjetunion, die in Ostdeutschland nach 1945 zunächst für Jahre die staatliche Macht inne hatte, war als Besatzungsmacht der „große Bruder“ und Klassenverbündete, der bereits 1917 den Ausbruch aus der kapitalistischen Weltwirtschaft gewagt hatte. Sie war aber gerade unter Stalin zugleich Zuchtmeister mit politischer und ideologischer Richtlinienkompetenz (z. B. hinsichtlich der Art und Weise der Kampagne zur Umwandlung der SED in eine „Partei neuen Typus“) und Besatzungsmacht, die die DDR zur Kasse bat. So gingen 22 Prozent des Ost-Bruttosozialprodukts (1946 bis 1953) an die Sowjetunion, insgesamt im Werte von etwa 99 Milliarden DM (Preisbasis 1964). Hinzu kamen u. a. von 1945 bis 1985 noch die Kosten für den Uranbergbau in Höhe von 32,3 Milliarden DM.[7] Reparations-Belastungen, denen im Westen die „Anschubfinanzierung“ durch den Marshall-Plan gegenüber standen.
· Die Geschichte der sowjetischen Besatzungszone und dann der DDR ist nur zu verstehen, wenn man sie im Kontext des globalen und nationalen Systemwettbewerbs, des sich seit 1946 entwickelnden Kalten Krieges, der Bedeutung der Grenze zur BRD als System-Grenze zwischen den zwei hochgerüsteten Weltsystemen des 20. Jahrhunderts und im Kontext des Anspruchs der BRD auf Alleinvertretung „Deutschlands“ untersucht und bewertet. Der Kalte Krieg spielte sich zwischen BRD und DDR mit aller Härte (Spionage, wirtschaftliche Sabotage, systematische Abwerbung von Arbeitskräften usw.) ab und hatte beträchtliche Auswirkungen auf die innenpolitischen Verhältnisse der DDR (wie auch umgekehrt der Systemwettbewerb mit der DDR ganz wesentlich den sozialstaatlichen Klassenkompromiss des „Rheinischen Kapitalismus“ bewirkte). Der westdeutsche Staat, in dem bereits zum Zeitpunkt seiner Gründung die Macht des Monopolkapitals unter dem Schirm der Westmächte weitgehend restauriert worden war, betrachtete im Grunde genommen die DDR als so etwas wie ein vorübergehend von Aufständischen besetztes Gebiet „innerhalb Deutschlands“, das lediglich infolge der dort präsenten Militärmacht der SU nicht „befreit“ werden konnte.
Mangelnde Voraussetzungen sozialistischer Entwicklung
Zweite These: Der Sozialismusversuch auch in der DDR fand unter Bedingungen statt, da die materiellen Voraussetzungen der neuen Gesellschaft noch nicht ausreichend vorhanden waren.
Die DDR und die CSSR waren die vom Stand der Arbeitsproduktivität entwickeltsten Länder der sozialistischen Staatengemeinschaft. Aber auch in der DDR ging die „neue Gesellschaft“, die Karl Marx im „Elend der Philosophie“ als Konsequenz der „Befreiung der unterdrückten Klasse“ prognostiziert hatte,[8] nicht aus einer Situation hervor, da der Kapitalismus als Gesellschaftsformation tatsächlich „am Ende“ war. Er war lediglich – nach dem Ende des von Hitlerdeutschland ausgegangenen Völkergemetzels des 2. Weltkrieges – vorübergehend und regional politisch „am Ende“.
Im „Kommunistischen Manifest“ gingen Karl Marx und Friedrich Engels von einer Naherwartung einer erfolgreichen sozialistischen Revolution aus und sahen eine der grundlegenden Aufgaben der Revolution darin, fortan „die Masse der Produktionskräfte möglichst rasch zu vermehren“.[9] Elf Jahre später – in seinem berühmten „Vorwort zur Kritik der Politischen Ökonomie“ – war Karl Marx wesentlich vorsichtiger. Er kam zu dem Ergebnis: „Eine Gesellschaftsformation geht nie unter, bevor alle Produktivkräfte entwickelt sind, für die sie weit genug ist, und neue höhere Produktionsverhältnisse treten nie an die Stelle, bevor die materiellen Existenzbedingungen derselben im Schoß der alten Gesellschaft selbst ausgebrütet worden sind.“[10]
Die tatsächliche geschichtliche Entwicklung des 20. Jahrhunderts verlief, beginnend mit der Oktoberrevolution 1917 in Russland, anders. Es bestätigte sich Lenins Theorie des Imperialismus, „wonach der explosivste Punkt im (kapitalistischen) Weltsystem nicht notwendigerweise das stärkste Glied sei, sondern umgekehrt das vom Gesichtspunkt der kapitalistischen Entwicklung her ‚schwächste Glied’ sein könne: ein Glied, das trotz seiner Schwäche reich an revolutionären Möglichkeiten und zerstörerischer Kraft sei, gerade weil es die alten durch neue Widersprüche vermehrt.