Postsozialistischer Geschichtsrevisionismus

Geschichtsrevisionismus: wissenschaftlich und heimatkundlich

Wissenschaft: Detlef Brandes über die Sudentendeutschen

September 2009

Im Klappentext des Buches von Detlef Brandes „Die Sudetendeutschen im Krisenjahr 1938“ heißt es, der Autor untersuche einen „bisher kaum beachteten Aspekt“ der Sudetenfrage: die Reaktionen der Bevölkerung „vor Ort“. Brandes notiert, daß er „den Einfluß der Großmächte“ ausklammere (S. VÜ). Die Frage, warum und wie die Sudetendeutsche Partei (SdP) 1938 über 80 Prozent der Stimmen gewann, sei Thema seiner Analyse. Zugleich wolle er Reaktionen deutscher Sozialdemokraten und Kommunisten sowie der tschechischen Minderheit in den Grenzgebieten untersuchen.

Im ersten Kapitel beschreibt der Autor die deutschen Parteien bis 1935. Er konzentriert sich auf die bürgerlichen, bei denen die Enttäuschung (über den demokratischen Vielvölkerstaat) dominierte. Die deutschen Sozialdemokraten, nach 1920 mit Abstand die stärkste deutsche Partei, erwähnt er am Rande, ebenso die übernational strukturierte KPC. Beschrieben wird das Problem National- oder Nationalitätenstaat sowie „staatliche Unterstützung für Grenzer“. Die Folgen der Weltwirtschaftskrise mit einer größeren Zahl an deutschen Arbeitslosen folgen. Inzwischen wuchs die SdP zur stärksten deutschen Partei.

Im zweiten Kapitel „Das Jahr vor dem Anschluß Österreichs“ befaßt sich der Autor mit den „aktivistischen Parteien“: Sozialdemokraten (DSAP), Bund der Landwirte und Christlich-Soziale Volkspartei, die in Verhandlungen mit der Tschechischen Regierung versuchen, die Minderheitenrechte zu verbessern: ohne Erfolge, wie der Autor meint. „Die Politik der SdP“ verfolgte einen anderen Ansatz, wobei „reichsdeutsche Hetzpropaganda“ großen Einfluß erreichte (S. 47).

Im dritten Kapitel beschreibt Brandes den „Anschluß Österreichs bis zu den Kommunalwahlen“ und damit das Einschwenken der bürgerlichen Parteien und Verbände auf die SdP sowie deren Werbung. „Als Nicht-Nazi in den Sudetengebieten zu leben war reines Heldentum“, wird zitiert angesichts des gesteigerten Terrors der SdP. Auch Unternehmer zwangen Antifaschisten, sich der SdP anzuschließen (S. 77 ff.). Die Nazifizierung von Schulen und Hochschulen sowie antisemitistische Ausschreitungen charakterisierten die Lage; Drohungen gegen die tschechische Minderheit in den Grenzgebieten folgten (S. 88 ff.). Die SdP legte ein offenes Bekenntnis zum Nationalsozialismus ab (S. 91 ff.) und organisierte Massenveranstaltungen mit Parolen wie „Ein Volk, eine Heimat, ein Führer!“. Verhandlungen über ein „Nationalitätenstatut“ widmet der Autor breiten Raum (S. 99 ff., S. 193 ff.).

Die Politik der sudetendeutschen Sozialdemokraten und freien Gewerkschaften untersucht der Verfasser ebenso wie den wachsenden „Gleichschaltungsterror“ (S. 119 ff.) der SdP.

Im vierten Kapite1 „Von den Gemeindewahlen his zu Hitlers Annexionsforderung“ (S. 143 ff) analysiert Brandes die mit Terror verbundene Wahlwerbung der SdP sowie die Rolle der deutschen Sozialdemokraten, Kommunisten und tschechische Grenzler im Wahlkampf (S. 162 ff.). Es folgen Interpretationen von Ergebnissen der Gemeindewahlen, bei denen die SdP auch durch Morddrohungen über 80 Prozent erreicht. Verhandlungen des Briten Runciman werden kurz geschildert (S. 215 ff., vgl. auch S. 50). Nächstes Thema ist die Verschärfung der Politik Henleins nach seinem Besuch bei Hitler am 2.9.1938 (S. 249 ff.). Gesteigerter Terror!

