Im Neoliberalismus setzte die Politik um die Subjekte auf eine Verbindung von Freiheit, Wunscherfüllung und Existenzangst. „Lebe deinen Traum“ war gleichermaßen das Motto von Fernsehshows um Auswandererglück, Modellkarrieren und Eigenheimbauten und von Werbekampagnen für die Ich-AGn und neuen Managementstrategien. Die Zeit der Selbstverwirklichung in der Arbeit sei angebrochen, die Utopie der Projektebewegung der 1970er Jahre und die Humanisierung der Arbeit seien Realität geworden, lautete die frohe Botschaft.
Mobilisierung des ganzen Menschen
Dafür werden „die ganzen Menschen“ mobilisiert. Die „Rückseite“ der Selbstverwirklichungsaufrufe ist die materielle Gewalt, die sie in den Arbeitsverhältnissen und den Sozialstaatsreformen annehmen und die gesellschaftliche Ungleichheit, die hinter der Rhetorik der Entscheidung verschwindet. An der Hartz-Gesetzgebung zeigt sich die Gewalt der Aktivierungsforderungen: Wer sich ihnen zu entziehen versucht, verliert die Ansprüche auf Existenzsicherung. Das Zusammenspiel von erweiterter Freiwilligkeit und erweiterter Zumutbarkeit ist paradigmatisch für die neuen Subjektanforderungen. Auch wer sie zu realisieren versucht, sieht sich einer strukturellen Endlosigkeit gegenüber – und der Erschöpfung. Denn die Rhetorik von Aktivierung und Entscheidung legt nahe, dass mangelnder Erfolg nicht auf strukturelle gesellschaftliche Probleme, sondern auf individuelles Ungenügen zurückzuführen ist.
Die neuen Steuerungsformen haben in vielen Bereichen „Erfolg“ im Sinne der Schließung der Poren des Arbeitstages, Zielvereinbarungen haben die Arbeitstage verlängert, „Vertrauensarbeit“ gleichzeitig das Gefühl vermittelt, trotzdem Herr und Frau der eigenen Zeit zu sein. Durch die starke Vermittlung über den Markt und den verstärkten Profitdruck, Reallohnverluste und Prekarisierung aber bekommt Selbstbestimmung den Beigeschmack von Stress und Arbeitsdruck. Dabei ist es nicht leicht, eigenes und fremdes Interesse auseinander zu halten. Arlie Hochschild (2002) untersuchte ein Unternehmen, das den MitarbeiterInnen scheinbar familienfreundliche und fortschrittliche Angebote der Arbeitszeitreduktion machte, dennoch ging kaum jemand darauf ein, sondern arbeitete – 60 bis 80 Stunden im Schnitt. Allerdings waren die „neuen Arbeitsrhythmen [...] auch mit einem neuen Gefühl der Selbstkontrolle verbunden. Manager, Fachpersonal und auch viele Arbeiter in der Produktion sagten, bei Amerco [von Hochschild untersuchtes Unternehmen, C.K.] hatten sie das Gefühl, sich ständig selbst zu neuen Leistungen anzutreiben, während ihnen der Druck zu Hause so vorkam, als ginge er von Mächten aus, die ihrer Kontrolle entzogen waren.“ (Hochschild 2002, 57f) Die Möglichkeit der eigenen Planung und Zeiteinteilung, auch das Gefühl der Effizienz und sich selbst als handlungsmächtig, als in der Lage zu erfahren ‚die Sachen erledigt zu bekommen’, führten zu oft positiven Grundstimmungen und einem enormen Einsatz von Arbeitszeit. Im Unterschied dazu schienen die Reproduktionstätigkeiten durch äußere Zwänge bestimmt, z.B. Kinder, die sich einfach nicht an die vereinbarte „quality time“ halten wollten. Marx’ Kritik, dass der Arbeiter sich „erst außer der Arbeit bei sich [fühlt] und in der Arbeit außer sich“ (1844, 514) scheint hier umgekehrt; in die Erschöpfung treibt diese scheinbar realisierte Utopie, weil sie gnadenlos über den Markt vermittelt und auf grenzenlosen Beschleunigung angelegt ist.