“[11] Die Eroberung der politischen Macht erfolgte in Russland deutlich bevor der Entwicklungsgrad der materiellen Existenzbedingungen ein entsprechendes Niveau erreicht hatte. Die Ungleichheiten der geschichtlichen Entwicklung ließen in Russland im Jahre 1917 eine Krisensituation entstehen, „die nicht nur dazu führte, daß die längst überlebte Zarenherrschaft gestürzt wurde, sondern die auch die reale Möglichkeit eröffnete, die Revolution bis zum Sturz auch der im Schoße des Zarismus entstandenen kapitalistischen Ordnung fortzuführen.“[12] Revolutionen in den entwickelten kapitalistischen Ländern scheiterten bzw. blieben aus. Die bolschewistische Partei unter Lenin „ignorierte und verschleierte den Widerspruch nicht, sondern nahm die sich aus ihm ergebenden Folgen offen in ihre eigene Strategie auf.“[13] Warum, so fragte Lenin im Januar 1923 polemisch diejenigen, die auf die fehlenden objektiven Voraussetzungen für den Sozialismus in Gestalt entsprechender materieller Existenzbedingungen der Produktivkräfte und Produktionsverhältnisse hinwiesen, „sollten wir nicht damit anfangen, auf revolutionärem Wege die Voraussetzungen für dies bestimmte Niveau zu erringen und dann schon auf der Grundlage der Arbeiter- und Bauernmacht und der Sowjetordnung vorwärtsschreiten und die anderen Völker einholen?“[14]
Grundlegende politische Erschütterungen und Klassenkämpfe im Gefolge des 2. Weltkrieges (in denen in China die Klasse der werktätigen Bauern sogar die entscheidende Rolle spielte) führten in einer Reihe von Ländern Osteuropas und Asiens zur Machtergreifung von Vorhutparteien der Arbeiterklasse. Diese sahen sich – die einen mehr, die anderen weniger (wie in der DDR und in der CSSR) – , mit ähnlichen Situationen der Unreife der materiellen Existenzbedingungen konfrontiert wie die Sowjetunion nach 1917. Zudem entwickelte sich global eine heftige politische, ideologische und militärische Systemauseinandersetzung, in der sie aus der Sicht des ökonomischen Wettbewerbs um die höhere Arbeitsproduktivität – zumal angesichts einer regelrechten Entfesselung der Produktivkräfte in den kapitalistischen Hauptländern – keine guten Karten hatten.
Die DDR war auf besondere Weise in einer schwierigen Situation. Sie war an ihrer Grenze zur BRD mit einem der kapitalistischen Industrieländer mit der höchsten Arbeitsproduktivität konfrontiert. Ihre Bürger verglichen ihren Lebensstandard ständig mit dem in der BRD. Sie musste erhebliche Mittel für militärische Verteidigung und für die Abwehr politischer und ideologischer Angriffe aufwenden (hinzu kam die bereits genannte enorme Summe der Reparationszahlungen und anderer Abgaben an die Sowjetunion). Diese Ausgaben verschlangen einen erheblichen Teil des gesellschaftlichen Reichtums, behinderten die Entwicklung der Produktivkräfte (was ohne eine hohe Rate produktiver Investitionen nicht ging) und erschwerten außerordentlich die Mehrung des Volkswohlstandes.
Die Vorteile der sozialistischen Produktionsweise konnten sich unter solchen Bedingungen nur unzulänglich entwickeln. Momente eines politischen Ausnahmezustandes erschwerten objektiv die Entfaltung sozialistischer Demokratie. Es gab eine „(relative) Armut der Gesellschaft, unter der die Bedürfnisse der Individuen restriktiv behandelt werden müssen.“[15] Ein wichtiger Aspekt der Kämpfe um einen Sozialismus des 21. Jahrhunderts wird sein, inwieweit sich neue Sozialismusversuche ohne einen zureichenden Entwicklungsgrad materieller Existenzbedingungen bzw. Sozialismusversuche unter den Bedingungen einer weltweiten Systemauseinandersetzung mit ihren verhängnisvollen Zwängen wiederholen werden.
Keine fertige Sozialismustheorie
Dritte These: Die Erfahrungen sozialistischer Gesellschaftsgestaltung erhärteten die Erkenntnis, dass diese Gestaltung auch in Zukunft – trotz einer Fülle von praktischen Material – ein Suchpfad sein wird und nicht die Abarbeitung einer fertigen Sozialismustheorie (auch wenn diese Theorie heute in verschiedener Hinsicht erheblich präzisiert werden kann).
Marx, Engels und Lenin hielten sich hinsichtlich eines konkreten Entwicklungsplanes für eine sozialistische bzw. kommunistische Gesellschaft sehr zurück. Ihnen ging es um Grundsätzliches: Um eine Gesellschaftsformation auf der Grundlage des gesellschaftlichen Eigentums an den Produktionsmitteln, um eine „Assoziation der Produzenten“, um eine Gesellschaft, in der alle inhumanen gesellschaftlichen Verhältnisse beseitigt werden, um eine Gesellschaft, die nicht fix und fertig auf die Welt kommt, zunächst noch mit den „Muttermalen“ der alten Gesellschaft behaftet ist und sich in einem historischen Prozess hin zum Kommunismus entwickelt.
