Unter dem Titel „Was tun mit dem Erbe?“ hatte die Fondation-Bourdieu an die Universität Bielefeld geladen und mit gut 130 Teilnehmern kann man die Resonanz auf die Tagung wohl als „positiv“ bezeichnen. Im vollen Hörsaal wiesen die Organisatoren dann auch auf die Schwierigkeiten hin, die der Begriff des Erbes im Zusammenhang mit dem Werk von Pierre Bourdieu aufweist. Zum einen verwendet Bourdieu den Begriff nicht neutral, sondern setzt ihn in seiner Studie über „Die Erben“ zur Beschreibung der Klassenunterschiede reproduzierenden Funktion des Bildungswesens ein. Zum anderen birgt der Begriff des Erbes die Gefahr eines Beharren auf dem Bourdieu‘schen Begriffs- und Theorieapparat, ohne der von Bourdieu selbst eingeforderten Rekursivität von empirischer Forschung und ihrer theoretischen Artikulation Rechnung zu tragen. Materielle Erbstreitigkeiten dürften sich derweilen nicht einstellen, nur noch etwa 1.000 Seiten von Bourdieus Werk liegen nicht auf Deutsch vor. Wenn es einen Streit um Bourdieus Erbe gibt, dann dürfte es eher ein Streit über die Deutungshoheit sein.
In seinem Eröffnungsvortrag eröffnete Michael Vester (Hannover) einen weiteren Schauplatz: Nicht Pierre Bourdieu, sondern Karl Marx und Friedrich Engels standen im Mittelpunkt einer kritischen Neulektüre. Dabei wies Vester darauf hin, wie sich im Verlauf der Marx-Rezeption u.a. durch Kautsky eine Lesart verfestigte, deren teleologischer Determinismus zu Vorwürfen gegen den Marxismus als ganzem geführt habe. Infolge dieser Rezeption seien aber die Revisionen, die Marx und Engels an ihrem eigenen Werk vorgenommen haben, übergangen worden. Im Folgenden wies Vester auf einige Parallelen zwischen den Ansichten Marx und Engels und den Forschungsergebnissen Bourdieus hin. So sei in der Kritik am Erfurter Programm „Unsicherheit als Grundbedingung“ der Arbeiterklasse vermerkt, ähnlich wie Bourdieu hätten Marx und Engels zudem ihre Forschung als methodisch strengen, aber im Ergebnis offenen Prozess betrachtet. Bourdieus Angriffe auf den Marxismus seien zudem im Kontext zu betrachten, da er seine Forschung gegen die doktrinäre französische KP habe verteidigen müssen. Vester zeigte im Anschluss weitere Bezüge von Bourdieu u.a. zu der von einer breiten sozialen Bewegung getragenen New Left oder zur Geschichtsschreibung E.P. Thompsons auf. Entscheidend sei die Gemeinsamkeit, Klasse als Akteurszusammenhang zu begreifen. Zwar könnte man Vester entgegenhalten, dass sein Vortrag für Marx-Kenner kaum Überraschungen beinhaltet haben mag, er machte jedoch auch deutlich, dass sich mit Bourdieu nur schwer gegen Marx und Engels argumentieren lässt, wie es im Rückgriff auf den Marxismus ablehnende Zitate Bourdieus gerne geschieht.
Beate Krais (Darmstadt) sprach im Anschluss über die „Theorie symbolischer Macht und ihre Implikationen“; sie bewegte sich zwar textsicher innerhalb des Bourdieu‘schen Gesamtwerks, konnte aber kaum Anschlüsse an weitere Sozialtheorien liefern. Eine Diskussion der Nachfrage, die auf Parallelen von Bourdieus Habitus-Konzept und Althussers Ideologie-Begriff zielte, könnte mögliche Anschlüsse aufweisen, um die institutionellen Entstehungsbedingungen symbolischer Gewalt, auf die Krais zu Beginn ihres Vortrags kurz hinwies, genauer zu analysieren. Der brasilianische Soziologe Jessé Souza widmete sich in seinem Vortrag ausführlich einer von Bourdieu inspirierten Kritik von Niklas Luhmanns Begriff moderner Gesellschaften aus der Nord-Süd-Perspektive und wies auf eurozentristische Grundannahmen Luhmanns hin. Im Anschluss trafen sich die einzelnen Arbeitsgruppen, in denen verschiedene Aspekte des Werks von Bourdieu auf ihre Anschlüsse an die Frankfurter Schule oder zur Analyse der Bildungspolitik untersucht wurden.