Zu den Strategien, die genutzt werden, um diese Anforderungen zu bewältigen, zählt eine Umdefinition des Zeitaufwands, der z.B. für die Pflege einer Partnerschaft oder von Eltern-Kind-Beziehungen ‚wirklich notwendig’ ist. Typisch ist eine Art „Maßstabsverschiebung“ (Holzkamp 1983, 379) über die Vorstellung von (emotional empfundenem) Glück: „Sie unterzogen ihr Leben einem emotionalen Downsizing“ (Hochschild 2002, 240).
Subjektive Verarbeitung gesellschaftlicher Normen
Diese Prozesse gehen nicht spurlos durch die Menschen hindurch: Viele teilen das Gefühl, dass es einen impliziten Vertrag in der Gesellschaft gibt/gab: dass sich harte Arbeit gegen soziale Absicherung „tauscht“ (Hentges u.a. 2003). Dieser Vertrag scheint einseitig aufgekündigt: die meisten sind selbst zu härterer Arbeit und leidvoller Unterordnung bereit und erleben, dass legitime Erwartungen an sozialen Standard und Lebensqualität dauerhaft frustriert werden. In der klinischen Psychologie kennt man den Begriff der „Gratifikationskrise“: „die Stress erzeugende Kombination von hoher Verausgabung bei der Arbeit und geringer Entlohnung. Darunter werden nicht nur ein zu geringer Lohn, sondern genauso die fehlende Anerkennung der Leistung und geringe Aufstiegschancen gezählt.“[1]
Alain Ehrenberg, ein französischer Psychiater aus der psychoanalytischen Tradition kommend, fragt nach subjektiven Verarbeitungen der gesellschaftlichen Anforderungen an die Einzelnen. Er sieht eine Verschiebung weg von – gesellschaftlichen, individuell internalisierten – Normen und Tabus, also der Unterdrückung individueller Interessen, Bedürfnisse, Emotionen zu Gunsten der Unterstellung unter die Notwendigkeiten eines – von ihm so nicht bezeichneten – fordistischen Arbeits- und Subjektregimes. An die Stelle der Linien von Verbotenem und Erlaubtem an der „Nahtstelle“ von Individuum und Gesellschaft treten nun – ebenfalls zu internalisierende – scheinbar endlose Anforderungen und Versprechen der Selbstverwirklichung. Diese werden als Freiheit dargestellt, treten den Einzelnen aber gleichzeitig als Anforderungen und Zwänge entgegen. Nur wer sich selbst ganz in die Arbeit „investiert“, alle Dimensionen des Selbst in Arbeit und Verwertung bringt, kann in den neuen Arbeits- und Sozialstaatsmodellen bestehen. Als Konsequenz wird persönlicher Misserfolg vor allem auf eigenes mangelndes Engagement zurückgeführt. Unterstellen sich die Einzelnen dieser herrschaftlichen Deutung durch Übernahme von „Selbstgeißelungen“ und Leistungsaufforderungen, drohen die entgrenzten Arbeitsanforderungen in Erschöpfungszustände und –Depressionen zu führen. „Die Depression ist nicht die Krankheit des Unglücks sondern die Krankheit des Wechsels, die Krankheit der Persönlichkeit, die versucht, nur sie selbst zu sein: Die innere Unsicherheit ist der Preis für diese ‚Befreiung’.“ (Ehrenberg 2004, 13). Ehrenberg sieht einer Verschiebung der Symptomatik der Depression selbst: Seit den 1980er-Jahren tritt die Depression mit einer Symptomatik auf, bei der nicht so sehr das psychische Leiden als vielmehr die Hemmung, Verlangsamung dominieren. „Die alte traurige Verstimmtheit wird zu einer Handlungsstörung und das in einem Kontext, in dem die persönliche Initiative zum Maß der Person wird.“ (Ebd.)