Karl Marx verstand sich weder als ein Prophet, der Offenbarungen für die Ewigkeit verkündet, noch als Anhänger eines Primats von Theorie gegenüber der Praxis. „Die Frage, ob dem menschlichen Denken gegenständliche Wahrheit zukomme, ist keine Frage der Theorie, sondern eine praktische Frage“,[16] schrieb er im Frühjahr 1843 in der zweiten Feuerbachthese. In der ersten These hatte er seine Konzeption eines materialistischen Verständnisses von Praxis formuliert. Es gehe nicht, „dass der Gegenstand, die Wirklichkeit, Sinnlichkeit nur unter der Form des Objekts oder der Anschauung gefasst wird“. Sie müsse gerade auch „als sinnlich menschliche Tätigkeit, Praxis, nicht subjektiv“ verstanden werden.[17] In diesem Sinne polemisierte Lenin 1921 (ohne die Thesen von Marx zu kennen) im Zusammenhang mit der Abwendung vom Kriegskommunismus gegen diejenigen, die abstrakt die Frage nach dem weiteren Weg beantworten wollten: „ ... nur die weitere praktische Durchführung unserer Wendung (kann) das Material zu ihrer Beantwortung liefern“.[18]
Nach vielen Jahrzehnten Sozialismusgestaltung haben wir nunmehr eine Fülle von Material (positive, negative und tragische Erfahrungen) im Zusammenhang mit den verschiedenen Aspekten nichtkapitalistischer bzw. sozialistischer Gesellschaftsgestaltung. Zu den in diesem Zusammenhang ganz wichtigen Aspekten zählt:
· die Erkenntnis der außerordentlichen Kompliziertheit einer tauglichen Lösung der Eigentumsfrage bzw. einer wirklichen Vergesellschaftung der Produktionsmittel;
· tragfähige Einsichten in Bezug auf die langen Fristen sozialistischer Gesellschaftsgestaltung;
· vielfältige widersprüchliche Erfahrungen hinsichtlich der ökonomischen und gesellschaftlichen Rolle des sozialistischen Staates und
· hinsichtlich der Schwierigkeiten, einen neuen Typ sozialistischer Demokratie bzw. sozialistischer Staatlichkeit zu entwickeln.
Hinzu kommen Erfahrungen in Bezug auf Detailaspekte der Innenpolitik wie der Entwicklung vernünftiger Beziehungen zwischen staatlicher Verwaltung und den einzelnen Bürgern, der Gestaltung von Sozial-, Gesundheits- und Bildungswesen in einer nichtkapitalistischen Gesellschaft. Mehr problematischer Art sind die Erfahrungen im Bereich der Umweltpolitik (wobei es auch da in der DDR überzeugende Einzellösungen wie z. B. auf dem Gebiet der Wiederverwertung von Sekundärrohstoffen gab). Nicht zu übersehen sind die Erfolge bei der tatsächlichen Gleichstellung der Geschlechter und der Entwicklung eines einheitlichen Bildungssystems. Zu den Problemen, die wir nicht überzeugend zu lösen vermochten, zählt die erneute Verfestigung von Bildungsnachteilen für Kinder von Produktionsarbeitern gegenüber den Kindern von Angehörigen der Intelligenz und Beschäftigten des Staatsapparates seit den siebziger Jahren.
Hinsichtlich des Verhältnisses von Theorie und Praxis sozialistischer Gesellschaftsgestaltung hat Uwe-Jens Heuer bereits im Jahre 1990 ganz Wesentliches gesagt: „Der Marxismus ist als theoretische Bewegung stets mit der sich verändernden Welt verknüpft, antwortet auf sie, korrigiert seine Antworten. … Der Marxismus ist zu keinem Zeitpunkt ein geschlossenes System, sondern immer nur Antwort, besser ein Feld von Antworten auf die Welt. Er steht nicht nur in der Auseinandersetzung mit der Welt, sondern stets auch in innerer Auseinandersetzung. Er unterliegt dann auch immer der Gefahr irriger, unreifer und apologetischer Antworten, bestimmt durch ungenügende Kenntnis, dem Druck des Klassengegners, aber auch des Parteidogmatismus.“[19]
Sozialismus als selbständige Gesellschaftsordnung
Vierte These: Die wohl wichtigste theoretische Schlussfolgerung aus den bisherigen Erfahrungen sozialistischer Gesellschaftsgestaltung ist die Erkenntnis, dass der Sozialismus keine kurzfristige Übergangsphase zum Kommunismus, sondern eine lange andauernde, relativ selbständige Gesellschaftsordnung ist.