Von besonderem Interesse war hie die AG „Neoliberalismus, Soziale Bewegungen und politische Perspektiven“, schließlich hatte sich Bourdieu in den letzten Jahren vor seinem Tod als Unterstützer diverser sozialer Bewegungen hervorgetan. Leider verließen die meisten Beiträge nicht das bereits sorgfältig abgesteckte Forschungsterrain. Rolf Hepp referierte zwar kenntnisreich diverse Forschungen über die Zunahme prekärer Lebensentwürfe, Gérard Mauger (Paris) berichtete aus seinem reichhaltigen Erfahrungsschatz bei der Konstitution und Fortführung des Netzwerks „Raisons d‘Agir“, der von Sabine Kebir im Rückgriff auf Gramsci sowie Brechts und Benjamins Zeitschriftenprojekt „Krise und Kritik“ ergänzt wurde. Dennoch wies lediglich Bernhard Schmid auf gegenwärtige Kämpfe wie etwa den Streik der französischen Intermittents im Jahr 2004 hin, stellte indes kaum Bezüge zur Theorie Bourdieus her. Jens Kastner wies dagegen in einem ausführlichen Vortrag auf die Delegationskritik der Zapatisten hin, während Torsten Bernewitz im Rückgriff auf Bourdieu und die US-amerikanische Classism-Theorie die Schwierigkeiten schilderte, ein politisches Subjekt aus einer gemeinsamen Existenzbedingung von Prekarität zu konstituieren, da nicht zuletzt Distinktionsbedürfnisse einer Identifizierung der gemeinsamen Interessen von bspw. auf Projektbasis angestellten InformatikerInnen und Leih- oder ZeitarbeiterInnen entgegenliefen.
Diese Vorträge stellten jedoch Ausnahmen in einer Tagung dar, die sich mit besonderer Emphase dem akademischen Feld widmete. Im abschließendem Plenum am Samstagnachmittag referierte David Swartz (Boston) die Rezeption von Bourdieu in der amerikanischen Soziologie, während Margareta Steinrücke (Bremen) in ihrem Vortrag über Bourdieus Theorie aus der Perspektive der Genderforschung neben bekannten Stellungnahmen zur „männlichen Herrschaft“ immerhin weiteren Forschungsbedarf konstatieren konnte. Effi Böhlkes (Berlin) Versuch eines Brückenschlags von Bourdieu zur Linken misslang dann aber gerade deshalb, weil sie sich lediglich auf die offensichtlichen politischen Interventionen konzentrierte, in denen Bourdieu als Fürsprecher eines europäischen Sozialstaats auftrat. Dabei liegt die Stärke von Bourdieus Analyse gerade in der Erklärung des Umstandes, warum sich Ungleichheit und Benachteiligungen auch innerhalb sozialdemokratischer Politikentwürfe, wie etwa dem der Linkspartei, reproduzieren.
Bourdieus Erbe ist gesichert, so könnte man vielleicht als Fazit festhalten – zumindest wird es nicht verloren gehen. Auch die enorme Resonanz gerade jüngerer Akademiker auf die Tagung zeigt das anhaltende Interesse am Werk des französischen Soziologen. Auf die Frage „Was tun?“ konnte die Veranstaltung jedoch nur spärliche Antworten liefern. Letztendlich dürfte eine von Bourdieu inspirierte Forschung überall dort interessante Ergebnisse hervorbringen, wenn sie außerhalb eingefahrener Wege zum Erwerb kulturellem Kapitals stattfindet.