Die Krisen von Gratifikation und gesellschaftlichem Vertrag können gesellschaftliche Ressentiments stärken: Wenn das Gefühl vorherrscht, dass trotz Bereitschaft, härter zu arbeiten und „den Gürtel enger zu schnallen“ ein als legitim erlebter Standard von Lebensqualität und sozialer Sicherheit nicht zu erreichen ist, werden zunehmend diejenigen abgewertet, die sich scheinbar den Mühen der Arbeit nicht in gleicher Weise unterziehen müssen und dennoch abgesichert sind: Manager und Politiker oben, Flüchtlinge, Sozialhilfebezieher u.ä. unten. Der Forschungszusammenhang des SIREN-Institut (www.siren.at; vgl. Hentges et al. 2003) hat gezeigt, wie diese Erfahrungen mit den gesellschaftlichen Umbrüchen den Problemrohstoff (Klaus Dörre) bieten, der von rechts und in der populistischen Aufwertung „des Volkes“ angesprochen wird.
Ungerechtigkeitsempfindungen wurden in den letzten Jahren mehrfach dokumentiert: Bereits etwa in der Heitmeyer-Studie „Deutsche Zustände Folge 2“ von 2003 stimmten etwa 50,3 Prozent der Befragten voll und 29,5 Prozent eher der Aussage zu, dass „gegen soziale Missstände in Deutschland zu wenig protestiert wird“, 46 Prozent stimmen voll und 35,5 Prozent eher zu, dass „letztendlich die Wirtschaft in unserem Land [entscheidet] und nicht die Politik“, 58 Prozent stimmen voll, 31,4 Prozent eher zu, dass „die demokratischen Parteien alles [zerreden] und die Probleme nicht [lösen]“, und 65,1 Prozent stimmen voll, 28,6 Prozent eher zu, dass „Politiker mehr dafür tun [sollten], Zweifel an der Demokratie auszuräumen“ (Heitmeyer 2003, 43f). Die herrschende Politik antwortete auf die wachsenden Widerstände und Unzufriedenheiten mit Beschleunigung der immer gleichen neoliberalen Reformen und Betonung von Zwangselementen gegenüber dem Konsens. Die Ergebnisse können so gedeutet werden, dass die aktive Zustimmung zu den Reformen des Sozialstaates und der Arbeitsgesellschaft brüchig geworden war, es aber keinen Ausdruck alternativer Diskussionen gab. Mit Gramsci ist das als „passiver Konsens“ zu fassen (Candeias 2004, 600), der wirkt, solange Proteste und Widerstand keine alternativen politischen Ausdrucksformen finden.
Krise verstärkt die Wahrnehmung von Ungerechtigkeiten
Zum Zeitpunkt, als die Krise mit dem Zusammenbruch der Lehmann-Brothers Bank in die öffentliche Wahrnehmung tritt, werden auch Empfindungen von Ungerechtigkeit verstärkt und öffentlich thematisiert: Im Oktober 2008 beklagen nahezu „drei Viertel der Bevölkerung, dass die, die unwägbare Risiken eingegangen sind und daran gut verdient haben, ungeschoren davonkommen“ und sehen soziale Gerechtigkeitsvorstellungen verletzt (Köcher 2008). 59 Prozent der Deutschen (im Osten 66 Prozent) stimmten Äußerungen von Oskar Lafontaine und Sarah Wagenknecht zu, die ihnen ohne Autorangabe vorgelegt wurden, etwa der Forderung: „Im Interesse der Beschäftigten, der Verbraucher und der Umwelt müssen Energiekonzerne in öffentliche Hand überführt und demokratisch kontrolliert werden.“ 2005 wurde der Satz „Der Staat greift zu viel ein“ noch von 28 Prozent bejaht, im März 2008 von 18 Prozent und im Oktober noch von 8 Prozent, über 60 Prozent wünschten sich staatliche Eingriffe ins Bankenwesen. Selbst 34 Prozent der FDP-Anhänger wollten mehr staatliche Eingriffe in die Wirtschaft, nur 15 Prozent weniger. 74 Prozent stimmten der Aussage zu: „Die großen Konzerne machen jedes Jahr Rekordgewinne und schmeißen gleichzeitig die Leute raus. Da muss man schon die Frage stellen, ob das mit dem Grundgesetz vereinbar ist.“ JedeR zweite teilte die Auffassung, „niemand könne in seinem Leben mehrere Milliarden Euro auf verfassungsgemäße Weise erwerben“.