Im fünften Kapitel beschreibt Brandes die Entwicklung vom Nürnberger Parteitag der NSDAP bis zum Münchener Abkommen (S. 259 ff.). Der Terror gegen Staatsorgane der CSR und Antifaschisten nimmt zu bis zum befohlenen Aufstand am 14.9. Prag reagiert mit dem Standrecht und schlägt den Aufstand nieder. Henlein flieht am 15.9., um sich der Verhaftung zu entziehen (S. 282 ff.). Die Entwicklung bis zum 29.9. verläuft dramatisch. Es gibt Tote auf beiden Seiten.

In seiner Zusammenfassung notiert der Autor (S. 311 ff.), dass „eine Welle nationalistischer Euphorie“ die Wähler mitriß. Die „Tschechisierung“ deutsch besiedelter Gebiete (als Reaktion auf die „Österreichisierung“ tschechischer Gebiete) war ebenso Anlaß wie die Arbeitslosigkeit. Die Sozialdemokraten hatten stets gewarnt. Nur die Kader von DSAP und KPTsch od. KPC widerstanden dem Druck (S. 313). Henlein stellte im Auftrag Hitlers Forderungen, die die Prager Regierung nicht annehmen konnte! Zugeständnisse von Beneš lehnte die SdP-Führung ab. Die SdP suchte Konfrontationen mit Staatsorganen der CSR. „Wir wollen heim ins Reich!“, forderten die Massen. Brandes schlußfolgert (S. 319), daß tschechische Erfahrungen mit den Deutschen dazu führten, daß man 1945 nicht wagte, erneut mit den Sudetendeutschen zusammenzuleben.

Im Anhang präsentiert der Autor „Ausgewählte Ergebnisse der Kommunalwahlen von 1938“. Ein Quellen- und ein Literaturverzeichnis folgen. Ein ausführliches Sach- und Personenregister sowie topografische Angaben beschließen das Werk.

Das methodologische Problem seines Opus benennt Brandes – sicher ungewollt – gleich zu Beginn: Die „Stimmung vor Ort“ zu erkunden und gleichzeitig den „Einfluß der Großmächte“ auszuklammern, im speziellen Fall Hitler-Deutschlands, führt zu Halbwahrheiten angesichts der in Hitlers „Fall Grün“ der SdP Henleins zugedachten Funktion als „Sprengsatz“ der CSR. Auf S. 44 verweist der Autor auf die Wirkung des reichsdeutschen Rundfunks auf die Deutschen in der CSR, also auch „vor Ort“, und widerspricht sich damit selbst.

Im ersten Kapitel präsentiert Brandes eine völlig einseitige Ausgangslage, die zu falschen Schlußfolgerungen führt. Das einflußreiche Wirken der nach 1918 aufstrebenden, die Demokratie nutzenden DSAP wird nur nebenbei erwähnt, obwohl sie im Vergleich zu den dem monarchischen Obrigkeitsstaat nachtrauernden bürgerlichen Parteien gewaltige Kulturleistungen vollbrachte: die Versorgung von Erwachsenen, Jugendlichen und Kindern mit emanzipationsfördernder Literatur, mit einer alternativen Lebensgestaltung im Vergleich zur Zeit vor 1918 sowie mit preisgünstigen Konsumgütern. Die Übergangsprobleme nach 1918 waren bald überwunden.

Der Autor stellt richtig fest, daß die 1934 konstituierte und dank reichsdeutscher Hilfe rasch wachsende SdP am „Führerprinzip“ und an der „Volksgemeinschaft“ orientiert blieb und daß sie einen religiös motivierten Antisemitismus vertrat. Die häufigen Verweise von Funktionären der SdP auf das „vorbildliche Deutschland“ (mit KZs und Judenverfolgung samt Diktatur) erwähnt Brandes nicht.

