I.
Es scheint widersinnig, nach der Niederlage des Realsozialismus sowjetischer Prägung darüber nachzudenken, ob und inwieweit diese 70 bzw. 40 Jahre Geschichte und die dahinterstehenden Staats- und Gesellschaftsgebilde für das heutige, gar künftige Ringen um eine sozialistische Perspektive noch von Belang sind. Für die obsiegenden westlich-kapitalistischen Gesellschaften und viele ihrer neu gewonnenen Jünger ist klar, „dass im 20. Jahrhundert die europäischen Länder zwei bedeutende totalitäre Regime, das Nazistische und das Stalinistische, erlebten, die Völkermord, die Verletzung von Menschenrechten und Freiheiten, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ zu verantworten hatten.[1] Verstärkt wird auch von Linken darüber nachgedacht, diese Zeit generell als Irrweg oder doch zumindest als gescheitert für weitere Betrachtungen auszuschließen. Manche im Geiste Trotzkis argumentierende Autoren haben es hier einfach, wenn sie den Realsozialismus aufgrund seiner stalinistischen Grundstrukturen, der fehlenden Demokratie und der demzufolge auch nicht vollzogenen Vergesellschaftung der Produktionsmittel bestenfalls als staatskapitalistische Gesellschaften, wenn auch mit einer antikapitalistischen Grundausrichtung durchgehen lassen. Ebenso ist für jene basisdemokratisch Argumentierenden diese Vergangenheit obsolet, weil die Realität des DDR-Sozialismus zu marktorientiert war.[2] Gleichzeitig gerät für einige mit dem Zusammenbruch des Realsozialismus und dem Niedergang der Sozialdemokratie generell die alte Arbeiterbewegung mit ihrer Vorstellung vom Nationalstaat als Kampffeld um soziale Verbesserungen und Macht wie auch der Zusammenhang zwischen technisch-ökonomischem und sozialem Fortschritt auf das Abstellgleis der Geschichte. In Zeiten der Globalisierung funktioniere das nicht mehr.[3] Deshalb müssen sich „die aus der Arbeiterbewegung hervor gegangenen Sozialdemokraten und Linkssozialisten Europas ... dieser doppelten Herausforderung stellen und ihr Traditionsgut entsprechend adaptieren“[4] und für eine „Neue Soziale Idee“ streiten, die auf die EU ebenso setzt wie auf das positive Aufgreifen jener Erwerbs- und Regionalstrukturen, die die Globalisierung hervorbringt. Sonst bleibe man bei der Verteidigung der Modernisierungsverlierer. Das hieße dann allerdings, genau diese Traditionen, die als gescheitert angesehen werden, als nicht mehr anknüpfbar abzuhaken. Es bliebe – so die Logik – das Festhalten am Kampf um demokratische Freiheiten, um soziale Gerechtigkeit, abgelöst von den Erfahrungen und Traditionen der linken sozialen Bewegungen der Arbeiterklasse. So wären die Zeiten versuchter staatlicher Verwirklichung der Ideale der Arbeiterbewegung kein Gegenstand der Rückbesinnung und der Nachschau auf Bewahrenswertes, auch für andere linke Wege Bedenkenswertes oder schwer Lösbares. Das gälte dann für jede historisch-staatliche Erscheinungsform. Die DDR wäre hier wohl ob ihrer geringeren Verstrickungen in den Hochstalinismus, ob ihrer entwickelten Wirtschaftskraft und Sozialpolitik ein Idealbild des Realsozialismus, ohne dass die Verbrechen, Fehler und Irrtümer, die Repressionen, die Einbindung in eine an der Mauer tagtäglich zu erlebenden Blocklogik, die Bevormundung der Intellektuellen, zu vergessen sind. Aber warum sich dieser Mühe unterziehen, wenn täglich auf Vorwürfe des „Unrechtsstaates“, der „Stasi-Machenschaften“ und „-Seilschaften“ zu antworten ist. Vielleicht ist es doch einfacher, die Escape-Taste zu drücken und zu beschwören, dass die heutige Linke damit nichts zu tun hatte und nichts zu tun haben will.
II.
Die politischen Trümmer, welche die Krise der SED und ihres Staates hinterlassen hatten, machten es schon 1989/90 denjenigen SED-Mitgliedern schwer, sich neu zu orientieren, die sich zum geschichtlichen Erbe bekannten und trotz oder gerade wegen der Last SED eine Fortsetzung linker Politik unter dem Dach einer radikal zu erneuernden Partei versuchten und mit dem „Stalinismus als System“[5] brachen.
Der Umgang mit der SED und der DDR bleibt schwierig. An der selbstkritischen Einsicht, dass die DDR und ihre Führung auch für Terror, Mord und Repression Verantwortung trugen, kommt die Linke nicht vorbei und darf es auch nicht. Dabei bleiben Feststellung und Benennung der realen Dimension und die Bewertung konkreter Taten eine stets neu zu leistende Aufgabe. Ohne zu begreifen und zu akzeptieren, dass der Realsozialismus spätestens seit der sowjetischen Wende von 1927/28, seit der Durchsetzung des Stalinismus einem Thermidor unterzogen war, der, wie sich zeigte auf Dauer die sozialistische Revolution ihrer demokratischen Seite und der individuellen Freiheiten und Rechte beraubte, wird keiner linke Politik machen können. Es bleibt aber auch in dieser Zeit das Festhalten an sozialistischen Idealen, an der Idee und Praxis sozialer Gerechtigkeit und Gleichheit, an der neuen Rolle befreiter Arbeit, an einem Leben in sozialer Sicherheit. Es verbietet sich insofern, in totalitarismustheoretischer Absicht Gleichheitszeichen zwischen dem Wesen des ostdeutschen Alternativstaates und der faschistischen Diktatur zu setzen. Aber auch der Vergleich zur bundesdeutschen Realität mit ihrer vorgeblichen Freiheit wird differenziert erfolgen müssen. Obschon sich viele Linke einst und einige auch noch heute von Marx herkommend oder beeinflusst ansehen, vergessen sie einen Kern seines Denkens: die Dialektik. Marx kannte zwar nicht die DDR oder die sowjetische Geschichte, aber er wusste, „die dialektische Bewegung ... (macht) gerade das Nebeneinanderbestehen der beiden entgegengesetzten Seiten, ihr Widerstreit und ihr Aufgehen in eine neue Kategorie (aus). Sowie man sich nur das Problem stellt, die schlechte Seite auszumerzen, schneidet man die dialektische Bewegung entzwei.“[6]
Erbe ist die Einheit von SED und DDR mit ihren Leistungen und Fehlern, ihren Errungenschaften und Verbrechen. Erstmals hatte nach 1945 eine deutsche linke Partei die Gelegenheit, ihr sich sozialistisch verstehendes Programm - allerdings unter dem massiven Schutz der Sowjetunion und damit unter ihrem massiven Einfluss und unter den Bedingungen einer oft am Rande des Krieges balancierenden Systemauseinandersetzung - umzusetzen. Die Arbeiterklasse – und das hieß stellvertretend für sie die Partei – konstituierte sich als Staat, als herrschende Klasse (trotz der Blockparteien, die ab 1948 gleichgeschaltet waren und nur verlängerte, wenn auch oft genug eigenständige Arme der Kommunisten waren). Die SED hatte sich – ungeachtet der zunächst schwankenden Position der Sowjetunion, die auch mit einem neutralisierten, kapitalistischen Gesamtdeutschland wohl hätte leben mögen[7] – einen Staat geschaffen, sich mit diesem Staat identifiziert und ihn strukturell antizipiert wie gedoubelt. Das Erbe und die Tradition der SED sind so zwangsläufig identisch, was die Mitverantwortung und Eigenständigkeit der anderen politischen Kräfte der DDR, insbesondere der Blockparteien CDU, LDPD, DBD, NDPD sowie der Massenorganisationen, nur relativiert, aber nicht aufhebt.