Die gewünschten Eingriffe werden noch am ehesten dem Staat zugetraut. Das beruhigte die FAZ, die sich sorgte, dass die Krise das Systemvertrauen der Bevölkerung untergraben könne („Wasser auf die Mühlen der Linken“). Allerdings sah sie, dass dadurch der „fundamentalen Wirtschaftskritik der Linken breite Unterstützung“ zuwächst (Köcher 2008).
Vor dem Hintergrund der Argumentationen des „aufgekündigten Vertrages“ sind diese verschärften Ungerechtigkeitswahrnehmungen „nach oben“ nicht gänzlich neu oder schon an sich eine gute Nachricht: entscheidend für eine emanzipatorische Perspektive wäre die Frage, ob sie mit einer erweiterten Solidarität gegenüber den Unteren verbunden werden oder ob die Abgrenzungen nach Oben mit verschärften Ausgrenzungsforderungen nach unten einher gehen. Die Repräsentation der „guten alten Arbeit“, von der sich die Menschen angesprochen fühlen und die auf die Ungerechtigkeitserfahrungen reflektiert, ist seit dem Schwenk der Sozialdemokratie zum Neoliberalismus prekär: sie flottiert in den rechten Anrufungen, durch so genannte populistische, neoliberale wie antikapitalistische Segmente. Die Politik der CDU in der Krise zielte ebenfalls auf die (populistische) Verringerung dieser Gerechtigkeitslücke. Zumindest der erste Schreck der Krise konnte damit aufgefangen werden, dass die Regierung die Handlungsfähigkeit des Staates demonstrierte, „Sparguthaben sicherte“ und die Wahrnehmung stärkte, dass die Rettung der Banken Allgemeininteresse sei. Das Auftreten der neoliberalen Politiker als Vertreter und Sachwalter der Interessen des Staates/Volkes gegen die Banken, im Interesser der Opel-Beschäftigten etc. konnte offensichtlich an die Sehnsucht nach dem korporatistisch-fordistischen Staat anknüpfen, in dem nicht die Menschen der globalen Standortkonkurrenz unterstellt schienen. Die Stärkung „des Staates“ stärkt auch seine Funktion der ideologischen Darstellung von Gemeinschaftlichkeit einer zerrissenen Klassengesellschaft. Real bedeutete die Politik des Bail-Out viel eher eine Privatisierung des Staates und eine ungeheure Umverteilung gesellschaftlicher Reichtümer zu Ungunsten der breiten Bevölkerungsschichten. Die Profiteure und die politischen Akteure des Neoliberalismus gehen also aus der Krise eher gestärkt hervor.
Eine zentrale Rolle spielt dabei die so genannte „Abwrackprämie“. Ähnlich wie die populare Sehnsucht nach dem fordistisch-korporatistischen Staat ist ihre Durchsetzung eine Art zeitlich begrenzte Wiederbelebung des korporatistischen Dreiecks gewesen: ausgerechnet zu dem Zeitpunkt, als die Automobilindustrie nur noch die vergangene Leitproduktivkraft der kapitalistischen Produktionsweise repräsentieren kann, wird die mit ihr verknüpfte Gewerkschaft an den Verhandlungstisch gebeten, um die staatlichen Maßnahmen zur Nachfragstimulierung und Kurzarbeitsregelung zu diskutieren.