Die breit dargestellte Arbeitslosigkeit ist richtig als eine Ursache des Anwachsens der SdP benannt. Die Tatsache, daß sie primär von der fehlenden Nachfrage Hitler-Deutschlands abhing, verschweigt der Autor (S. 18). Dem Verfasser dürften auch die 1945 publizierten enormen Summen bekannt sein, die von Berlin aus in die Kassen der SdP und ihres Verlages flossen. Am Rande erwähnt er diese Finanzierung, ohne deren Ausmaß zu notieren. Auch das war eine Ursache des raschen Wachsens der SdP. Antifaschistische deutsche Parteien verfügten nur über einen Bruchteil der Summen für Presse und Werbung. Die Hetzsender von Goebbels bestimmten maßgeblich die Stimmung „vor Ort“.

Brandes übernimmt mit dem Terminus „nationalsozialistische Machtergreifung“ im Deutschen Reich (S. 9) unkritisch eine Propagandathese der NS-Führung! Will er verdrängen, welchen Anteil das deutsche Finanzkapital und die Generalität an Hitlers Reichskanzlerschaft hatten? Zudem: „National“-Sozialismus ist ein Widerspruch in sich, denn Sozialismus und Internationalismus waren stets deckungsgleich. Emanzipation als Ziel unterschied Antifaschisten prinzipiell von denen, die das Führer-Gefolgschafts-System praktizierten.

Gewiß: Es gab unterschiedliche Positionen einflußreicher tschechischer Politiker, Wirtschaftsbosse und Agrargewaltiger hinsichtlich des Verhaltens zu den Deutschen. Außer den vom Verfasser betont erwähnten tschechischen Nationalisten wären die Verständigungsbereiten zu gewichten gewesen. Bei Brandes scheint es, als ob nur der aktionsgestützte politische Druck der SdP Zugeständnisse erreicht hätte.

Dem Verfasser darf man gutschreiben, daß er den anhaltenden massiven Terror der SdP gegen Sozialdemokraten und Kommunisten mit Hunderten von Beispielen dokumentiert. Angesichts der vielen - meist unnötigen - Wiederholungen stellt sich die Frage, ob der Verfasser die Antifaschisten als eine Art ständig geschlagener Hunde zu degradieren trachtet. Was die vielen von Brandes zitierten Polizeiberichte nicht enthalten (können), was aber durch Oral-Historie leicht festzustellen ist: Die bezahlten Schläger der SdP holten sich bei ihren auf reine Körperkraft gestützten Attacken oft blutige Nasen und ausgerenkte Arme, weil sie durch Handkantenschläge der Jiu-Jitsu beherrschenden Antifa-Jugendlichen unverrichteter Dinge abziehen mußten, z.B. beim Sturm auf Volkshäuser der Antifa. Auch bei Angriffen auf Umzüge linker Akteure schlug man die SdP-Schläger oft zurück.

Bei aller Akribie, die dem Verfasser zu bescheinigen ist: Es fehlt Wesentliches bei der Lagebeschreibung „vor Ort“. Neben dem physischem Terror der SdP charakterisierten auch Streitgespräche die Szene. Die deutschen Hitler-Anhänger in der CSR prahlten stets mit ihrem „Tausendjährigen Reich“, mit dem „Imperium Germanicum“ als eine mit Führer-Prinzip lange Perspektive. Die Antifaschisten beriefen sich auf das große europäische Erbe von Aufklärung und Humanismus, das an neue Entwicklungen anzupassen sei: Das schließe alle Menschen und Völker völlig gleichberechtigt ein. Gestritten wurde also nicht nur über Demokratie oder Diktatur bzw. ob es minderwertige Rassen oder gleichwertige gäbe, sondern vor allem um die jeweilige Perspektive.