Die SED brauchte im Unterschied zu den Sozialdemokraten in der Weimarer wie in der Bonner Republik keine Rücksicht auf Bündnispartner oder gar Wählerstimmen zu nehmen. Und sie nahm oft genug und zu ihrem eigenen Entsetzen ob der Folgen genau diese Rücksicht nicht und erhielt in den Krisen von 1953, 1961 wie 1989 dafür die Quittung. Ein nicht geringer Teil des eigenen Volkes wandte sich von ihr ab. Die Klasse, die die Arbeiterpartei zu vertreten vorgab und die sie oft genug substituierte, stellte sich in Teilen gegen sie. Trotzdem, DDR und SED waren eins, in den Leistungen wie im Versagen und Scheitern. Tradition sind die Anstrengungen zur Verwirklichung sozialistischer und humanistischer Ideale, wie sie seit den SED-Zielen von 1946 festgeschrieben wurden, die aber immer mit dem berühmten undialektischen „aber“ verbunden sind. Traditionen sind indessen eben genauso jene Versuche, die aus der Basis, aus der Funktionärsschaft, aus der Intelligenz und punktuell aus der engeren Parteiführung selbst herauskommendenden antistalinistischen, demokratischen, emanzipatorischen Politikansätze.
III.
Zu den bleibenden Leistungen, Errungenschaften[8] der SED-Politik und der DDR gehören eben nicht nur jene, die im Widerspruch zur offiziellen Politik erreicht wurden durch Eigen-Sinn[9] und Widerstand, wie sie etwa in Teilen der künstlerischen Produktion ihren Niederschlag fanden.
Diese durch eine moderne Linke aufzugreifenden Traditionen sind aber ebenso wenig zu reduzieren auf jene Linken und Marxisten, die den Marxismus von seinen Dogmen befreien wollten und mit unterschiedlicher Konsequenz Elemente eines demokratischen Sozialismus einforderten, wie dies Wolfgang Harich, Fritz Behrens und Arne Benary, Jürgen Kuczynski und Hermann Klenner, Robert Havemann und Rudolf Bahro oder Peter Ruben und Lothar Kühne, schließlich Rolf Henrich oder die Gesellschaftswissenschaftler des Projekts „Moderner Sozialismus“ versuchten. Es sind auch nicht allein jene basisdemokratischen, zivilgesellschaftlichen Strukturen, wie sie in den Bürgerbewegungen der DDR Ende der 1980er Jahre ihren Ausdruck fanden, die mehrheitlich eine demokratisch-sozialistische DDR wollten.[10] Diese erneuerte und souveräne DDR kam nicht mehr zustande, aber die antistalinistische, wenngleich „abgebrochene Revolution“[11] trug maßgeblich zum Entstehen eines demokratisch-sozialistischen Ansatzes in der SED bei, der schließlich zur PDS führte.
Zu den bedenkenswerten Traditionen gehören wesentlich soziokulturelle Einrichtungen, insbesondere Teile einer weit gefassten DDR-Sozialpolitik,[12] in denen – beabsichtigt oder durch die Kreativität der Betroffenen auch gegen zu starre Vorgaben – Strukturen und Ergebnisse entstanden, die offenbar nicht nur für die DDR von Interesse waren und bleiben: Ein modernes, einheitliches und polytechnisches Schulsystem, ein komplexes System der sportlichen wie musischen Freizeitgestaltung für Kinder und Jugendliche auf unterschiedlichem Anforderungsniveau, eine umfassende öffentliche Gesundheitsversorgung mit kooperativen Strukturen in Gestalt der Polikliniken, eine weitgehende Gleichberechtigung der Frauen, die Sicherung der Vereinbarkeit von Arbeit, Bildung und Familie für Frauen, die Öffnung der gesellschaftlichen Führungspositionen für die Angehörigen der arbeitenden Klassen, die Herausbildung solidarischer Arbeitsbeziehungen, die oft zum Leidwesen der Funktionäre Leistungsdruck und Hierarchien unterliefen und unterlaufen konnten. Das waren zivilisatorische Leistungen des Sozialismus,[13] die auch künftig für linke, sozialistische Politik unverzichtbar sein werden.
Vor allem bietet die DDR-Geschichte mit ihrer großen Reform, dem Neuen Ökonomischen System (NÖS), ein umfangreiches Erfahrungsfeld, wie unter Bedingungen eines verstaatlichten Eigentums versucht wurde, mit marktwirtschaftlichen Elementen und Hebeln Leistung als Grundlage für Sozialpolitik zu stimulieren. Auch wenn die im Unterschied zum Prager Frühling verhinderte Demokratisierung diese Reform unter den Bedingungen von Blocklogik und verfestigten stalinistischen Strukturen letztlich scheitern ließ: Hier wurden wesentliche Erfahrungen für eine Verbindung von Plan und Markt erarbeitet.[14]
Das Selbstverständnis des praktizierten Realsozialismus durch die SED war widersprüchlich und ist nicht allein auf den administrativ-zentralistischen Charakter des von der Sowjetunion übernommenen Partei- und Gesellschaftsmodells zu reduzieren. Im Kern versprach dieses Modell Frieden und Geborgenheit, soziale Sicherheit und einen wachsenden Wohlstand bei gesellschaftlich anerkannten Bedürfnissen. Die umfassende gesellschaftliche Demokratie wurde in eine fernere Zukunft verschoben und reduzierte sich in der Regel auf eine oft genug tatsächliche basisdemokratische Demokratie in den Arbeitskollektiven, ohne dass diese auf die gesamtgesellschaftlichen Prozesse selbst aktiv einwirken konnte. Dies führte immer dann zu Konflikten, wenn die Partei und ihre Führung in der Bestimmung der Politik von den Interessen der Bürger abwichen. Spätestens dann griff die ganz reale – wenn auch in der DDR-Wirklichkeit von Jahrzehnt zu Jahrzehnt unterschiedene und sich abschwächende – Diktatur und Repression einer „neuen Klasse“ und ihres Sicherheitsapparates gegenüber der eigenen Partei wie der Gesellschaft.
