Berichte

Grenzenüberschreitende ArbeiterInnengeschichte: Konzepte und Erkundungen

45. Konferenz der ITH (Linz, 10. bis 13. September 2009)

Dezember 2009

Mit der 45. Konferenz der Internationalen Tagung der HistorikerInnen der Arbeiterbewegung und anderer sozialer Bewegungen (ITH) wurde der dreijährige Konferenzzyklus, der sich einer Erneuerung der Arbeitergeschichte unter globalen Vorzeichen widmete, vorerst abgeschlossen.

Marcel van der Linden (Forschungsdirektor am Internationalen Institut für Sozialgeschichte, IISG, Amsterdam) hatte den Vorsitz der Koordination der Tagung inne. Am Eröffnungsabend wurde ihm der René-Kuczynski-Preis 2009 für herausragende Publikationen auf dem Gebiet der Wirtschafts- und Sozialgeschichte verliehen. In seiner Dankesrede gab van der Linden einen Überblick über das Konzept der Global Labour History.[1] Forschungsobjekt der traditionellen kommunistischen wie sozialdemokratischen Arbeitergeschichte seien freie männliche Arbeiter gewesen. Der geografische Schwerpunkt habe im industrialisierten Norden einschließlich der Länder des „realen“ Sozialismus gelegen. Das Verhalten sowie der Protest der Arbeiter seien weitgehend nur in den organisierten und gut sichtbaren Formen analysiert worden. Diese Geschichtsschreibung über Arbeit und Arbeiter sei auch durch einen „methodologischen Nationalismus“ gekennzeichnet gewesen, der in nationalstaatlichen Vorstellungen verharrt habe. Diese traditionelle Geschichtsschreibung habe außerdem ein sehr lineares und eurozentristisches Denken hinsichtlich der historischen Entwicklungen verfolgt.

Die Global Labour History arbeite auf eine andere Art und Weise. Sie habe zunächst ein ganz anderes Verständnis von Arbeit. Sie verstehe unter „Arbeit“ sowohl freie und als auch unfreie, bezahlte und unbezahlte Arbeit. Dadurch würden auch Ausbeutungsverhältnisse wie etwa Migration und Sklaverei in das Blickfeld kommen. Sie überwinde den methodologischen Nationalismus, indem sie Gesellschaften als räumliche und soziale Netzwerke auf globaler Ebene denke. Dadurch kritisiere sie u.a. auch den Eurozentrismus.

An den nächsten beiden Tagen folgte dann nach einer Einführung von Marcel van der Linden eine sehr heterogene Palette an Vorträgen in vier Panels. Die insgesamt elf Vorträge fokussierten dabei auf verschiedenste zeitliche und geografische Bezugspunkte.[2]

Rana P. Behal (Universitat von Dehli /Indien) berichtete aus der umfangreichen, bis zum Anfang des letzten Jahrhunderts zurückreichende Arbeitergeschichtsschreibung in Indien und Südasien, die schließlich 1996 in der Gründung der Association of Indian Labour Historians mündete.

Dick Geary (Universität Nottingham/GB) stellte die zweite neben der Global Labour History bestehende Konzeption von Labour History vor, die in ihrem Forschungsansatz nationale Grenzziehungen überwinden will. Diese Konzeption vergleicht unter ökonomischen, politischen, sozialen und kulturellen Aspekten die Geschichte der Arbeit in verschiedenen Ländern.

Sven Beckert (Harvard University/USA) ging auf die Bedeutung von Agrarprodukten wie Tee, Kaffee und vor allem des Baumwollanbaus für die Herausbildung des modernen Kapitalismus ein. Jener sei keineswegs von Beginn an industriell oder immer in derselben Weltregion erfolgt, vielmehr seien die Anbaugebiete weltweit gewandert und der Anbau bis zum Beginn des amerikanischen Bürgerkrieges Mitte der 1860er Jahre vor allem durch Sklaverei ermöglicht worden. Danach mussten neue Formen des globalisierten Anbaus, der Weiterverarbeitung und des Handels – und der dazugehörigen Arbeitsregimes – erfunden werden.