Brandes verschweigt auch die gewaltigen Kulturleistungen der Arbeiterbewegung „vor Ort“. Nicht nur vor 1933/34, sondern auch noch im Zeichen der von Berlin gesteuerten rapid wachsenden SdP sorgten Linke für eine höhere Alltagskultur, bauten Brücken der Verständigung zwischen den Völkerschaften der CSR und beschäftigten in den Fabriken der GEC (Großeinkaufs-Commanditgesellschaft), z.B. in Bärringen, Nestomitz u.a. viele ArbeiterInnen.

Mit der Umschlagseite lüftet Brandes sein Visier: Sie zeigt ein Werbeplakat der faschistischen SdP! Sollte er dies damit begründen, daß die SdP nach 1935 die stärkste deutsche Partei der CSR war, vor allem 1938, gäbe er zu erkennen, daß er historische Prozesse primär nach quantitativen Maßstäben bewertet, qualitative jedoch außer Acht lässt. Ob Aufklärung und Humanismus oder Feindschaft dagegen: eben diese prinzipielle Frage klammert Brandes aus! Daß dieses Plakat zudem frauenfeindlich ist – Politik sei Männersache – sei am Rande vermerkt. Ein antifaschistisches Plakat auf der Titelseite hätte zudem eine Perspektive weisen und die Alternative aufzeigen können, die es 1938 zum Anschluß an das kriegsorientierte Deutschland gab.

Viele Tschechen dürfte es freuen, wenn der Autor am Schluß des Buches die Aussiedlung von 1945/46 für unausweichlich darstellt. Jedoch erwähnt er nicht, daß Antifaschisten mit allen Rechten und Pflichten in der neuen CSR hätten bleiben können. Ihre freiwillige Aussiedlung ist jedoch ein anderes Problem. Ist der Schlußsatz ein „Bonbon“ bzw. ein Ausgleich dafür, daß Brandes den Terror der SdP nicht primär den Rassisten und Hetzern aus Berlin zuschreibt, sondern indirekt und etwas verklausuliert, den Tschechen?

Brandes neues Buch läßt sich einordnen in die große Welle der „Neu-Interpretationen“ deutscher Geschichte; im speziellen Fall soll suggeriert werden, es hätte 1938 keine Alternative zum „Anschluß“ an das kriegsorientierte faschistische Deutschland gegeben. Insofern ist es eine Beruhigungspille für jene, die in der Sudetendeutschen Landsmannschaft dass „Unrecht der Vertreibung“ beklagen oder es gar mit „Völkermord“ gleichsetzen. Vor allem blendet man das Potsdamer Abkommen, die Rechtsgrundlage für die Umsiedlungen, aus. Bei Brandes gibt es auch Versuche (so zugleich auf einer Konferenz in Usti nad Labem), den Terminus Antifaschismus aus dem Sprachschatz und damit aus dem Bewußtsein zu eliminieren. Damit aber verschwände auch der Gegenbegriff, der Faschismus, was die Neu-Interpretierer anstreben.

Brandes legte bereits 1975 ein zweibändiges Werk über „Die Tschechen unter dem deutschen Protektorat“ vor. Mit seinem neuen Opus entfernt er sich von seiner belegten wissenschaftlichen Qualität.

Heimatkunde: Petr Miksicek über das Erzgebirge

Ein zweisprachiges Buch über die Geschichte der Deutschen in der CSR, speziell im höchsten Teil des Erzgebirges beiderseits der böhmisch-sächsischen Grenze, tarnt mit Heimatkunde eine faktenwidrige Darstellung. „Das wiederentdeckte Erzgebirge/Znovuobjevene Krusnohori“ von Petr Miksicek wurde sogar vom Deutsch-Tschechischen Zukunftsfonds bezuschusst: offenbar in Unkenntnis des Inhalts!