Die verwirklichten Elemente einer sozialistischen Politik mit einem hohem Maß an gesellschaftlicher Gleichheit, gar eine partielle gesellschaftliche Nivellierung, die relativ gleichmäßige Verteilung der wirtschaftlichen Früchte wie des Mangels, die breiten Zugänge zu Bildung, Kultur und Kunst für alle gesellschaftlichen Schichten bei durchaus starren dogmatischen Rahmensetzungen und nicht zuletzt eine fast durchgängig auch von Bevölkerungsmehrheiten akzeptierte Außenpolitik, die als Friedenspolitik wie als solidarische Politik gegenüber um ihre Unabhängigkeit kämpfenden Völker verstanden wurde, entsprachen den ursprünglichen Idealen der Arbeiterbewegung.
Außer der kurzen Zeit der Wirtschaftsreform der 1960er Jahre dominierte ein verkürztes Marx-Verständnis von der sozialistischen Gesellschaft die SED-Politik. Entgegen den praktischen Erfordernissen verstand die offizielle Politik den Realsozialismus eher als eine Nicht-Warenproduktion mit nicht mehr wesentlichen Ware-Geld-Beziehungen und einem Verzicht auf Leistungskriterien. Das entsprach den Grenzen der sozialistischen Vorstellungen von einem Zukunftsstaat, der sich trotz der Demokratisierung gesellschaftlicher Verhältnisse und einer umfassenden Sozialpolitik als faktischer Eigentümer und Organisator der Volkswirtschaft verstand und verstehen musste. Die Entscheidung, ob der Staat mit seinem Plan und Direktiven regulieren muss oder ob wirtschaftliche Mechanismen mit Markt oder Gewinn greifen, war in der DDR schließlich politisch getroffen worden. Dieses Dilemma durchzog die gesamte Geschichte des Realsozialismus, ohne dass eine gültige, gar erfolgreiche Lösung gefunden wurde. Wobei die Lösung sicher nicht in einem Entweder-Oder zu finden ist. Mit einem solchen Problem waren und sind sozialdemokratische Parteien nicht konfrontiert, die selbst in ihren machtvollsten Positionen in Skandinavien oder im Nachkriegs-Großbritannien wirtschaftlich nur sehr begrenzte Eingriffe in die Eigentumsverhältnisse vornahmen. „Die Anhänger des Sozialismus besitzen das gute Recht zu behaupten, das, was in Osteuropa geschehen sei, erlaube keine theoretische Schlußfolgerung im Hinblick auf den Sozialismus an sich“, wie der schwedische Sozialwissenschaftler Göran Therborn in einem fundamentalen Gesellschaftsvergleich Europas des 20. Jahrhunderts herausarbeitet. „Dennoch darf der Gesellschaftshistoriker dabei nicht vergessen, daß die UdSSR und das Nachkriegsosteuropa, wie umstritten deren sozialistische Legitimation auch immer sein mag, die weitreichendsten und kühnsten sozialistischen Versuche in Europa darstellten. Was die konkreten Ergebnisse anbelangt – nämlich im Hinblick auf die Gleichheit der Aufgaben, Rechte, Mittel und Risiken –, so stehen die Errungenschaften der nordischen Sozialdemokratien nicht hinter denen ihrer revolutionären Rivalen zurück, eher im Gegenteil. (Ob die nordische Sozialdemokratie allerdings jemals eine realistische Option für Osteuropa darstellte, ist einen andere Frage.)“[15]
Die SED sah sich in der Tradition der Ziele der Arbeiterbewegung seit dem „Kommunistischen Manifest“ – auch wenn vielleicht in einer anderen als der heutigen Lesart des „Manifestes“, was das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft/Klasse betrifft, die zum ersten Mal ein Schriftsteller, Stefan Hermlin,[16] in den reiferen Jahren der DDR thematisierte. „An die Stelle der alten bürgerlichen Gesellschaft mit ihren Klassen und Klassengegensätzen tritt eine Assoziation, worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist.“[17] Der zentrale Satz bei Marx/Engels bedeutet eben nicht die Negierung des Individuums, sondern eigentlich Ausdruck der allein durch eine sozialistische Revolution mögliche Befreiung desselben von politischen, wirtschaftlichen und ideologischen Zwängen und Unterrückungen. Der versprochene „Sprung der Menschheit aus dem Reiche der Notwendigkeit in das Reich der Freiheit“[18] hätte auch in der DDR gewagt werden müssen. In der Praxis blieb das Engagement der SED für den Sozialismus das Engagement eines fürsorglichen paternalistischen und patriachalen Systems, eines erziehenden, strafenden, verzeihenden und behütenden Übervaters. Notwendigerweise musste sich das Problem des verlorenen „utopischen Überschusses“ (Frank Deppe)[19] manifestieren, das sich aus der unvermeidbaren Kluft zwischen den Versprechungen wie Erwartungen und den Möglichkeiten wie den sich wandelnden Rahmenbedingungen ergibt. Das utopische Ziel für die SED war das Ziel der Arbeiter in der Weimarer Republik. Resigniert musste der letzte Vorsitzende der Staatlichen Plankommission, Gerhard Schürer, eingestehen: „Honecker hat aufgrund seiner Lebenserfahrung ein ganz einfaches Modell des Sozialismus im Kopf gehabt: Die Menschen brauchen eine trockene, warme Wohnung, billiges Brot als Grundnahrungsmittel, sie brauchen Arbeit, damit sie beschäftigt sind und Leistungen bringen können, und dann wird der Sozialismus blühen und gedeihen.“[20] Es war ein verkürztes Verständnis der materiellen Bedürfnisse, die mehr und mehr Ulbrichts späte realistischere Vorstellung vom neuen Menschen, seiner Kultur und seiner Lebensweise verdrängte. Es war die Reduzierung auf die einfachen materiellen Bedürfnisse – extrem im „ich leiste was, ich leiste mir was“ zugespitzt. Es verwies auf die Grenzen der Triebkräfte des Realsozialismus für einen neuen Menschen, der aus Enthusiasmus handelt und der Notwendigkeit, diesen praktisch zu erden – aber eben mit Verlusten und mit dem Verzicht auf eine Wiederbelebung des NÖS, das genau an dieses Ziel anknüpfte und es in ein Gesamtsystem einband.
