Soziale und politische Aspekte der Krise

Arbeitermacht und Gewerkschaft im Einzelhandel

Dezember 2009

Wenn die Kassiererin Emmely eine Verdachtskündigung durch Kaiser’s erhält, wenn MitarbeiterInnen im Einzelhandel durch die Unternehmen bespitzelt werden oder wenn ver.di-Handel mit der Lidl-Kampagne die Arbeitsbedingungen und gewerkschaftsfeindlichen Maßnahmen skandalisiert, gerät der Einzelhandel für kurze Zeit in den Blick der Öffentlichkeit. Doch die einschneidenden Veränderungen im Einzelhandel finden selten Beachtung. In diesem Artikel soll der Einzelhandel in Hinblick auf die Veränderungen und Stärken der verschiedenen Quellen von Arbeitermacht untersucht werden. Brinkmann u.a. (2008, 24ff.) unterscheiden in Anlehnung an Wright (2000, 962) und Silver (2005, 30f) drei Quellen von Arbeitermacht[1]. Erstens die strukturelle Macht, die auf der Stellung der Lohnabhängigen im ökonomischen System beruht. Genauer: auf der Lage auf dem Arbeitsmarkt und der Stellung einzelner Beschäftigtengruppen im Arbeitsprozess. Gewerkschaften, deren Mitglieder v. a. Niedriglohnbeziehende und gering Qualifizierte sind, sind demnach weniger durchsetzungsfähig. Zweitens Organisationsmacht, die aus dem Zusammenschluss der Lohnabhängigen zu kollektiven Arbeiterorganisationen, etwa Gewerkschaften oder Parteien, besteht. Bezogen auf Gewerkschaften kann diese Machtquelle am Organisationsgrad und an der Streikhäufigkeit abgelesen werden. Die dritte Machtquelle ist die institutionelle Macht. Sie ist das Resultat der Aushandlung von Konflikten, die auf den beiden anderen Machtquellen beruhen. „Ihre Besonderheit wurzelt in dem Faktum, dass Institutionen soziale Basiskompromisse über ökonomische Konjunkturen und kurzzeitige Veränderungen gesellschaftlicher Kräfteverhältnisse hinweg festschreiben und teilweise gesetzlich fixieren.“ (Brinkmann u.a. 2008, 25) Das Tarifvertragssystem und die betriebliche Interessenvertretung können als solche Basiskompromisse angesehen werden und bilden bis heute die zentrale Quelle der institutionellen Macht. Gewerkschaftsmacht ist eine Spielart der Organisationsmacht und beruht auf unterschiedlichen Kombinationen der verschiedenen Machtquellen. Die drei Machtquellen sind in verschiedener Weise miteinander verknüpft und ergeben erst in der Kombination ein adäquates Bild der Arbeitermacht.

Im Folgenden werden zuerst der Strukturwandel und die Beschäftigungsverhältnisse im Einzelhandel beschrieben, um dann die betriebliche Vertretung und die gewerkschaftliche Organisierung und das Tarifvertragssystem genauer in den Blick zu nehmen. Die These ist, dass bei der Einzelhandelsgewerkschaft – die ver.di auch ist - in allen Bereichen der Arbeitermacht Defizite bestehen. Im letzten Abschnitt wird untersucht, welche Gegentendenzen es zur Verbesserung der Machtquellen seitens der Gewerkschaft gibt und welche in Zukunft noch zu verfolgen und zu verstärken sein werden.

Der Strukturwandel des Einzelhandels

Die Situation im Einzelhandel ist zum einen geprägt durch zunehmende Konzentrationsprozesse (Kühnlein u.a. 2003, 4), da das Marktgeschehen von wenigen Handelskonzernen bestimmt wird, und zum anderen durch einen Verdrängungswettbewerb bei schwacher Binnennachfrage, was sich im Preiskampf niederschlägt (Voss-Dahm 2007, 249). V.a. große Unternehmen weiten zunehmend die Verkaufsflächen aus, bei sinkendem Umsatz pro Quadratmeter, sinkender Geschäftsanzahl und sinkendem Personalstand, während die kleinen Betriebsformate Umsatzanteile verlieren. Im Lebensmitteleinzelhandel bspw. vereinigten die Top-5 Unternehmen im Jahr 2006 knapp 70% der Marktanteile auf sich, 1980 waren dies noch 26,3% (Metro 2007, 21). Konzentration der Umsätze bedeutet jedoch nicht Konzentration der Beschäftigten: Diese sind auf viele kleine Betriebsstätten verteilt.

