Ziel der Tagung war, sich über die Aufgaben und Möglichkeiten von linker Sozialpolitik unter neoliberalen Vorzeichen und in Zeiten der schwersten Wirtschaftskrise seit den 1930er Jahren zu verständigen. In diesem Zusammenhang standen die Folgen der Krise und die daraus resultierenden sozialpolitischen Herausforderungen bei sich gleichzeitig verengenden finanziellen Spielräumen im Mittelpunkt der Auseinandersetzung.
Mit den geladenen FachreferentInnen aus den Bereichen Soziale Arbeit, Gewerkschaften und Wissenschaft und den etwa 45 TagungsteilnehmerInnen entwickelte sich eine anregende Arbeits- und Diskussionsatmosphäre. Der Vormittag wurde mit zwei längeren, die gesamtwirtschaftlichen Rahmenbedingungen erkundenden Vorträgen eröffnet. Die Vertiefung folgte am Nachmittag durch vier kürzere, thematisch fokussierte Referate.
Als erster Referent sprach Kai Eicker-Wolf zu den Auswirkungen der Wirtschafts- und Finanzkrise auf Deutschland und Hessen. Er skizzierte dazu die drei in praktisch allen Ländern vorzufindenden elementaren Säulen des Neoliberalismus: (1) Deregulierung der internationalen Finanzmärkte, (2) Deregulierung der Arbeitsmärkte in Verbindung mit (3) der Umverteilung von unten nach oben. In Deutschland kommt zu diesen drei Bestandteilen ein wichtiger vierter hinzu: der niedrige Anteil der aus öffentlichen Kassen finanzierten Beschäftigung an der Gesamtbeschäftigung. Dieser liegt in Deutschland mit ca. 14,5 Prozent nicht nur unter dem OECD-Durchschnitt, sondern auch unter dem Anteil neoliberaler Musterländer wie etwa den USA (ca. 16 Prozent) oder Großbritannien (ca. 20 Prozent). Eine Anhebung auf den in den nordeuropäischen Ländern vorzufindenden Anteil von etwa 30-35 Prozent würde in Deutschland einen Zuwachs in Höhe von ca. fünf Mio. Stellen bedeuten. Für Hessen wäre dies mit einer Ausweitung der Beschäftigung in Höhe von 300.000 Stellen verbunden.
Als zweiter Referent ging Christoph Butterwegge auf die in den nächsten Monaten und Jahren steigende Arbeitslosigkeit und die sich daraus ergebenden Perspektiven verschärfter Armutsentwicklung ein. Wenn es nicht gelingt, so Butterwegge, dagegen Widerstand zu mobilisieren, werden soziale Polarisierung, Verarmung und Prekarisierung weiter zunehmen. Auch, weil aus dem politischen Bereich bereits versucht werde, Stimmung für eine „Überprüfung“ (= Kürzung) sozialer Leistungen zu machen.
Nach der Mittagspause arbeitete Ulrich Deppe heraus, dass die mit den Privatisierungen im Bereich der Gesundheitsversorgung einhergehende Kommerzialisierung und Profitorientierung zu einer Kulturwende geführt hat: Gesundheit(sversorgung) sei immer weniger ein allen gleichermaßen zur Verfügung stehendes Grundrecht, sondern eine Frage individueller Zahlungsfähigkeit. Aufgabe linker und sozialistischer Politik müsse sein, diese Entwicklung zu stoppen und rückgängig zu machen.
Jutta Meyer-Siebert argumentierte zum Thema Alltag und Familie. Sie stellte die Finanz- und Wirtschaftskrise in einen Zusammenhang mit der Krise, die die Familie in ihrer fordistischen Form des männlichen Ernährermodells seit der Neoliberalisierung der Gesellschaft erfährt. Beide Krisen seien letztlich der grundlegenden Arbeitsteilung der kapitalistischen Produktionsweise geschuldet, in der dem Bereich der profitlich geregelten Herstellung von Lebensmitteln alle Bedeutung zugemessen werde, während der Bereich der Sorge um die individuelle Entwicklung der Menschen vernachlässigt und nebenher durch unbezahlte Arbeit – meist von Frauen – geregelt sei. Dies funktioniere nicht mehr, seit neoliberale Politik, unter Vereinnahmung ehemals emanzipatorischer Forderungen der Frauenbewegung, die verstärkte Integration von Frauen in den Arbeitsmarkt (meist als Teilzeitarbeit oder/und mit niedrigem Lohniveau) mit den flankierenden Maßnahmen zur Vereinbarkeit von Beruf und Familie in ihr Programm geschrieben habe.