Elise van Nederveen Meerkerk (Amsterdam & Leiden University) berichtete über ein 2003 vom IISG initiiertes siebenjähriges Projekt mit der Aufgabe, die Geschichte von Textilarbeitern sowohl international als auch langfristig zu erforschen.

Abdoulaye Kane (University of Florida/USA) beschrieb die Situation von Migranten aus dem Senegal (den Haapulaar) in den Ländern, in die sie immigriert sind. Er ging außerdem auf die sehr engen Bindungen der immigrierten Haapulaar zu ihren Familien sowie zu ihrer alten Heimat ein. Diese engen Bindungen haben durch den mit ihnen verbundenen ökonomischen, technologischen und kulturellen Transfer zu gravierenden Veränderungen in der ursprünglichen Heimat geführt. Nicht zuletzt haben sie dort eine verstärkte soziale Differenzierung verursacht.

Minjie Zhang (University Hangzhou/VR China) veranschaulichte an Hand von Fotos und Graphiken in seinem Beitrag Urbanization and Migrant Workers in Yiwu, sowohl das rasante und auf modernstem Niveau stattfindende Wachstum der Nahe Shanghai gelegenen Stadt Yiwu, als auch die teils menschenunwürdige Lebenssituation der unzähligen WanderarbeiterInnen in dieser Stadt.

Über fast allen Beiträgen schwebten einige große Fragen, die noch einer weiteren intensiven und vertieften Bearbeitung harren: Welchen Begriff von „Arbeit“ verfolgt die Global Labour History? Ist jetzt – lange nachdem man die Fabrik und die festorganisierte Arbeiterbewegung als Forschungsgegenstand überwunden hat ­ der informelle Sektor der Slums und sweatshops die neue theoretische Zentralperspektive? Funktioniert die Global Labour History vor allem in Abgrenzung zur alten Arbeitergeschichte von Partei, Staat und Fabrik, oder hat sie auch einen eigenständigen Zugang? Wie sieht dieser aus, wenn auch die vielen Faktoren – wie Ethnie, Geschlecht, Religion, Leibeigentum, Grundbesitz etc.pp. – berücksichtigt werden, die Arbeiterbewusstsein und –verhalten formatieren und die Ressourcen für Widerstand limitieren oder ermöglichen? Und wie schon 2008, bei der Debatte über ‚1968 aus globaler Perspektive’, stellte sich die große Frage nach dem Vergleich: Was kann man überhaupt sinnvoller Weise vergleichen. Dienen die Vergleiche einer comparative global labour history vor allem dem Aufwerfen neuer Fragen, oder erbringen sie auch fruchtbare Erkenntnisse? Macht es Sinn, die WanderarbeiterInnen des heutigen China mit den Produktionsverhältnissen des habsburgischen Textilmanufakturwesens zu vergleichen? Nicht zuletzt wäre zu fragen, so der Hamburger Historiker Peter Birke, inwieweit die homogenisierenden und linearen Vorstellungen der Fabrik und der Arbeiterklasse in den goldenen 50 Jahren von 1930 bis 1980 auch damals schon falsch gewesen seien und ob dieses historische Arbeitsregime des Fordismus nicht von unsichtbarer und informeller Arbeit umlagert gewesen sein. Vielleicht ist ja, erst recht weltweit und historisch betrachtet, Sklaverei und Subsistenz die vorherrschende Produktionsform und nicht das Fliessband, also China statt Chicago?

[1] Zu diesem Konzept siehe: Marcel van der Linden: Workers of the World. Essays Towards a Global Labour History (Studies in Global Social History Vol. 1), Brill Publishers, Leiden 2008, 385 Seiten.

[2] Hier können nicht alle Beiträge vorgestellt werden. Die Beiträge werden 2010 wieder in einem Tagungsband veröffentlicht. Die Beiträge der Tagung „1968 — Ein Blick auf die Protestbewegungen 40 Jahre danach aus globaler Perspektive“ (vgl: den Bericht in Z. 76, S. 183f) sind jetzt in einem Tagungsband erschienen.