Die ersten drei Kapitel des Buches beschreiben Bergbaulandschaft, Alltagsleben und „Uranfieber“. Es fällt auf, daß die das Leben einschneidend verändernden historischen Brüche von 1918 und 1933 mit dem „Rückfall in die Barbarei“ in Deutschland unerwähnt bleiben, obwohl sie das Leben der Erzgebirgler tiefgreifend veränderten. Es fällt ebenfalls auf, daß das kulturprägende Wirken der Arbeiterbewegung diesseits und jenseits der Grenze ausgeklammert ist. Das unbestreitbare Faktum, daß gerade in diesem Teil des Erzgebirges die „Heimatkunde“ vom Einfluß der Sozialdemokraten und der Kommunisten sowie durch deren Kultur- und Sportorganisationen einen völlig anderen Charakter erhielt, ist kein Thema. In fast allen der vom Verfasser genannten Orte prägten die genannten gesellschaftlichen Akteure das Leben.

Der Autor trauert manchem nach was einmal war und nicht mehr ist – und er lastet diese Veränderungen dem „sozialistischen Realismus“ und den „neuen Gewalttätern“ an. Jedoch veränderte man auch in der kapitaldominierten BRD z.B. alte Stadtkerne mit Fachwerkbauten und einst nicht-industrialisierte Landschaften. Bei seiner Kritik am Uranabbau, den Experten der UdSSR förderten, bleibt ausgeklammert, daß die USA zunächst das Monopol an der Atombombe besaßen und dass sie es missbrauchten, um alle vorherigen koexistentiellen Regelungen zu ignorieren bzw. die (für die Rüstungskonzerne höchst lukrative) Rüstungseskalation bzw. die militärische Konfrontation einzuleiten Mit entsprechenden Reaktionen der UdSSR!

Viele vergleichende Fotos täuschen Objektivität vor; tatsächlich findet man gerade mal ein Foto zur umfangreichen Tätigkeit der Arbeiter-Kulturorganisationen! Die Bagatellisierung bzw. Ausblendung faschistischer Verbrechen in diesem Teil des Erzgebirges gehört zu den all zu vielen Vernebelungen im Bildteil. Ein Höhepunkt der Fälschungen bzw. der Freisprechung der deutschen Hitler-Anhänger in der CSR allgemein und im Erzgebirge besonders ist ab S. 193 erreicht. Der Autor übernimmt die Propagandaformel von der „nationalen Wiedergeburt der Deutsch-Böhmen“ und verschweigt, dass damit der Mord an 110 deutschen und tschechischen Antifaschisten bzw. Terror gegen Staatsorgane der CSR verbunden war. Im Sommer verschleppten die vom Goebbelschen Rundfunk aufgehetzten Aktivisten der faschistischen Henlein-Partei 2.019 Hitler-Gegner über die Grenze. Kein Wort davon, daß den NS-Leuten der CSR die Funktion eines „innenpolitischen Sprengsatzes“ zugedacht war, um die Zerstörung des letzten demokratischen Bollwerks in Mitteleuropa durch die NS-Führung zu erleichtern. Der Verfasser gesteht lediglich zu, dass die Hitler-Anhänger der CSR die Konsequenzen nicht durchschauten, die ihr „Pakt mit dem Teufel“ mit sich brachte. Allerdings war ab 1936/37 zu hören und zu lesen, daß ein „Herrenvolk“ nicht von einem „Minderwertigen“ regiert werden dürfe und das der Vielvölkerstaat CSR als ‚Mißgeburt’ von 1918 zu zerschlagen sei.

Was ab 1934/35 für eine Mehrheit der Deutschen in der CSR zutraf, daß sie die CSR „nicht als ihren Staat betrachteten“, lastet Miksicek fälschlich allen Deutschen in der CSR an.

Dieses Buch ist im Handel nicht zu erhalten. Es wird gezielt vom Bund der Vertriebenen (BdV) verteilt. Offensichtlich waren es die Propagandisten des BdV, die als Einflüsterer wirkten.