Walter Ulbricht formulierte diese Auffassung 1967 auf einer Konferenz zur Bedeutung des Werkes „Das Kapital“ von Karl Marx.[20] Eine solche Sichtweise richtete sich damals wie heute gegen die Illusion eines alsbaldigen Übergangs zum Kommunismus. Unter Erich Honecker wurde sie zurückgezogen. Die KPdSU wertete sie als revisionistische Abweichung. Ernsthafte Argumente gegen diese Erkenntnis sind mir nicht bekannt.[21] Die durch die Erfahrungen in der DDR bestätigte These vom Sozialismus als einer lang andauernden, relativ selbständigen Gesellschaftsordnung besagt, dass es nach der Revolution für absehbare Zeit um die Nutzung des Wertgesetzes im Rahmen des sich entwickelnden Sozialismus und in diesem Sinne geradezu um die sozialistische Ausformung der Ware-Geld-Beziehungen geht. Die materielle Interessiertheit der Werktätigen muss unbedingt gestärkt werden. Preis, Gewinn, Zins und Kredit wie auch Gruppeneigentum und das Eigentum kleiner Warenproduzenten sind keine Muttermale der alten Gesellschaft, keine „Elemente der Unreife“, sondern eminent wichtig, um die Arbeitsproduktivität in der sich entwickelnden sozialistischen Gesellschaft zu steigern, die gesellschaftliche Arbeitsteilung und den Vergesellschaftungsprozess des Eigentums konkret zu organisieren, den wissenschaftlich-technischen Fortschritt zu entwickeln, Material- und Energieverbrauch zu senken und für den Export Waren in entsprechender konkurrenzfähiger Qualität zu produzieren. Sozialismus ist insofern eine relativ eigenständige Gesellschaftsordnung, als er seine eigenen ökonomischen Gesetze, eigene soziale und politische Widersprüche hat. Er ist eine Klassengesellschaft, aber eine Klassengesellschaft ohne Ausbeuterklassen.
Eine Politik der Einschränkung der Ware-Geld-Beziehungen wird angesichts aller praktischen Erfahrungen unweigerlich in die wirtschaftliche und gesellschaftliche Misere führen. Die Entwicklung und Festigung der materiellen Existenzbedingungen für die neue Gesellschaft ist so nicht möglich. Um als neue Gesellschaft die alte Gesellschaft „überholen“ zu können, gibt es keinen anderen Weg als den der konsequenten Nutzung des Wertgesetzes für den sozialistischen Aufbau. Die Orientierung auf einen politisch forcierten Übergang zu einer Gesellschaft ohne Waren- und Geldbeziehungen ist dagegen eine illusionäre Utopie, wie sie eben häufig Eingang in durch unreife gesellschaftliche Verhältnisse bedingte unreife Theorien findet. Sie nach 70 Jahren sozialistischer Aufbaupraxis immer noch für tragfähig zu halten, zeigt, dass sich Einsichten in die Unzulänglichkeit vormaliger Theorien nicht automatisch durchsetzen, dass natürlich nach wie vor auch kommunistische Parteien sich dem Marxschen Grundsatz aus der zweiten Feuerbachthese verweigern können, es sei eine praktische Frage, ob dem menschlichen Denken “gegenständliche“ Wahrheit, „Diesseitigkeit“ zukomme. Ein Glaubenskrieg um diese Frage jenseits einer konkreten Analyse der Sozialismuspraxis und einer sachlichen Debatte unter Sozialisten und Kommunisten in den nächsten Jahrzehnten wäre auf jeden Fall fatal.
Die Reformperiode 1962-1970 und das Scheitern der DDR im ökonomischen Wettbewerb
Fünfte These: Vor allem die Erfahrungen der DDR auf dem Gebiet der Ökonomie bedürfen der Verallgemeinerung. Dabei geht es insbesondere um die Resultate des Großexperiments „Neues Ökonomisches System der Planung und Leitung der Volkswirtschaft“ (NÖSPL) sowie um den konkreten Verlauf des Wettstreits auf dem Gebiet der Ökonomie zwischen der DDR und der BRD.
Für das Scheitern des europäischen Sozialismus gab es einen Komplex von Ursachen. Dennoch war die Niederlage des Sozialismus im Systemwettbewerb im Kern zweifelsohne eine Niederlage auf dem Gebiet der Ökonomie. Die von Lenin formulierte schwierige Aufgabe, die „anderen Völker“ hinsichtlich der Arbeitsproduktivität einzuholen (und dann zu überholen), konnte nicht bewältigt werden. Die Gründe dafür waren zum Teil objektiver, aber im bedeutenden Maße auch subjektiver Art.