IV.
Der Rückgriff auf die Erfahrungen des Realsozialismus – und streng genommen müssten hier auch die Erfahrungen des reformistischen Weges in Westeuropa eingeschlossen werden – bleibt trotzdem schwierig. Leistungen wie Grenzen haben offensichtlich nicht nur etwas mit den zähen stalinistischen Strukturen, mit dem Wirken der Systemauseinandersetzung oder der nicht im Realsozialismus gelegenen Definitionsmacht für Bedürfnisse zu tun. Es gibt Antinomien, unvereinbare Widerspruchsseiten, die Konsequenzen für Gesellschaftsgestaltung haben.[21] Das gilt erst recht für die Gestaltung von Alternativen zum Kapitalismus. Hier liegt ein, vielleicht das zentrale Problem des Verständnisses des gescheiterten wie jedes künftigen Sozialismus. In dieser neuen Gesellschaft wirken nicht entscheidbare Widersprüche, die an die politische Gestaltung dieser Gesellschaft, nicht allein an eine Partei oder den Staat, sondern ebenso an die Zivilgesellschaft Anforderungen stellen. Das betrifft u.a. die Wechselwirkung und den Widerspruch zwischen sozialer Sicherheit und Dirigismus, individueller Selbstverwirklichung und Kollektivität, Vollbeschäftigung und Arbeitspflicht, selbstbestimmter Arbeit und Einzelleitung, Basisdemokratie und Zentralismus, unentgeltlichem Zugang zu Ressourcen und wirtschaftlicher Effizienz, um nur einige zu nennen. Dass sie im Ostblock nicht beherrscht wurden, hatte oft genug mit Inkompetenz der politischen Führungen, teilweise schlechten Führern zu tun. Nur, auch mit besseren Führern, auch in Reformprozessen ging es immer nur um ein besseres Austarieren der jeweiligen Seiten, was oft genug angesichts des Weiterwirkens der im Stalinismus begründeten genetischen Fehler schwierig genug war. Aber auch jeder künftige Versuch wird vor diesen Antinomien stehen, und jeweils konkrete Antworten in der Situation finden müssen. Allein, einmal gegebene Antworten werden auch künftig nicht ausreichen.
V.
Linke, auch die in der gleichnamigen Partei, sind hin- und hergerissen zwischen einem radikalen „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ und dem eher handwerklichen, reformerischen „Reiten des Tigers Kapitalismus“, um hier und heute den Menschen zu helfen, ohne sie zu sehr zu verunsichern und vor existentielle Herausforderungen zu stellen. Es ist der alte – immer weniger ausgesprochene – Streit zwischen Maximal- und Minimalforderungen einer Kraft, die den Kapitalismus überwinden und letztlich eine sozialistische Zukunft will. Schon hier fängt es, an ungewiss zu werden, ist nicht immer klar, was von sozialistischen Zielen, gar Utopien heute noch jenseits der Schlagworte Gerechtigkeit, Solidarität, Demokratisierung aller Lebensbereiche zu halten ist. Seitdem nicht wenige linke Politiker die Freiheit in ihrer individuell-staatsbürgerlichen Dimension wiederentdecken, verliert sich zu oft, wie sie mit sozialen Freiheiten und Rechten, gar Macht zusammenhängt. Programmatik heute wird wieder und wieder die Geschichte befragen müssen. Denn die Linken stehen – wie alle anderen politischen Akteure – in einem historischen Kontext. Aber ob dieser Geschichte sind sie sich nach ihrer fundamentalen Niederlage weniger denn je sicher.
Fast jede heutige, nicht nur linke politische Diskussion ist mit den überkommenen Resultaten wie auch Erfahrungen verknüpft – egal, ob der Staat als Wirtschaftsakteur, die Zielrichtung von Sozialpolitik oder die Zusammenarbeit mit politischen Konkurrenten gemeint ist. Vorbelastungen lassen zurückschrecken, manche Wege scheinen sich als Irrtum zu bestätigen. Die Bezugnahme auf die eigene Geschichte bleibt problematisch. Einerseits haben die heutigen linken Formationen – in Deutschland zumindest die PDS und Teile der aus ihr hervorgegangenen Linkspartei – ihre Daseinsberechtigung aus Kritik und Ablehnung des praktizierten Sozialismus in der DDR, seines stalinistischen oder spätstalinistischen Modells erringen müssen. In der überwiegenden Mehrheit erst 5 Minuten vor 12 Uhr hatten sie begriffen, dass dieser Realsozialismus ein Verrat an den sozialistischen Idealen der Vorvorderen darstellte und eine Entschuldigung bei den eigenen Genossen und Bürgern ebenso notwendig war wie die Entscheidung des Außerordentlichen SED-Parteitages, mit dem Stalinismus als System zu brechen. Manche Westlinke hatten ihnen diese Einsicht lange voraus. Zum anderen meinen immer mehr Funktionsträger wie einfache Mitglieder und Sympathisanten, dass der Anspruch, in der modernen bürgerlichen Gesellschaft BRD agieren zu können, den Bruch mit der versuchten realsozialistischen, überhaupt links-klassenkämpferischen Vergangenheit verlangt. Schließlich ist zu berücksichtigen, dass mit einstigen Sozialdemokraten oft ein antikommunistisches, aber durchaus staatsorientiertes radikales Sozialismuserbe in die Partei hineinkommt.
Die Geschichtspolitik der Herrschenden und ihre fast gleichlautenden Nachbeter in den Medien sorgen immer wieder dafür, dass die Jahrestage der Zeitgeschichte zu Bestätigungsritualen der obsiegenden kapitalistischen Gesellschaft, Wirtschaft und Politik werden. Das linke Gegen- und mehr und mehr Mithalten vermag nur partiell und randständig ein komplexeres, ausgewogeneres Bild des gewesenen Realsozialismus, seiner Bedrohungsängste wie seiner Lasten, aber auch seiner Fehler, Fehlurteile und Repressionen zu zeichnen. Das gilt auch für das genauere Erfassen eines kritisch zu beurteilenden Erbes des praktizierten Sozialismus und noch mehr für das Auffinden von Traditionen, von unverzichtbaren Verbindungslinien zu historisch gemachten Erfahrungen – im Namen von SED und DDR wie auch im damaligen Widerspruch zu diesen.