Eine marxistische Analyse: Werner Röhrs Buch über die Sudentendeutsche Partei und ihre Freikorps

Wer zum Vergleich eine marxistische Analyse möchte, sei auf das 320-Seiten-Buch des Geschichtsprofessors Werner Röhr verwiesen: „September 1938. Die Sudetendeutsche Partei und ihre Freikorps“, Heft 7 des Bulletins für Faschismus- und Weltkriegsforschung. In der Einleitung „Vergessen und verdrängt“ präsentiert der Autor eine 25-seitige Übersicht der Problemkomplexe, die mit dem Zerfall der beiden Kaiserreiche in Mitteleuropa begannen und sich fortsetzten bei der Gründung der CSR. Dabei wurde schon vor dem Entstehen der CSR deutlich, daß es Strategien gab, die auf Verhinderung dieses Staates zielten bzw. praktisch-politische Bestrebungen, zerstörend einzugreifen, als dieser Vielvölkerstaat am 28.10.1918 entstand.

Vieles, was sich vor dem Münchener Abkommen vom 29.9.1938 zur Amputation der CSR ereignete, hat seine strategischen Vorbilder in früheren Zeiten. Es war ein „Musterfall imperialistischer Aggression“, was mit dem „Fall Grün“ Hitler-Deutschlands geschah: eine Verknüpfung massiver militärischer Drohung mit psychologischem Krieg und der Förderung der zunächst kryptofaschistischen, später offen zur NS-Diktatur stehenden „Sudetendeutschen Partei“. Die Geschichte des „Reichsgaus“ bzw. „Sudetengaus“ sei ohne die Geschichte der SdP Konrad Henleins nicht zu begreifen. Insofern sei vor allem deren Funktion in Hitlers Plan darzustellen. So Werner Röhr.

Den von „Hitler direkt gesteuerten Sprengsatz in der CSR“, die SdP Henleins, beschreibt der Verfasser in ihrer Vorgeschichte, Entstehung und Entwicklung (S. 12 ff). Die „Tarnung“ der SdP erfolgte, „um ihre Legalität zu sichern“. „Der Kampf der SdP gegen die demokratische Verfassungsordnung und den tschechischen Staat als Versailles Produkt hat das Profil in Richtung auf eine Filiale der NSDAP geprägt“ (S. 20). Sie entwickelte sich zu einer Massenpartei, die 1937 bereits eine halbe Million Mitglieder zählt. Ihr Wahlkampf gleicht „verstecktem Terror“. Permanent droht sie den „Volksgegnern“. Die Wirtschaftskrise mit Massenelend dauert in der CSR länger als in anderen Staaten; bei den Deutschen in der CSR ist die Arbeitslosigkeit größer als bei den Tschechen. Die Autarkiepolitik Hitler-Deutschlands trifft primär die deutsche Wirtschaft in der CSR. Die tschechische Agrarpartei begünstigte regierungsamtlich die Henleinfaschisten.

Die „Entösterreichisierung“ in CSR-Staatsbetrieben gießt grundsätzlich Wasser auf die Mühlen der SdP. Die Menschenrechte in der CSR aber blieben gewährleistet, so der Autor.

Die „Anschlußeuphorie“ nach der Annexion Österreichs am 12.3.1938 nützte die SdP zu Massenkundgebungen (S. 29 ff.). Die verordnete Zurückhaltung der tschechischen Polizei nennt man irreführend „Abdankung der Staatsautorität“. In den Grenzgebieten verstärkt die SdP die Kooperation mit NSDAP, SA und SS. Hitlers Ankündigung, den „Volksgenossen“ zu helfen, steigert deren Aktivität gegen die CSR. Die Mitgliederzahl der SdP steigt auf 1.338.394. Nur Sozialdemokraten und Kommunisten sind nicht gleichzuschalten. Bei den Terrorwahlen 1938 in Gemeinden mit Morddrohung an Antifaschisten erreicht die SdP über 80 Prozent. Mit dem „Karlsbader Programm“ vom 24.8.1938 enttarnt sich die SdP endgültig: mit ihrem Bekenntnis zur deutschen Weltanschauung (S. 33 ff).