„Es ist ein hegemonialer Block von neoliberaler Politik, Traumfabriken, Großkonzernen, Gewerkschaften und abhängig Beschäftigten sowie der breiten Masse der Bevölkerung entstanden [...] Die ‚Umweltprämie’ hat genau jene, die in diesem historischen Block in der unteren Mitte eingeordnet sind, in Bewegung gesetzt, hat sie aktiviert in einer Weise, die ihre Subalternität zementiert, hat ihnen Gewinne versprochen, die in jeder Hinsicht teuer bezahlt werden – durch Verschuldung der öffentlichen Haushalte, Verfestigung überholter Industriestrukturen, Fortsetzung von Umwelt- und Klima zerstörender Produktions- und Lebensweise, der knechtenden Unterordnung unter die Teilung der Arbeit, die Ausbeutung der Dritten Welt.“ (Brie 2009, 169)
Bereits im Februar sieht das Allensbach-Institut im Umstand, dass nur 20 Prozent der Befragten das Gefühl haben, die Krise greife in ihr Leben direkt ein, eine Erklärung für die geringe emotionale Beteiligung an den Diskussionen um Rettungsmaßnahmen.[2] Das Ungerechtigkeitsempfinden, das in der früheren Umfrage thematisiert wurde – dass die Profiteure des Neoliberalismus nicht für die Kosten seiner Krise einstehen mussten –, scheint durch Abwrackprämie, Pendlerpauschale, Verlängerung des Kurzarbeitergeldes und sinkende Benzinpreise zunächst beruhigt. Im Dezember 2008 spricht die IFCom-Studie „Tiefer in die Krise?“[3] von überwiegend schlechten wirtschaftlichen Erwartungen der Deutschen (nur 30 Prozent gehen davon aus, dass es wirtschaftlich im kommenden Jahr unverändert oder besser gehen werde), allerdings sind gleichzeitig nur 27 Prozent überzeugt, dass es ihnen persönlich schlechter gehen werde.
Flexible Reaktionen auf die Krise
Die Krisenpolitik der Regierung war ein – bewusster – Bruch mit der Rhetorik der Subjektivierung, der Eigenverantwortung ohne staatliches Sicherheitsnetz, um Regierbarkeit und neoliberale Herrschaftssicherung zu garantieren. In weiten Teilen der Bevölkerung war dies erfolgreich und hat damit auch gezeigt, wie relevant dieses Selbstverständnis für weite Teile der Bevölkerung noch ist.
Für die „anderen“, diejenigen, die sich in den neoliberal flexibilisierten Verhältnissen eingefundenen haben, mag die neoliberale Lebensweise eine gewisse „Krisenfestigkeit“ gebracht haben – einfach weil „Krise“ kein ungewöhnlicher Zustand der eigenen Lebensweise ist. Diese „soziale Basis des Neoliberalismus“ hat den Rückzug des Staates begrüßt oder stand ihm gleichgültig gegenüber. Die staatliche Absicherung des Finanzsektors mag ihnen als Naturnotwendigkeit erscheinen, eine Opposition gegenüber den Folgen der zu erwartenden öffentlichen Armut scheint im Moment schwer vorstellbar – die Kinder sollen doch sowieso auf die Privatschule, die Rente wird privat geregelt und staatliche Transferleistungen in dem Bereich sowieso nicht mehr erwartet. In der Krisenbearbeitung sind sie eher übergangen worden. Dass diese Klientel sich der FDP zuwendet – nachdem die Kanzlerin plötzlich als Vertreterin sozialdemokratischer Politik und der Verteidigung der Interessen der alten Industriearbeiterschaft bezichtigt wird, ist gewissermaßen stringent.