Trotz real stagnierender Umsätze sind die Einzelhandelsunternehmen heute fähig, ihre Gewinne zu steigern (Warich 2009). Die Gewinnsteigerung geschieht mittels des Absenkens der Einstandspreise sowie über das Senken der Lohnkosten, die den größten Anteil der Betriebskosten ausmachen (Benkhoff/Hermet 2008, 5). Sah es erst so aus, als ob die derzeitige Wirtschafts- und Finanzkrise den Einzelhandel nicht besonders betreffe, sank der Einzelhandelsumsatz im Juni 2009 real um 2,3% im Vergleich zum Vorjahreszeitraum (Statistisches Bundesamt 2009).

Durch die Einführung der Scannerkassen hat eine Dequalifizierung und Rationalisierung der Kassiertätigkeit stattgefunden: Ausgehend von einer detaillierten Erfassung der Kundennachfrage sollen Waren- und Informationsströme entlang der gesamten Wertschöpfungskette optimiert werden (Wortmann 2003, 10). Aktuell wird der RFID Technologie (Radio Frequency Identification) ein großes Rationalisierungspotenzial zugeschrieben. Hier werden die Daten ohne Berührung gesendet, so dass das Auslesen auch von großen Warenmengen beschleunigt wird, was die Logistik und den Kassiervorgang immens vereinfachen kann (ver.di-Handel 2007).[2]

Trotz der schrittweise vollzogenen Ausweitung der Ladenöffnungszeiten[3] bleibt der Umsatz gleich und wird lediglich auf eine längere Öffnungszeit verteilt. Einzelhandelsunternehmen versuchen nun, sich Wettbewerbsvorteile zu verschaffen, indem sie länger öffnen, Konzentrationsprozesse werden somit weiter befördert. Gleichzeitig sind sie bestrebt, die Zuschläge für Spät- und Nachtarbeit zu reduzieren. Durch die Novellierung des Rabattgesetztes, wonach Kunden den Preis für eine Ware frei aushandeln und Unternehmen mit hohen Rabatten werben können, und durch den Umstand, dass Unternehmen Sonderverkäufe nun das ganze Jahr durchführen können, hat sich der Wettbewerb weiter verschärft.

Beschäftigungsverhältnisse im Einzelhandel werden zunehmend prekärer[4], auch wenn die vorwiegend von Frauen verrichtete Erwerbsarbeit in dieser Branche niemals überwiegend dem Normalarbeitsverhältnis entsprach. Der Einzelhandel ist eine Niedriglohnbranche. Lag der Anteil der Niedriglöhne[5] bei abhängiger Beschäftigung in Deutschland im Jahr 2004 bei 22,1%, betrug er im Einzelhandel 42%[6] (Voss-Dahm 2007, 251f.). Geringfügige Beschäftigungsverhältnisse sind hierbei die treibende Kraft. Obwohl sie gesetzlich mit regulären Beschäftigungsverhältnissen formal gleichgestellt sind, werden die gängigen Standards unterlaufen. Viele der geringfügig Beschäftigten wehren sich nicht dagegen, weil sie Angst vor Entlassung haben (Benkhoff/Hermet 2008). Immer mehr Vollzeitstellen werden durch Teilzeit- und Minijobs, insbesondere im Verkaufsbereich, ersetzt (Warich 2008, 6). Hinzu kommen befristete Arbeitsverhältnisse, Leiharbeit, zunehmende Arbeitsbelastung und variable Arbeitszeiten. Die zunehmende Entmischung von einfachen und höher qualifizierten Tätigkeiten, die Trennung von Planung und Ausführung sowie die Standardisierung von Tätigkeiten bezeichnen Voss-Dahm/Lehndorff (2003) treffend als Dienstleistungstaylorismus. Die Standardisierung der Tätigkeiten bedeutet keine Standardisierung der Beschäftigungsformen und der Arbeitszeit, sondern bietet vielmehr die Basis für deren Entstandardisierung (Lehndorff 2003, 158).