Die Politiker der Sowjetunion und der anderen sozialistischen Länder standen nach dem Tode Stalins in den fünfziger und sechziger Jahren vor der Herausforderung, die bestehenden administrativen Strukturen der Planung und Leitung der Volkswirtschaft zu reformieren, um so den 1917 begonnen Ausbruch Russlands aus dem kapitalistischen Weltsystem in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts erfolgreich als ökonomisch und politisch wettbewerbsfähiger Sozialismus fortführen zu können. Dieser strategischen Herausforderung wurden die Parteitage der KPdSU unter Chruschtschow nicht gerecht. Sie orientierten in Überschätzung der eigenen Möglichkeiten und Verkennung der Größe der Reformaufgaben auf einen alsbaldigen Übergang zum Kommunismus, prognostizierten eine Steigerung der Arbeitsproduktivität innerhalb von 20 Jahren um das Vier- bis Viereinhalbfache, ohne das zentralistisch-administrative System der Volkswirtschaft antasten zu wollen. Allerdings ließ Chruschtschow immerhin 1962 eine allgemeine Diskussion um die Thesen des Wirtschaftswissenschaftlers Liberman zu, der eine grundlegende Reform des ökonomischen Systems in Richtung einer deutlich stärkeren Autonomie der sozialistischen Betriebe forderte. Die neue Führung unter Leonid Breschnjew, die sich nach der Entmachtung Chruschtschows am 14. Oktober 1964 gebildet hatte, verweigerte jedoch in den nächsten Jahrzehnten derartige Wirtschaftsreformen.
Neben Ungarn war es vor allem die DDR unter Walter Ulbricht, die ab Anfang der sechziger Jahre auf grundlegende Wirtschaftsreformen setzte und in der allgemeinen Wirtschaftspraxis wie auch in einem Großexperiment Erfahrungsmaterial für ein „Neues ökonomisches System“ sammelte. Im Mittelpunkt stand dabei ganz bewusst im Sinne der strategischen Konzeption Lenins der „Kampf um die höchste Arbeitsproduktivität“, um das Einholen und Überholen der kapitalistischen Hauptländer. Diese Reformperiode der DDR von 1962/1963 bis Herbst 1970, in der das NÖS/ÖSS konzipiert und teilweise eingeführt wurde, war für die DDR „Zeit des Aufbruchs, Jahre des Vorwärtsgehens und Vorankommens, der Entdogmatisierung und des Infragestellens bisheriger Konzepte, eine Zeit großer Entwürfe und neuer Ideen. Die sechziger Jahre waren die eigentliche Reformperiode in der Geschichte der DDR, die einzige Periode, welche die Möglichkeit alternativer Entwicklungen zu einem demokratischen und leistungsfähigen Sozialismus in sich trug.“[22] Ihre genaue Untersuchung und Bewertung muss ein entscheidendes Anliegen derer sein, die in der DDR-Geschichte eine für die Debatte um die Zukunft des Sozialismus hochwichtige Phase deutscher Geschichte sehen.
Von 1962 bis 1966, in fünf Jahren, erhöhte sich die Industrieproduktion der DDR um 25 Prozent, im Bereich der Mess-, Steuer- und Regeltechnik um 85 Prozent.[23] Es gab ein groß angelegtes ökonomisches Experiment mit etwa 100 volkseigenen Großbetrieben, aber auch Mittel- und Kleinbetrieben sowie VVB’s, das sehr erfolgreich war. Über eine entschiedene Stärkung der Eigenverantwortlichkeit der Betriebe sollten die Industrieproduktion und das Nationaleinkommen erheblich gesteigert werden.[24] Nach meinem Wissen liegen die entsprechenden Akten der Arbeitsgruppe ÖSS beim Ministerrat der DDR bis heute unausgewertet in den Archiven.
Falsch ist die (auch von Führungsmitgliedern der PDL vertretene) Behauptung vom „ökonomischen Kollaps“ der DDR 1989.[25] Richtig ist, dass die ökonomische Aufwärtsbewegung besonders in den achtziger Jahren deutlich an Tempo verlor, verbunden mit einer zunehmenden Krise des Vertrauens in die Zukunftsfähigkeit des Sozialismus besonders unter Jugendlichen. Negative Auswirkungen hatte dabei nicht zuletzt „die rigorose Kürzung der Rohstoff- und Energieimporte, insbesondere Erdöl, aus der UdSSR“.[26] Unter Erich Honecker kehrte die DDR sukzessive zum zentralistischen Wirtschaftssystem zurück. Im Bereich der Wirtschaft vermehrten sich Erscheinungen negativer Art. Es gab zunehmende Schwierigkeiten im Bereich der Materialversorgung. Deutlich wurde die Unfähigkeit, den wissenschaftlich-technischen Fortschritt und innovatives Eigentümerverhalten durchzusetzen. Die Rate der produktiven Investitionen war rückläufig. Die Sozialausgaben stiegen. Die Gesellschaft lebte von der Substanz. Die Verbindlichkeiten gegenüber den kapitalistischen Staaten erhöhten sich außerplanmäßig.