Die 1938 geschaffene „Terrororganisation“ der SdP, der „Freiwillige Schutzdienst“ (FS) greift Antifaschisten und Staatsorgane der CSR an (S. 40 ff.). Der Autor beschreibt die „Scheinverhandlungen“ um das Autonomiestatut (S. 41 ff) sowie die Mission Runceman bzw. die Kontakte Henleins zum britischen Foreign Office (S. 48).

Der „Putschversuch der SdP“ vom 13.bis 17.9.1938 folgt direkt nach dem Parteitag der NSDAP in Nürnberg (S. 58 ff.). Der Verfasser notiert Einzelheiten. Mit dem Standrecht schlägt die Prager Regierung den Putsch nieder. Henlein flieht mit der Führung der SdP. Tausende folgen. „Freischärler“ der SdP überfallen von der Grenze aus, nachdem sie bewaffnet wurden, Staatsorgane der CSR und Antifaschisten in den Grenzgebieten. Hitler braucht Unruhen und Opfer für seine Pläne.

Detailliert schildert der Autor die „Verbrechen des Freikorps“ der SdP (S. 67 ff.). Etwa 34.000 Mann gehören dazu. 110 Antifaschisten werden ermordet, 2079 Personen verschleppt man über die Grenze (S. 83). Viele Einzelheiten erfährt der Leser auch über „Diversion und Demagogie“ (S. 87 ff), Dies war ein wesentliches Charakteristikum faschistischer Politik bzw. der Zerstörung der CSR.

Im zweiten Teil des Buches bietet Röhr ein „Szenarium: September 1938“ (S. 105 ff.) mit Einzelangaben zu den Tagesereignissen, berichtet von unterschiedlichen Akteuren. Im dritten Teil präsentiert der Autor die höchst aufschlußreiche internationale Entwicklung „Von München nach Prag“ (S. 151 ff.). Teil IV enthält 43 Dokumente, die die Aussagen belegen (S 211 ff.).

Das Nachwort (S. 275 ff) bietet nicht nur viele Hinweise auf das „Musterbeispiel“ der NS-Praxis bei der Zerschlagung der CSR bzw. wie „Selbstbestimmung“ instrumentalisiert wurde im Dienst der faschistischen Expansionspolitik. Im Abschnitt „Hegemoniale Geschichtsinterpretation“ (S. 280 ff.) zeigt Röhr die Besonderheit deutscher Regierungspolitik unter Kanzler Kohl hinsichtlich der „Erklärung über die gegenseitigen Beziehungen und deren künftige Entwicklung“ vom 21.1.1997. Bestrebungen, dem Staat der Tschechen deutsches Geschichtsverständnis einschließlich bagatellisierter faschistischer Verbrechen aufzunötigen, ergänzt der Autor durch Darstellung und Wertungen revanchistischer Forderungen des BdV und der SdL. Den Schluß bildet eine kritische Auseinandersetzung mit dem „Zentrum gegen Vertreibungen“ (S. 293) und dem keineswegs an historischer Faktizität orientierten Regierungsprojekt vom 19.3.2008. Das Nachwort bietet eine derartige Fülle zeitgeschichtlicher und politologischer Darstellungen, daß eine spezielle Arbeit erforderlich wäre, um dies alles zu rezensieren und zu würdigen.

Im Anhang finden sich Abkürzungsverzeichnis sowie Personen- und Ortsregister. Neun Karten bieten eine graphische Übersicht zu den vorgestellten Ereignissen. Dieses Werk ist das bislang umfassendste und detaillierteste Angebot, die Ereignisse im September 1938 besser zu verstehen.

Literatur

Detlef Brandes, Die Sudetendeutschen im Krisenjahr 1938, München 2008.

Petr Miksicek, Das wiederentdeckte Erzgebirge/Znovuobjevene Krusnohori“, Bozi dar 2005.

Werner Röhr, September 1938. Die Sudetendeutsche Partei und ihre Freikorps, Berlin 2008.