Widersprüche der Arbeitsanforderungen bestehen weiter, sind durch die Krise verschärft. Ungerechtigkeiten und zunehmender Druck werden in den konkreten Arbeitsverhältnissen weiter empfunden: 68 Prozent der Befragten geben an, dass Vorgesetzte mit Verweis auf die wirtschaftliche Lage, die Konkurrenz oder anstehende Umstrukturierungen verstärkt Druck ausübten. 40 Prozent der Mitarbeiter haben Angst, Fehler zu machen. „Viele Mitarbeiter empfinden ihren Vorgesetzten als Agenten des Kapitals.“ (Sprenger 2009) 45 Prozent trauen „ihrer Führungskraft nicht mehr über den Weg“. Über die Hälfte der „deutschen Angestellten haben das Gefühl, dass die Wirtschaftskrise die Ellenbogenmentalität in den Betrieben fördert“.[4]
Die Erfahrungen der „systemischen Ungerechtigkeit“ der aktuellen Krisenbearbeitungen mit von wenigen getroffenen Notentscheidungen und Rettungspaketen für Banken, die hergebrachte Macht- und Vermögensverteilungen stärkt statt schwächt, bedarf eines politischen Ausdrucks ebenso wie die alltäglichen Ungerechtigkeitserfahrungen in der Arbeit. Linker Politik in der Krise muss es gelingen, beides zu verbinden und in ein realistisches, aber dennoch grundlegend anderes Konzept von gesellschaftlicher Verteilung von Kosten und Reichtümern, Arbeitslast und Selbstverwirklichung zu integrieren. Dabei wäre die rein individuell, privatistisch und über Leistung und Lohnarbeit konzipierte Vorstellung der Selbstverwirklichung in gesellschaftliche solidarische Formen zu überführen: Es würde darum gehen, die Produktivitätsaufrufe dem Markt zu entwinden, die Kooperationsaufrufe dem Wettbewerb und die Emotionen der Selbst-Mobilisierung. Selbstbestimmung, Selbstverwirklichung und Aktivierung – die uneingelöste Versprechen des Neoliberalismus – wären im Zusammenhang der gesellschaftlichen Voraussetzungen von sozialer Infrastruktur zu thematisieren, die sie erst möglich machen, und in den Zusammenhang kollektiver, demokratischer und sozialistischer Selbstbestimmung zu stellen.
Literatur
Brie, Michael, 2009: Sind wir Auto?, in: Luxemburg. Gesellschaftsanalyse und linke Praxis 1, H. 1/09, 165-73
Candeias, Mario, 2004: Erziehung der Arbeitskräfte. Rekommodifizierung der Arbeit im neoliberalen Workfare-Staat, in: Utopie kreativ 165/166, H. 589-601
Ehrenberg, Alain, 2004: Das erschöpfte Selbst. Depression und Gesellschaft in der Gegenwart, Frankfurt/M.
Heitmeyer, Wilhelm (Hg.), 2003: Deutsche Zustände. Folge 2, Frankfurt/M.
Hentges, Gudrun, Malte-Henning Meyer, Jörg Flecker, Sabine Kirschenhofer, Eva Thoft, Edvin Grinderslev und Gabrielle Balazs, 2003: The Abandoned Worker - Socio-economic Change and the Attraction of Right-wing Populismus. European Synthesis Report on Qualitative Findings, Wien
Hochschild, Arlie Russel, 2002: Keine Zeit. Wenn die Firma zum Zuhause wird und zu Hause nur Arbeit wartet, Wiesbaden
Holzkamp, Klaus, 1983: Grundlegung der Psychologie, Frankfurt/M
Köcher, Renate, 2008: „Wasser auf die Mühlen der Linken“, FAZ, 22.10., S. 6
Marx, Karl, 1844: Ökonomisch-philosophische Manuskripte. Marx-Engels-Werke (MEW), Ergänzungsband 1, Berlin/DDR 1957ff
Sprenger, Reinhard, 2009: http://www.capital.de/karriere/100021658.html, download 28.6.2009
[1] Otto Benkert: Stressdepression. Die Volkskrankheit und was man dagegen tun kann. 2005
[2] http://www.wiwo.de/politik/allensbach-chefin-mehrheit-der-buerger-bleibt-trotz-krise-gelassen-387352/
[3] ifcom-research.de/aktuelles, download vom 23.6.2009
[4] http://www.mittelstanddirekt.de/c183/m187/um225/d5251/default.html?rss=true