Auch wenn es kaum ausgesprochen wird: Geschichtspolitik ist eingreifende Politik in die heutigen politischen Auseinandersetzungen, gerade gegen jene, die den Kapitalismus und die bürgerliche Ordnung eben nicht für das Ende der Geschichte halten. Die dominierende Geschichtspolitik macht auch um Linke keinen Bogen, erschwert ihnen, sich der Vergangenheit zu stellen. Vor allem aber ist die offiziöse Geschichtspolitik gegen jede historische Alternative gerichtet. Selbst seriöse Fachhistoriker begreifen das Dilemma und versuchen gegenzuhalten: „Die DDR-Aufarbeitung setzt den Historisierungsanspruch der Fachwissenschaft in einen Dauerkonflikt mit dem Delegitimierungsanspruch der Erinnerungspolitik, aus dem es kein Entrinnen gibt, wenn die Zeitgeschichte sich ihrer öffentlichen Inanspruchnahme nicht grundsätzlich verweigern will. Wohl aber bieten sich Wege an, das Dilemma der zeitgeschichtlichen DDR-Aufarbeitung erträglich zu machen. An oberster Stelle steht dabei die Aufgabe der Fachwissenschaft, in der Sphäre der Gedenkpolitik und der Erinnerungskultur kompromisslos auf die Einhaltung fachlicher Standards zu dringen. Gleichviel, ob es um die wissenschaftliche Abteilung der Gauck-Birthler-Behörde, die Einrichtung von DDR-Museen oder die projektgebundene Forschungsfinanzierung an Gedenkstätten und Lernorten geht, stets und überall bedarf es der Beratung und Begutachtung durch die Fachwissenschaft, um darauf hinzuwirken, dass das öffentlich vermittelte DDR-Bild dem zeitgeschichtlichen Erkenntnisstand ebenso wie den didaktischen Maximen von Kontroversität und Nicht-Überwältigung entspricht.“[22] Diese Position der Sabrow-Kommission hat zumindest etwas den Druck der totalitarismustheoretisch definierten Vergangenheitsbewältigung widersprochen, ohne aber wirklich einen Neubeginn zu erreichen.
Trotzdem bleibt es dabei – und die Enquete-Kommissionen des deutschen Bundestages haben dafür nachhaltig den antikommunistischen Boden gepflügt: Konträre Akteure hoffen, gerade unter Jubiläums-Daten die Geschichte nach ihrem Gusto zu interpretieren und heutiges Handeln zu legitimieren. Allerdings geht es jetzt nicht mehr um wirkliches Neuschreiben von Geschichte, wie dies nach dem Ende der Blockkonfrontation möglich und notwendig geworden war. Die Ostarchive haben ihre Geheimnisse preisgegeben. Stereotype und Vorurteile konnten bestätigt oder beerdigt werden, unerfreuliche, auch verbrecherische Fakten liegen fast allesamt auf dem Tisch. Sie sind wesentlich Resultat der Mainstream-Wissenschaft, auch wenn differenzierte Sichten vor allem aus dem Potsdamer Zentrum für Zeitgeschichtliche Forschungen die Vormacht totalitarismustheoretischer Darstellungen etwas einschränken. Aus der Feder von einstigen DDR-Historikern und linken Wissenschaften gibt es interessante Einzelbeiträge in soliden Monographien und einer breiten „grauen“ Literatur.[23] Nicht zuletzt die großen Handbücher zur deutsch-deutschen Zeitgeschichte,[24] zur DDR[25] und zur SED[26] gehören dazu. Die eigentlichen Geschichtsbücher[27] zur Geschichte der DDR, der SED und Nachkriegsdeutschlands stehen trotz mancher Vorarbeiten aus und werden wohl auf längere Zeit ausbleiben müssen und erst von einer neuen Generation Wissenschaftlern und einer anderen Geschichtspolitik der RLS-Stiftungslandschaft[28] möglich werden.
Denn es ist auffällig: trotz der 44-jährigen Existenz der SED zwischen 1946 und dem Außerordentlichen Parteitag 1989 existiert bis heute keine wirkliche kritische, aber prosozialistische Geschichte der SED,[29] geschweige denn der DDR.[30] Selbst zu den Spitzenfunktionären dieser Partei findet sich nur rudimentär eine kritische historische Literatur. Der Büchermarkt ertrinkt stattdessen in Einzeldarstellungen zu ziemlich jedem Pups der SED und der DDR. Dagegen fehlt aber die Bereitschaft, ausgehend oder gar konträr zum Befund der Eppelmann-Kommissionen eine kritische, aber ausgewogene Geschichte der Staatspartei und ihres Staates zu schreiben. Dazu kommt, dass die Linke (als Masse wie als Partei) mehr Angst und Sorge umtreibt als die Bereitschaft, sich diesem Kapitel ihrer Vorgeschichte wirklich zu stellen. Es bleiben oft genug die Sprechblasen der Pragmatiker, die kaum von denen zu unterscheiden sind, die die Zeitgeist-Auguren vertreten oder konträr dazu ebenso einseitig von den ewigen Nostalgie-Redereien zur Verklärung der DDR. Die Unfähigkeit, die DDR und ihre Partei so zu betrachten, wie sie Historiker und heutige Politiker bräuchten: In den Fakten sicher, in den Wertungen kritisch, aber auch im Sehen der Probleme, vor denen man stand, lässt auch für den nächsten sozialistischen Versuch nur die Niederlage erwarten. Anzumerken bleibt, dass gleichfalls eine differenzierte aktuelle Auseinandersetzung mit der sozialdemokratischen Geschichte in Deutschland fehlt, denn selbst diejenigen Sozialdemokraten, die über die WASG in die neuen Partei DIE LINKE kamen, haben bislang bestenfalls Kritiken der neoliberal gewendeten SPD unter Gerhard Schröder geliefert.
Die parallel einsetzende nüchterne Aufarbeitung des westlichen Kalten Krieges[31] wirkt dessen ungeachtet nicht vergleichbar zerstörerisch auf den historischen Nimbus des einstigen Contraparts und heutigen Triumphators. Sicher auch, weil der Kapitalismus sowieso nur als blutbefleckt erinnerlich ist und sich Ostpropaganda nun aus Westarchiven bestätigt – vor allem aber, weil Siegern niemand unbequeme Fragen stellen mag.
