Die aktuelle Finanz- und Wirtschaftskrise bot den Anlass, sich im Rahmen einer Fachtagung grundsätzlich mit unserer bisherigen kapitalistischen Wirtschaftsordnung und deren Funktionsweise zu beschäftigen. Das Besondere war dabei die hohe Dichte von kritischen WissenschaftlerInnen aus verschiedenen Forschungsbereichen, wie materialistische Staatstheorie, Internationale Politische Ökonomie, Finanzmarktkapitalismus und Feminismus. Aus dieser wissenschaftlichen Vielfalt entstanden erwartungsgemäß kontroverse Diskussionen. Im Zentrum der Debatte stand der Ansatz der Varieties of Capitalism (VoC), der auf der Tagung vor allem von Martin Höpner (Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung. MPIfG) und Andreas Nölke (Universität Frankfurt) vertreten wurde. VoC geht im Kern davon aus, dass es verschiedene Formen des Kapitalismus gibt, die gleichberechtigt nebeneinander existieren, ohne dass einer von Ihnen das Optimum darstellt. Hierbei steht seine jeweilige Ausprägung im Mittelpunkt, und nicht die Überwindung des Kapitalismus an sich. Höpner betonte, dass der VoC-Ansatz ermögliche, die ‚Stellschrauben’ des Kapitalismus zu erkennen. Der VoC-Ansatz wurde aufgrund seiner Schwächen, wie u. a. die Anwendbarkeit auf (semi)periphere Staaten kritisiert. Martin Höpner stellte in diesem Zusammenhang fest, dass diese Kritik jedoch vor allem daraus resultiere, dass die Versuchung groß sei, den VoC-Ansatz als Generaltheorie behandeln zu wollen, obwohl er nur einen stark spezialisierten Ansatz zur Erklärung bestimmter Aspekte des Kapitalismus darstelle. So wurde dieser z.B. von Thomas Sablowski als zu funktionalistisch kritisiert. Seiner Ansicht nach bilden sich nur solche Institutionen heraus, die für den jeweiligen Kapitalismustyp funktional sind und dies sei ein völlig verkürztes Verständnis von Kapitalismus. Im Gegensatz dazu findet man im marxistischen Kapitalismusverständnis nur eine Form des Kapitalismus, dessen grundlegende Eigenschaften in allen Subtypen Geltung hätten. Hans Jürgen Bieling (Universität Marburg) verwies auf die Regulationstheorie, die seines Erachtens einen umfassenderen Ökonomiebegriff unter Einbezug von Macht und Herrschaft habe, welches wesentliche Kategorien für das Verständnis des Kapitalismus seien. Der Neogramscianismus andererseits beziehe Diskurse und transnationale Blöcke stärker mit ein. Allerdings seien alle drei Perspektiven staatstheoretisch unterkomplex.
Die Frage nach dem Staat wurde auch von zahlreichen anderen Referenten aufgegriffen. So verwies Markus Wissen (Universität Wien) auf die Gefahr des methodologischen Nationalismus im VoC, und diagnostizierte demgegenüber die Konstitution neuer räumlicher Einheiten, die Entstehung und Verlauf wirtschaftlicher und politischer Prozesse bestimmen („Reskalierung“). Als Beispiele führte er v.a. Metropolregionen und supranationale Einheiten wie die Europäische Union an. Durch diese werde aber die Bedeutung der Territorialität keineswegs verringert, sondern tendenziell sogar verstärkt. In eine ähnliche Richtung argumentierte Jens Wissel (Universität Frankfurt), der aus der Perspektive der Regulationstheorie feststellte, dass es notwendig sei, deren zentrale Kategorien neu zu formulieren, um systematisch die globalen Macht- und Herrschaftsverhältnisse berücksichtigen zu können. Da sich der „Machtblock“ internationalisiere, sei es entsprechend nötig, den nationalstaatlich verengten Blick zu überwinden. Ähnlich wie Sonja Buckel (Universität Frankfurt), Lukas Oberndorfer (Universität Wien) und Eva Hartmann (Université de Lausanne) beschäftigte er sich daher mit Fragen der Transnationalisierung des Rechts. Letzteres spielt nicht zuletzt daher eine besondere Rolle, da dieses Ausdruck der sozialen Kompromisse ist, deren Aushandlungsort (auf welcher Ebene auch immer) letztlich der Staat sei, wie Benjamin Werner (MPIfG) bemerkte. Ulrich Brandt (Universität Wien) ergänzte in seinem Beitrag, es sei notwendig, den „Staat aus seiner Bindung an den Nationalstaat zu lösen“ und ihn „als multiskalares und materiell verdichtetes soziales Verhältnis zu begreifen“.
Im Abschlussplenum wurde die Frage nach den Folgen der Wirtschaftskrise noch einmal direkt aufgegriffen, und diskutiert, ob ein fundamentaler Systemwandel weg vom Finanzmarktkapitalismus zu erwarten sei. Die Positionen gingen weit auseinander: Während Klaus Dörre (Universität Jena) die Frage grundsätzlich bejahte, hielt Jörg Huffschmid dem ein ebenso klares Nein entgegen. Wolfgang Krumbein (Universität Göttingen) gab eine rhetorische Antwort, indem er sagte, beim Begriff des Finanzmarktkapitalismus handele es sich erneut um eine falsche Periodisierung des kapitalistischen Systems. Dieser stelle keine eigenständige Form des Kapitalismus dar und somit sei sein Ende bzw. seine Weiterentwicklung auch nicht von Bedeutung für die Frage nach eine grundsätzlichen Auswirkung der Krise auf den Kapitalismus.
Abschließend bleibt zu sagen, dass die gemeinsame DVPW/ÖGPW-Sektionstagung eine sehr gute Gelegenheit geboten hat, die kritische Kapitalismus-Forschung wiederzubeleben, ihre Vielfalt aufzuzeigen und daraus Anregungen für weitere Forschung und Debatten zu ziehen.