Wie gezeigt ist die strukturelle Arbeitermacht im Einzelhandel schwach ausgeprägt. Grundsätzlich sind im Einzelhandel keine spezifischen Qualifikationen der Beschäftigten vonnöten. Die Herausbildung des Dienstleistungstaylorismus bewirkt eine Austauschbarkeit des Personals.[7] Die große Anzahl der Verkaufsstellen, der Zuschnitt auf individuelle Kunden und die Atomisierung der Belegschaften durch die Verteilung auf viele kleine Betriebseinheiten machen es schwierig, gemeinsame Arbeitskämpfe durchzuführen. Deshalb bleibt es von der Öffentlichkeit häufig unbemerkt, wenn im Einzelhandel gestreikt wird.

Betriebliche Vertretung und gewerkschaftliche Organisierung

Die gewerkschaftliche Organisierung (Dribbusch 2003) und die Bildung von Betriebsräten im Einzelhandel unterliegen mehreren strukturellen Schwierigkeiten (Artus 2007, 10).

Erstens ist das Machtungleichgewicht zwischen Kapital und Arbeit heute im Dienstleistungsbereich besonders ausgeprägt, da in diesem Feld international tätige Unternehmen entstanden sind, die Unternehmens- und Betriebsstrukturen so verändern können, dass betriebliche Interessenvertretung verhindert werden kann. Dem stehen Beschäftigte gegenüber, die unterdurchschnittliche Beschäftigungsperspektiven auf dem Arbeitsmarkt aufweisen und daher oftmals Angst vor dem Verlust des Arbeitsplatzes haben.

Zweitens besteht eine Fragmentierung der Beschäftigten in viele kleine betriebliche Einheiten (räumliche Dimension) und eine Fragmentierung aufgrund des flexibilisierten Arbeitseinsatzes, der hohen Fluktuation und der unterschiedlichen Arbeitszeitmodelle (zeitliche Dimension). Beides macht die Herausbildung verlässlicher Teamstrukturen und kollegialer Beziehungen sehr schwierig.

Weitere strukturelle Schwierigkeiten bestehen zum einen darin, dass das Betriebsverfassungsgesetz auf große Industrieunternehmen ausgelegt ist, etwa in Bezug auf die Freistellung von Betriebsräten, die Anzahl der Betriebsratsmitglieder gestaffelt nach Mitarbeiterzahl und die Mindestanzahl von Beschäftigten zur Gründung von Betriebsräten. Selbst wenn die Mindestanzahl von Beschäftigten zur Betriebsratsgründung erreicht wird, hat die Betriebsratsgründung auf Filialebene evtl. keinen Sinn, da auf dieser Ebene in der Regel keine relevanten Entscheidungen getroffen werden (Dribbusch 2003, 81ff.). Nach § 3 des Betriebsverfassungsgesetzes können in diesem Fall filialübergreifende Betriebsräte gebildet werden. Der Betriebsrat vertritt dann eine festzulegende betriebsratsfähige Einheit. Voraussetzung hierfür ist ein Tarifvertrag zwischen den Tarifparteien (Däubler 2001, 368), was bedeutet, dass die Unternehmensseite eine Vetomöglichkeit hat. Zu den genannten strukturellen Schwierigkeiten kommt noch die offen gewerkschafts- und betriebsratsfeindliche Haltung einiger Unternehmen hinzu. Gerade bei den Discountern gibt es oftmals eine Strategie der Be- und Verhinderung von Betriebsräten.[8]