Für die alt-neuen Besitzstandswahrer West sind Jahrestage nicht schlecht, weil sie mit Fakten, Klischees und Medienmacht ihre Themen besetzen – bürgerliche Demokratie und Ordnung, Triumph von Demokratie und Marktwirtschaft über Diktatur und Planwirtschaft. Für Linke sind Jubiläen eher zum Nachdenken und sollten zur Wiedergeburt verschütteten dialektischen Denkens nötigen. Denn weder die bürgerlich-demokratische Revolution 1918/19 noch die „doppelte Staatsgründung“ unter zwar antifaschistischen und demokratischen Vorzeichen in West wie Ost 1949, jedoch auf konträre ordnungspolitische und Blocksysteme ausgerichtet, noch antistalinistische Revolution und prokapitalistische Reorganisation eines nunmehr wieder weltweit agierenden Kapitalismus 1989/91 halfen, jene Verhältnisse wirklich umzuwerfen, „in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist“.[32]
Sie brachten Fortschritte, bürgerlich-demokratische Errungenschaften des Kapitalismus, waren Folgen von Klassenkämpfen. Noch mehr aber zeugten sie von erfolgreicher Modernisierung und Manipulierung durch eine gewiefte herrschende Klasse, die aus ihren Niederlagen zu lernen vermochte, um ihre Plusmacherei zu verewigen.
Die Linke hat in diesem Streit die Not wie die Chance, nicht allein Last und Resultate des Kampfes bundesdeutscher Gewerkschafter, Sozialdemokraten und pluraler Linker um soziale und demokratische Errungenschaften kritisch zu durchleuchten. Denn der Kapitalismus blieb, der Wegfall des konkurrierenden Widerparts DDR öffnete auch mit SPD-Agenda-Hilfe den Neoliberalen Tür und Tor.
Sie muss genauso und noch mehr 45 Jahre die radikale Linke an der Macht, den verwirklichten DDR-Sozialismus kritisch überprüfen. Für den rechts-konservativen Zeitgeist eine leichte Übung, weil dieser nur einen Irrweg von Anfang an, ein Unrechts- und Terrorregime zu erkennen vermag. Denn hier ging es dem Kapital an den Kragen, oft genug um einen hohen Preis. Auch wenn es in der Geschichtsschreibung mittlerweile differenziertere Sichten auf die „durchherrschte Gesellschaft“ mit ihren vielfältigen Facetten von „Fürsorge-Diktatur“[33] bis „Eigen-Sinn“ gibt, sind Linke gefordert. Nicht (nur), weil es immer noch Miterbauer dieser nichtkapitalistischen Gesellschaft gibt, die links wählen und die ob einst vergossenen Herzbluts und Schweiß, ob Enthusiasmus und Mut keinesfalls verprellt werden dürfen. Aber egal, ob manch politisch Verantwortlicher sich von dieser DDR distanzieren will oder nicht, Bezugspunkt für Abgrenzung oder Bekenntnis, für Lernen aus der Geschichte und Suche nach Alternativen bleibt deren Politik. Egal, ob gut oder schlecht – diese DDR bleibt auf Dauer Synonym für einen sozialistischen Versuch.
Unzweifelhaft müsste sein, dass DDR und SED 1989/90 von Bürgern wie Parteimitgliedern mehrheitlich so nicht mehr gewollt wurden. Für die DDR schlägt stärker zu Buche, dass die Krise 1989 (wie bereits 1956 in Ungarn, 1968 in Prag, 1970-80 in Polen und schleichend über die 1950-80er Jahre nach dem XX. Parteitag, in der sich wandelnden Ost-West-Auseinandersetzung, den sozialstrukturellen und wirtschaftlichen Folgen der Produktivkraftrevolution) einen erneuerten, endlich demokratisierten Sozialismus auf der Tagesordnung stellte. Die Perestroika war damals dessen letzter umfassender Anlauf, obwohl ihre Praxis enttäuschte und die Sowjetunion ob Führungsschwäche und aufbrechender Konflikte kollabierend, Osteuropa und die DDR in den Sog mitriss. Weder in Moskau noch in Berlin wurden die Partei, auch nicht die Reformer, Herr der inneren Widersprüche. Der Sieg des Westens im Kalten Krieg bedurfte nur geringer, wenn auch zielgebender äußerer Impulse.
Damit steht die Frage, was dieser neue Sozialismus leisten müsste, wo er auf dem Realsozialismus aufsetzt und was er von ihm ablehnen müsste: weil es kein Sozialismus war wegen seiner fehlenden umfassenden Demokratie, weil er nicht mehr zeitgemäß war und repressive wie administrative Konflikt“lösungen“ präferierte, da ihm andere, demokratisch-zivilgesellschaftliche Mechanismen fehlten, weil er stagnierte und auf Reformen verzichtete; schließlich, weil er ideologisch kollabierte und antiutopisch, d.h. antiemanzipatorisch und antisozialistisch wurde.
Das überkommene Sammelsurium des Realsozialismus, das umfassende Erbe, aus dem die vielfältigen Traditionsmomente ausgeklaubt werden müssen und einer dialektischen Betrachtung zu unterziehen sind, ist aber eben nicht zu erklären ohne die Ausgangsbedingungen des Realkapitalismus – in seiner diktatorischen (kaiserlichen, faschistischen) und repressiven (Novemberrevolution, Weimarer Republik, bundesdeutscher Alltag), kriegerischen (Erster wie Zweiter Weltkrieg, Kolonialkriege, Bürgerkrieg) und militant antikommunistischen wie antisozialistischen Vorgehensweise (mindestens seit 1844, 1848, Sozialistengesetze usw.). Die Linke, auch die SED, wollte eine andere Gesellschaft frei von Ausbeutung und Unterdrückung, von Ungerechtigkeit und Diktatur der ökonomisch Mächtigen. Sie konnte 40 Jahre diesen Anspruch verkünden, Maßregeln praktizieren und gleichzeitig auch die Grenzen dieses Versuchs in einem Kalten Krieg, in einem sowjetisch dominierten Block, in einem stalinistischen Politik- und Gesellschaftsmodell nicht überwinden.