Die von Klaus Blessing zusammengestellten Daten zum ökonomischen Wettbewerb zwischen DDR und BRD[27] besagen folgendes: Hinsichtlich des Bruttoinlandprodukts pro Kopf der Bevölkerung konnte die Ausgangslage 1950 (19,3 zu 100) in den fünfziger Jahren erheblich verbessert werden. 1960 lag die Relation bei 27,1 zu 100; 5 Jahre später war sie allerdings um 1,5 Punkte auf 25,6 zu 100 abgesunken. 1970 war das Verhältnis wieder auf 28 zu 100 gestiegen und im Jahre 1989 betrug es 42,9 zu 100. Genauer hingesehen ergibt sich folgendes Bild: Von 1965 bis 1975 lagen die Zuwachsraten des BIP pro Kopf in der DDR etwa bei 5,4 Prozent, 1975 bis 1985 bei 4,6 Prozent und 1985 bis 1989 unter 3,2 Prozent. Um das Entwicklungsniveau der BRD zu erreichen, wäre dagegen (entsprechend der Prognose in der erwähnten Großstudie zum NÖS) eine jährliche Zuwachsrate des Bruttoinlandprodukts von 7 bzw. 8 Prozent notwendig gewesen; dann hätte das BIP pro Kopf der DDR gegenüber dem der Bundesrepublik nicht bei unter 43 zu 100, sondern bei 67 Prozent zu 100 bzw. 80 zu 100 gelegen, mit entsprechenden Konsequenzen für den Ausgang des Systemwettbewerbs. Diese Zahlen zeigen die Härte der Anforderungen an die DDR und die Dimension der Herausforderung. Dabei ist unstrittig, dass die Niederlage des europäischen Sozialismus nicht etwa durch einen erfolgreichen Alleingang der DDR zu verhindern gewesen wäre, sondern nur mittels einer konzertierten Aktion der sozialistischen Staatengemeinschaft für ein wettbewerbsfähiges sozialistisches Wirtschaftssystem und für die Herausbildung von dem Sozialismus adäquaten Demokratieformen.
Scheitern in der Demokratiefrage
Sechste These: Eine realistische Bilanz der mit dem Sozialismusversuch verbundenen Demokratieerfahrungen der DDR besagt, dass es nicht gelungen ist, einen gegenüber der bürgerlichen Demokratie überlegenen Demokratietyp zu entwickeln, wobei eine Reihe von positiven Ergebnissen nicht übersehen werden dürfen.
Eine knappe positive Bilanz der Erfahrungen des Realsozialismus im Zusammenhang mit der Demokratiefrage und der Staatsfrage, wie sie Karl Marx in den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts nach der Pariser Kommune mit der Formulierung von der „endlich entdeckte(n) politischen Form, unter der sich die ökonomische Befreiung der Arbeit vollziehen konnte“[28], zog, ist nicht möglich. Will man die Erfahrungen gerade auch in der DDR (bzw. in den ostdeutschen Ländern nach 1945) dennoch auf eine kurze Formel bringen, so lautet die Bilanz: Nach und zusammen mit der Eigentumsfrage ist besonders die Beantwortung der Demokratiefrage als Frage der Entwicklung eines der bürgerlichen Demokratie überlegenen neuen Demokratietyps die wichtigste und wohl auch die schwierigste Aufgabe sozialistischer Gesellschaftsgestaltung.
Die Demokratiefrage – als Frage nach der mit den sozialistischen Eigentumsverhältnissen möglichen deutlichen Erweiterung der „individuelle(n) und kollektive(n) Selbstbestimmung des Volkes“[29] – hat sich als eine eigenständige Frage von grundsätzlicher Bedeutung erwiesen, die weder mit der Machtfrage noch mit der Eigentumsfrage identisch, wohl aber mit beiden eng verbunden ist.
Vor der DDR stand das schwierige Problem, wie unter den Bedingungen des Kalten Krieges, der Notwendigkeit einer konsequenten Machtsicherung der sozialistischen Umgestaltungen, einer krassen ökonomischer Unterlegenheit gegenüber der BRD und anwachsender staatlicher Verwaltungs- und Leitungsapparate ein der bürgerlichen Demokratie überlegener Demokratietyp entwickelt werden könnte. Dies gelang nicht bzw. nur in Ansätzen. Allerdings sollte dabei auch nicht übersehen werden, dass das „Auffinden“ einer dem sich entwickelnden Sozialismus adäquaten demokratischen politischen Form im 20. Jahrhundert angesichts der Dramatik der gesellschaftlichen und politischen Widersprüche und ihren wechselseitigen Verflechtungen objektiv sehr schwierig war. Die Ereignisse 1968 in Prag machten deutlich, dass es politisch hochproblematisch war (weil damit die Gegner des Sozialismus sofort eine politische Plattform erhielten), die Demokratiefrage im Kern als Frage der Rückkehr zu den Institutionen der bürgerlichen Demokratie zu stellen, und dies noch dazu in einer Situation großer wirtschaftlicher Probleme. Die unselige Militärintervention der UdSSR und anderer Staaten des Warschauer Vertrages gegen den Prager Frühling stützt bis heute die Meinung von einem 1968 gewaltsam verhinderten demokratischen Sozialismus, während es wohl tatsächlich um die erste Chance „für den Kapitalismus in Osteuropa“[30] ging.