Linke Politik müsse deshalb vom Zusammenhang aller gesellschaftlichen Bereiche ausgehen und das Primat der Lohnarbeit durchbrechen. In diesem Zusammenhang verwies Meyer-Siebert auf den konkret-utopischen Gesellschaftsentwurf der Vier-in-einem-Perspektive (Frigga Haug), der mittlerweile Eingang in das Bundestagswahl-Programm der LINKEN gefunden habe: Bei 16 Stunden tätiger Zeit am Tag und der Voraussetzung einer radikalen Verkürzung der Erwerbsarbeitszeit, die vom Stand der Produktivkräfte her möglich wäre, könnten Männer und Frauen in den vier Dimensionen des Menschseins idealerweise vier Stunden tätig sein: in der Erwerbsarbeit, der Sorge und Pflege um sich und andere, in der Entfaltung der eigenen (noch schlummernden) Fähigkeiten und in der Teilhabe an Politik. Das sei kein Nahziel, aber als Kompass auf die aktuelle Politik aufgelegt, ermögliche diese Utopie „revolutionäre Realpolitik“ (Rosa Luxemburg).
Axel Gerntke legte das Augenmerk auf die Folgen der herrschenden Wirtschaftspolitik für Arbeit und Arbeitsmarkt. Diese sei auf Bundesebene in den letzten Jahren vom Leitbild der schlechten Arbeit geprägt gewesen. Beispiele hierfür seien der Abbau des Kündigungsschutzes, die Verschärfung der Konkurrenz zwischen den Lohnabhängigen aus Angst vor Arbeitsplatzverlust und Hartz IV sowie die Liberalisierung von Ladenöffnungszeiten. Hessen habe sich unter der rechtskonservativen Koch-Regierung mit darüber hinausgehenden Maßnahmen hervorgetan, so Gerntke: Der Austritt aus der Tarifgemeinschaft der Länder war mit Gehaltskürzungen und der Verlängerung von Arbeitszeiten verbunden, und das Hessische Offensivgesetz von 2004 verschärfte u.a. den Druck und die Zumutbarkeitsregeln auf Arbeitslose, insbesondere auf Bezieher/innen von Hartz IV.
Diesem Leitbild müsse die Alternative einer „Guten Arbeit“ entgegen gestellt werden. Grundelemente hierfür seien Hessische Mindestlöhne, der Wiedereintritt in die Tarifgemeinschaft der Länder und ein Programm zur Umwandlung aller Ein-Euro-Jobs in tariflich regulierte, sozialversicherungspflichtige Beschäftigung.
Jürgen Ehlers schließlich ging auf das Thema Wohnen und die Situation am Wohnungsmarkt ein. Die Wohnungsbaupolitik der Hessischen Landesregierung zeichne sich dadurch aus, dass steigende Mieten gewollt seien, um den Wohnungsmarkt für Privatinvestoren attraktiver zu machen. Steigende Mieten führten dazu, dass es Menschen mit niedrigem und durchschnittlichem Einkommen immer schwerer falle, sich bedarfsgerecht und angemessen mit Wohnraum zu versorgen. Der Anteil des Einkommens, der für die Miete aufgewendet werden müsse, wachse immer weiter. Ursachen hierfür seien, neben zunehmender Verteilungsungerechtigkeit, wohnungspolitische Maßnahmen. Zu letzteren zählten, dass Sozialwohnungen kaum mehr gebaut würden, dass immer mehr Sozialwohnungen aus der Mietpreisbindung fallen, der Verkauf von Wohnungsbeständen der Öffentlichen Hand, das Aufheben des Wohnraumzweckentfremdungsverbotes und die Fehlbelegungsabgabe im Zusammenhang mit den nicht angepassten Einkommensgrenzen, die zum Bezug einer Sozialwohnung berechtigten. Einige erste Möglichkeiten zum Gegensteuern in Hessen seien die Verlängerung der bestehenden Kündigungsschutzregelung bei der Umwandlung von Miet- in Eigentumswohnungen, das Inkraftsetzen des Wohnraumzweckentfremdungsverbotes und eine Fortführung der Mietpreisbindung.
Im Laufe der Tagung konnte klar herausgearbeitet werden, dass unter den herrschenden kapitalistischen Bedingungen und besonders in Zeiten dieser Krise linke Alternativen nötig sind.