Anlässlich der Biermann-Ausbürgerung hielten kritisierende DDR-Intellektuelle[34] ihrer Partei- und Staatsführung ein Marx-Zitat als Spiegel vor, das erst recht für die kritische, linke Auseinandersetzung mit dem Erbe der SED und der DDR und der Suche nach Traditionslinien verbunden bleibt: „Bürgerliche Revolutionen, wie die des achtzehnten Jahrhunderts, stürmen rascher von Erfolg zu Erfolg, ihre dramatischen Effekte überbieten sich, Menschen und Dinge scheinen in Feuerbrillanten gefaßt, die Ekstase ist der Geist jedes Tages; aber sie sind kurzlebig, bald haben sie ihren Höhepunkt erreicht, und ein langer Katzenjammer erfaßt die Gesellschaft, ehe sie die Resultate ihrer Drang- und Sturmperiode nüchtern sich aneignen lernt. Proletarische Revolutionen dagegen, wie die des neunzehnten Jahrhunderts, kritisieren beständig sich selbst, unterbrechen sich fortwährend in ihrem eignen Lauf, kommen auf das scheinbar Vollbrachte zurück, um es wieder von neuem anzufangen, verhöhnen grausam-gründlich die Halbheiten, Schwächen und Erbärmlichkeiten ihrer ersten Versuche, scheinen ihren Gegner nur niederzuwerfen, damit er neue Kräfte aus der Erde sauge und sich riesenhafter ihnen gegenüber wieder aufrichte, schrecken stets von neuem zurück vor der unbestimmten Ungeheuerlichkeit ihrer eignen Zwecke, bis die Situation geschaffen ist, die jede Umkehr unmöglich macht, und die Verhältnisse selbst rufen:
Hic Rhodus, hic salta!
Hier ist die Rose, hier tanze!“[35]
[1] Resolution on Divided Europe Reunited: Promoting Human Rights and Civil Liberties in the OSCE Region in the 21st Century. In: Vilnius Declaration of the OSCE Parliamentary Assembly and Resolutions Adopted at the Eighteenth Annual Session. Vilnius, 29 June to 3 July 2009 -http://www.oscepa.org/images/stories/documents/activities/1.Annual%20Session/2009_Vilnius/Final_Vilnius_Declaration_ENG.pdf [19.7.2009].
[2] Stellvertretend für solche Positionen Klenke, Olaf: Kampfplatz Mikroelektronik. Rationalisierung und sozialer Konflikt in der DDR, Hamburg 2008, bes. S. 31-39ff.; Gerhardt, Sebastian: Die Hebelwirtschaft der DDR – Zur Kritik einer moralischen Ökonomie. In: Gehrke, Bernd/Rüddenklau, Wolfgang (Hrsg.): ... das war doch nicht unsere Alternative. DDR-Oppositionelle zehn Jahre nach der Wende, Münster 1999, S. 279-301.
[3] Siehe Falkner, Thomas: Am Bedarf vorbei? Gesellschaftliche Umbrüche und das Beispiel der Linkspartei. In: Berliner Republik. H. 4/2009 – http://b-republik.de/b-republik.php/cat/8/aid/1526/title/Am_Bedarf_vorbei_ [18.7.2009]
[4] So in der Langfassung des obigen Artikels: ders.: Gesellschaftliche Umbrüche, DIE LINKE und Zukunftsfragen der Linken in Deutschland, 6. Juli 2009 – http://www.thomasfalkner.de/aufsaetze/berlinerrepublik_072009.pdf [18.7.2009]
[5] Schumann, Michael: Zur Krise in der Gesellschaft und ihre Ursachen. In: Hornbogen, Lothar/Nakath, Detlef/Stephan, Gerd-Rüdiger in Zusammenarbeit mit Manfred Meineke und Marga Voigt: Außerordentlicher Parteitag der SED/PDS. Protokoll der Beratungen am 8./9. und 16./17. Dezember 1989 in Berlin, Berlin 1999, S. 179.
[6] Marx, Karl: Das Elend der Philosophie. In: Marx/Engels: Werke, Berlin 1956ff (im Weiteren: MEW Bd. 4, S. 133.
[7] Siehe Loth, Wilfried: Stalins ungeliebtes Kind. Warum Moskau die DDR nicht wollte, Berlin 1994.
[8] Zum Begriff siehe ausführlich Bollinger, Stefan: Stichwort: „Errungenschaften des Sozialismus“. In: Haug, Wolfgang Fritz (Hrsg.): Historisch-kritisches Wörterbuch des Marxismus. Bd. 3 Ebene bis Extremismus, Hamburg 1997, S. 795ff.; generell: ders./Vilmar, Fritz Hrsg.: Die DDR war anders. Eine kritische Würdigung ihrer sozialkulturellen Einrichtungen, (2 Bd.) Berlin 2002.
[9] Siehe Lindenberger, Thomas (Hrsg.): Herrschaft und Eigen-Sinn in der Diktatur. Studien zur Gesellschaftsgeschichte der DDR, Köln-Weimar-Wien 1999.
[10] Zur kritischen Sicht auf die Bürgerbewegungen und den Resultaten des Herbstes 1989: Gehrke, Bernd/Rüddenklau, Wolfgang (Hrsg.): ... das war doch nicht unsere Alternative, a.a.O.
[11] Siehe Bollinger, Stefan: 1989 – eine abgebrochene Revolution. Verbaute Wege nicht nur zu einer besseren DDR?, Berlin 1999; ders. (Hrsg.): Das letzte Jahr der DDR. Zwischen Revolution und Selbstaufgabe, Berlin 2004.
[12] Siehe Bollinger, Stefan: Sozialstaat DDR. Überlegungen zu Geschichte und Gegenwart. hefte zur ddr-geschichte. H. 94, Berlin 2005.
[13] Zum Ansatz und zum Inhalt zivilisatorischer Leistungen siehe ausführlicher: ders.: Zivilisatorische Leistungen des Sozialismus? Skizzen zu Lasten und Traditionen. Pankower Vorträge. H. 74, Berlin 2005.
[14] Siehe u.a. Roesler, Jörg: Zwischen Plan und Markt. Die Wirtschaftsreform in der DDR zwischen 1963 und 1990, Freiburg-Berlin 1990; ders.: Das NÖS als Wirtschaftskonzept. Sichten, Tatsachen, Interpretationen. In: Deutschland-Archiv, Opladen. H. 3/1998, 3, S. 383ff.; Steiner, André: Die DDR-Wirtschaftsreform der sechziger Jahre. Konflikt zwischen Effizienz- und Machtkalkül, Berlin 1999; einen aktuellen vergleichenden Blick bieten: Boyer, Christoph (Hrsg.): Sozialistische Wirtschaftsreformen. Tschechoslowakei und DDR im Vergleich, Frankfurt/M. 2006; ders. (Hrsg.): Zur Physiognomie sozialistischer Wirtschaftsreformen. Die Sowjetunion, Polen, die Tschechoslowakei, Ungarn, die DDR und Jugoslawien im Vergleich, Frankfurt/M. 2007; zum Platz im Kontext des Jahres 1968 siehe Bollinger, Stefan: 1968 – die unverstandene Weichenstellung, Berlin 2008.