Zu den misslichen Aspekten der DDR-Geschichte gehört, dass ihr Ende wesentlich durch die massive Verletzung demokratischer Rechte seitens der Regierenden beschleunigt wurde. Zusammen mit Versorgungsfragen und den eingeschränkten Reisemöglichkeiten waren es gerade die offenen Wahlfälschungen bei den Kommunalwahlen im Mai 1989 und die mit der Kampagne gegen die „Nörgler und Meckerer“ einhergehende Weigerung der politischen Führung, mit der Bevölkerung in einen offenen Dialog einzutreten, die die Vertrauenskrise gegenüber der politischen Führung im Herbst 1989 in eine gesamtgesellschaftliche Krise umschlagen ließen. Dass die Losungen „Wir sind das Volk“ und „Freie Wahlen“ dann nicht einen besseren Sozialismus, sondern die Konterrevolution vorbereiteten, lag in der Natur der Machtverhältnisse jener Zeit.
Eine weitere Erfahrung ist: Das aus dem „Erfahrungsobjekt Pariser Kommune“ von Karl Marx für sozialistische Demokratiegestaltung abgeleitete Konzept eines neuen Demokratietyps bzw. einer Selbstregierung des Volkes, in dem der Staat schon kein Staat mehr „im eigentlichen Sinne des Wortes“ ist, was von Lenin dann 1916/1917 in „Staat und Revolution“ bekräftigt wurde als Sowjetmacht (fast) ohne Militär-, Polizei- und Verwaltungsapparat, entsprach nur wenig der Wirklichkeit des Sozialismus und seinen Gestaltungsmöglichkeiten im 20. Jahrhunderts. Es scheiterte aus verschiedenen Gründen. Es gab eine komplizierte historische Situation, die nur eine Regierung durch eine Avantgarde zuließ und dann als etablierte bürokratische Macht mit eigenen Interessen den Übergang zum Regieren „durch das Volk“ außerordentlich erschwerte. Die demokratische Kontrolle dieser Macht war schwach; der durch sie geprägte staatlich-rechtliche Willensbildungsprozess ließ für gesellschaftliche, aber auch innerparteiliche Debatten um alternative Lösungen kaum Raum. Staatliche Leitungs- und Machtapparate zur Entwicklung der Wirtschaft erwiesen sich als unabdingbar.
Nicht übersehen werden darf bei all dem, dass es durchaus beachtenswerte Ansätze sozialistischer Demokratie gab und auch Bemühungen um deren Ausbau. Dazu gehört die Entwicklung einer sozialen Demokratie einschließlich der Gewährleistung sozialer Grundrechte wie des Rechts auf Arbeit und eines Anspruchs auf soziale Sicherheit, die Brechung des Bildungsprivilegs, ein geradezu vorbildliches Arbeitsrecht, substantielle Fortschritte hinsichtlich einer tatsächlichen Gleichberechtigung der Frauen und vielfältige Formen der Mitbestimmung in sozialen, personellen und (allerdings allzu eingeschränkt) wirtschaftlichen Fragen in den Betrieben. Wie ihre Überlebensfähigkeit nach 1989 deutlich machte, gab es mit den Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften geeignete und von den Genossenschaftsbauern überwiegend bejahte Formen einer demokratischen Vergesellschaftung des Eigentums. Auf der Grundlage des Eingabenrechts verbesserten sich seit den sechziger Jahren die Staat-Bürgerbeziehungen deutlich (ohne das Fehlen eines Verwaltungsrechts kompensieren zu können). Besonders auf dem Gebiet der Rechtspflege entwickelten sich (unter anderem mit den Konfliktkommissionen) taugliche Ansätze für die Rücknahme des Staates in die Gesellschaft. Die Politik unter Walter Ulbricht in den sechziger Jahren sah vor, das Wahlrecht demokratisch zu reformieren und die Arbeit der Volksvertretungen lebendiger zu gestalten. Das Konzept des NÖS war darüber hinaus darauf gerichtet, die Eigenständigkeit der Betriebe in Richtung genossenschaftlicher Rechte auszubauen. Mittels Produktionskomitees und Ständigen Produktionsberatungen sollten die Formen mittelbarer und unmittelbarer Demokratie in den Betrieben deutlich gestärkt werden (Art. 41, 42 und 44 der DDR-Verfassung von 1968). Ausgangspunkt war das Verständnis des sozialistischen Betriebes als Kollektiv von Werktätigen und als Wirtschaftseinheit (Betrieb, Kombinat), „die im ökonomischen System des Sozialismus im Rahmen und zur Verwirklichung der volkswirtschaftlichen Gesamtstrategie eigenverantwortlich ihr Geschäftstätigkeit als sozialistische Warenproduzenten ausarbeitet und realisiert und die Mittel zur erweiterten Reproduktion selbst erwirtschaftet.“[31]
[1] Überarbeiteter Vortrag auf dem Kolloquium des Marxistischen Arbeitskreises zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung bei der Partei DIE LINKE und der Geschichtskommission beim PV der DKP „Die DDR - ihr Platz in der Geschichte“ am 13. Juni 2009 in Berlin.
[2] Dies gilt auch für „Linke“. Ich verzichte auf die hier an sich angebrachte Polemik und Nennung von Namen, um mich auf die Sache selbst zu konzentrieren.
[3] I. Wagner, Zu Erfahrungen des europäischen Realsozialismus (DDR), in: Marxistisches Forum, H. 51, S. 3.
[4] Zur Kritik solcher Ansichten vgl.. die unter dem Titel „Die Legende von der revisionistischen Wende“ erschienenen Beiträge in Heft 56 der Zeitschrift Marxistisches Forum.
[5] F. Engels, Vorwort zur englischen Ausgabe des Kommunistischen Manifestes von 1988, MEW, Band 4, Berlin 1977, S. 579.
[6] Vgl. K. Blessing, Erfahrungen und Lehren aus der Niederlage des Sozialismus in der DDR, Teil Ökonomie, Thesen, Zeuthen, März 2009, Anlage 2.
[7] Vgl. K. Mai, War die DDR wirtschaftlich unterlegen?, in: Schattenblick vom 1. November 2008, S. 1 ff.
[8] K. Marx, Das Elend der Philosophie, MEW, Band 4, Berlin 1977, S. 181.
[9] K. Marx, F. Engels, Manifest der Kommunistischen Partei, MEW, Band 4, a. a. O., S. 481.
[10] K. Marx, Zur Kritik der Politischen Ökonomie, Vorwort, MEW, Band 13, Berlin 1972, S. 9.
[11] L. Colletti, Lenin, die Bolschewiki und die Widersprüche der Sowjetischen Revolution, in: Sozialistische Hefte, Nr. 15, Dezember 2007, S. 5.
[12] F. Kumpf, Die Not-Wende, Teil 2, „junge Welt“ vom 3. 2. 2009, S. 10.
[13] L. Colletti, a. a. O.
[14] W. I. Lenin, Über unsere Revolution, LW, Band 33, Berlin 1961, S. 465.
[15] H. Jung, Klassen und Geschichte, in: Z 28, Dezember 1996, S. 16.
[16] K. Marx, Thesen über Feuerbach, MEW, Band 3, Berlin 1978, S. 5.
[17] Ebenda.
[18] W. I. Lenin, Schlusswort auf der 7. Gouvernements-Parteikonferenz, Band 33, a. a. O., S. 311.
[19] U.-J. Heuer, Vom theoretischen Gewinn der Niederlage. Vorwort zur Neuauflage von: Marxismus und Demokratie, Baden-Baden 1990, S. III.
[20] Vgl. W. Ulbricht, Die Bedeutung des Werkes „Das Kapital“ für die Schaffung des entwickelten gesellschaftlichen Systems des Sozialismus in der DDR, Berlin 12./13. September 1967, S. 20.
[21] Die Kommunistische Partei Griechenlands (KKE) geht in ihren „Thesen über den Sozialismus“ davon aus, dass es sich beim Sozialismus nach wie vor lediglich „um einen unreifen, nicht entwickelten Kommunismus (handle)“, demzufolge es beim sozialistischen Aufbau „um die Überwindung der Elemente der Unreife“ geht, „um einen anhaltenden Kampf für die Abschaffung jeder Form von Gruppen- und Einzeleigentum“, um die Einschränkung „der Ware-Geld-Beziehungen“: Geld verliere „allmählich seinen Inhalt als Wertform und seine Funktion als Mittel zum Warenaustausch und wird in eine Form der Zertifizierung der geleisteten Arbeit überführt werden.“ Thesen über den Sozialismus, Angenommen auf dem 18. Parteitag der KKE, herausgegeben vom Sekretariat des Landesvorstandes der DKP Berlin, Konsequent, Ausgabe 2/2009, S. 13 f. und 61 f..
[22] U. Busch, Eine spannende Periode in der Wirtschaftsgeschichte in der DDR, Pankower Vorträge. Heft 23/2, Berlin 2000, S. 36.
[23] Vgl. Bericht des ZK der SED an den VII. Parteitag, 17. bis 22. April 1967, Beschlüsse und Dokumente, Berlin 1967, S. 44 f.
[24] Die dazu hier genannten Fakten beruhen auf Angaben von Roland Wötzel, der in den sechziger Jahren Sekretär der Arbeitsgruppe ÖSS beim Ministerrat der DDR war.
[25] Vgl. hierzu den Beitrag von Jörg Roesler im vorliegenden Heft.
[26] K. Blessing, a. a. O., S. 4.
[27] Vgl. ebenda, Anlage 2.
[28] K. Marx, Der Bürgerkrieg in Frankreich, MEW, Band 17, Berlin 1979, S. 342.
[29] U. J. Heuer, Marxismus und Demokratie in der Geschichte des Sozialismus, in: Z 30, Juni 1997, S. 106.
[30] J. Roesler, Mit Blick auf 1968: Wirtschafts- und politische Reformen in Osteuropa, in: Z 74, Juni 2008, S. 113.
[31] U.-J. Heuer, Artikel 41, Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik, Dokumente, Band 2, Berlin 1969, S. 185.