[15] Therborn, Göran: Die Gesellschaften Europas 1945-2000, Frankfurt/M.-New York 2000, S. 357.
[16] Siehe Hermlin, Stephan: Abendlicht, Leipzig 1979, S. 20ff.
[17] Marx, Karl/Engels, Friedrich: Manifest der kommunistischen Partei. In: MEW. Bd. 4, S. 482.
[18] Engels, Friedrich: Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft. In: MEW Bd. 20, S. 264.
[19] Frank Deppe: Ende oder Zukunft der Arbeiterbewegung?, Köln 1984, S. 256.
[20] Schürer, Gerhard/Wenzel, Siegfried: Wir waren die Rechner, immer verpönt. In: Pirker, Theo/Lepsius, M. Rainer/Weinert, Rainer/Hertle, Hans-Hermann: Der Plan als Befehl und Fiktion. Wirtschaftsführung in der DDR. Gespräche und Analysen, Opladen 1995, S. 78.
[21] Siehe ausführlicher: Bollinger, Stefan: Zivilisatorische Leistungen des Sozialismus? a.a.O., Kap. 2.
[22] Sabrow, Martin: Historisierung der Zweistaatlichkeit. In: Aus Politik und Zeitgeschichte – Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament, Bonn (im Weiteren: APZ). H. B 3/2007, S. 21; vgl. ausführlicher die jüngste Debatte um eine differenziertere offiziöse Geschichtspolitik: ders./Eckert, Rainer/Flacke, Monika/Henke, Klaus-Dietmar/Jahn, Roland/Klier, Freya/Krone, Tina/Maser, Peter/Poppe, Ulrike/Rudolph, Hermann (Hrsg.): Wohin treibt die DDR-Erinnerung? Dokumentation einer Debatte, Bonn 2007.
[23] Zu nennen sind besonders die „hefte zur ddr-geschichte“ von Helle Panke – Rosa-Luxemburg-Stiftung Berlin e.V.
[24] Siehe Burrichter, Clemens/Nakath, Detlef/Stephan, Gerd-Rüdiger (Hrsg.): Deutsche Zeitgeschichte von 1945 bis 2000. Gesellschaft – Staat – Politik. Ein Handbuch, Berlin 2006 (im Weiteren: Handbuch Zeitgeschichte).
[25] Siehe Stephan, Gerd-Rüdiger/Herbst, Andreas/Krauss, Christine/Küchenmeister, Daniel/Nakath, Detlef (Hrsg.): Die Parteien und Organisationen der DDR. Ein Handbuch, Berlin 2002 (im Weiteren: DDR-Handbuch).
[26] Siehe SED-Handbuch.
[27] Ein subjektiv gefärbter Versuch ist Benser, Günter: DDR – gedenkt ihrer mit Nachsicht, Berlin 2000.
[28] Ihr sind zumindest die genannten drei Handbücher zu DDR, SED und deutscher Zeitgeschichte zu verdanken und der fragmentarisch gebliebene Versuch einer Sammlung von Monographien zur DDR-Geschichte, von dem drei Bände erschienen sind: Badstübner, Rolf: Vom „Reich“ zum doppelten Deutschland. Gesellschaft und Politik im Umbruch, Berlin 1999; Badstübner, Evemarie (Hrsg.): Befremdlich anders. Leben in der DDR, Berlin 2000; Bollinger, Stefan (Hrsg.): Das letzte Jahr der DDR. a.a.O.
[29] Wenn man von den linientreuen Vorwende-Werken absieht: Autorenkollektiv des Instituts für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED: Geschichte der Sozialistischen Einheitspartei Deutschland. Abriß, Berlin 1978, zuvor schon dies.: Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung in acht Bänden, Berlin 1966 und schließlich die nur den 1. Band erreichende große Sicht von dies.: Geschichte der Sozialistischen Einheitspartei Deutschland in vier Bänden – Bd. 1 Von den Anfängen bis 1917, Berlin 1988. Danach ist nur das schon erwähnte differenzierte SED-Handbuch sowie eine umfängliche Skizze von Wilfriede Otto zu nennen: dies.: Visionen zwischen Hoffnungen und Täuschungen. In: Klein, Thomas/Otto, Wilfriede/Grieder, Peter: Visionen, Frankfurt/Oder 1996, S. 137ff. Als Pendant dazu ist die totalitarismustheoretische Sicht des Forschungsverbundes SED-Staat der Freien Universität Berlin erwähnenswert: Schroeder, Klaus unter Mitarbeit von Steffen Alisch: Der SED-Staat. Partei, Staat und Gesellschaft 1949-1990, München-Wien 1998.
[30] Außer den bereits zitierten Handbuch Zeitgeschichte und SED-Handbuch sind zu nennen – immer noch: Kleßmann, Christoph: Die doppelte Staatsgründung. Deutsche Geschichte 1945-1955, 5., überarb. u. erw. Aufl., Bonn 1991,; ders.: Zwei Staaten, eine Nation. Deutsche Geschichte 1955-1970, Göttingen 1988; Mitter, Armin/Wolle, Stefan: Untergang auf Raten. Unbekannte Kapitel der DDR-Geschichte, München 1993; Staritz, Dietrich: Geschichte der DDR. Erweiterte Neuausgabe, Frankfurt/M. 1996; Judt, Matthias (Hrsg.): DDR-Geschichte in Dokumenten. Beschlüsse, Berichte, interne Materialien und Alltagszeugnisse, Berlin 1997; Weber, Hermann: Geschichte der DDR, Erfstadt 2003; Mählert, Ulrich: Kleine Geschichte der DDR, 4., überarb. Aufl., München 2004,
[31] Siehe besonders Stöver, Bernd: Der Kalte Krieg 1947-1991. Geschichte eines radikalen Zeitalters, Bonn 2007.
[32] Marx, Karl: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung. In: MEW, Bd. 1, S. 385.
[33] Siehe Jarausch, Konrad H.: Realer Sozialismus als Fürsorgediktatur. Zur begrifflichen Einordnung der DDR. In: APZ. H. B 20/98, S. 33ff.
[34] Siehe Protest der Schriftsteller gegen die Biermann-Ausbürgerung 17. November 1976. In: Judt, Matthias (Hrsg.): DDR-Geschichte in Dokumenten. a.a.O., S. 329.
[35] Marx, Karl: Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte. In: MEW, Bd. 8, S. 118.