Vor diesem Hintergrund ist nicht weiter verwunderlich, dass die Zahl der Beschäftigten in Betrieben mit Betriebsrat im Einzelhandel im Vergleich zu den Durchschnittswerten aller Branchen unterdurchschnittlich ist (Ellguth/Kohaut 2005, Ellguth 2006). Der Organisationsgrad von ver.di-Handel, ein wichtiger Indikator zur Beurteilung der Organisationsmacht, ist nicht bekannt, da ver.di nur noch Mitgliedszahlen der Gesamtorganisation veröffentlicht. Allerdings kann, angesichts der insgesamt rückläufigen Mitgliedszahlen von ver.di, angesichts der genannten strukturellen Schwierigkeiten sowie der niedrigen und in den 1990ern leicht rückläufigen Mitgliederzahlen der Vorgängergewerkschaft Handel, Banken und Versicherungen davon ausgegangen werden, dass der Organisationsgrad von ver.di-Handel relativ niedrig ist. Um dem zu begegnen, wurden seitens der Einzelhandelsgewerkschaft die Schlecker- und die Lidl-Kampagne initiiert. Ziel war es, Betriebsräte zu gründen, um die Verbesserung der Arbeitsbedingungen im Unternehmen zu erreichen und so neue Mitglieder zu gewinnen.

Tarifverträge

Die Tarifverträge unterliegen trotz des weitgehend gleichbleibenden rechtlichen Rahmens und der Beständigkeit des Tarifvertragssystems einem Wandel. Dies liegt erstens an der sinkenden Tarifbindung sowohl der Betriebe (von 46% im Jahr 2003 auf 35% im Jahr 2006) als auch der Beschäftigten (von 63% im Jahr 2003 auf 50% im Jahr 2006) im Einzelhandel. Dies entspricht zwar einem allgemeinen Trend, allerdings sinkt die Tarifbindung im Einzelhandel schneller als in der gesamten Wirtschaft (Ellguth/Kohaut 2004, 2005, 2007, Ellguth 2006). Zweitens sinkt – durch die Blockadehaltung der Unternehmerseite, die der Allgemeinverbindlichkeit zustimmen müssen – die Zahl der für allgemeinverbindlich erklärten Tarifverträge, mit denen einheitliche Standards für die gesamte Branche definiert werden können (Kirsch/Bispinck 2002; Bispinck 2008). Zum dritten gibt es eine Zunahme der Tarifauseinandersetzungen, in denen die Mittel des Streiks und des Warnstreiks angewandt wurden: Seit dem Jahr 2000 gibt es keine Tarifrunde ohne Arbeitskampfmaßnahmen. V.a. im Zusammenhang mit der Ausweitung des Ladenschlusses kam und kommt es zu z.T. langwierigen Tarifverhandlungen. In der Tarifrunde 2007/2008 dauerte es über ein Jahr, bis ein neuer Tarifvertrag abgeschlossen werden konnte. In der Tarifrunde 2009 wurde eine schnelle Einigung v.a. deshalb erreicht, weil nur die prozentuale Anhebung der Vergütung und nicht die Zuschläge für Spät- und Nachtarbeit verhandelt wurden. Viertens knüpfen Tarifverträge nicht mehr nahtlos aneinander an, sondern sind mit Nullmonaten verbunden, in denen es keine Erhöhung der Tarifvergütung gibt (Bispinck 2006). Fünftens gab und gibt es im Einzelhandel zum einen Tendenzen zur Abweichung vom Tarifvertrag (kontrollierte Dezentralisierung) (Bispinck 2005, Grienkohl 2006) und zum anderen zur Mitgliedschaft in den Arbeitgeberverbänden ohne Tarifbindung oder dem kompletten Ausstieg aus dem Arbeitgeberverband (unkontrollierte Dezentralisierung). Tariferhöhungen kommen daher immer weniger Beschäftigten zugute (Bispinck/Schulten 2001). Sechstens sinkt die Durchsetzungsfähigkeit von ver.di Handel. Zwar gelingt es, die Forderungen der Arbeitgeber teilweise zurückzuweisen (bspw. Abschaffung der Zuschläge), eigene Forderungen, wie die nach einem Mindesteinkommen für eine Vollzeitstelle, können jedoch nicht durchgesetzt werden. Die Erhöhung der Tarifvergütungen in den letzten Jahren war moderat und blieb im Handel unter dem verteilungsneutralen Spielraum. In der Entgelttarifrunde 2009 ist die Differenz zwischen Forderung und Abschluss besonders eindrücklich. ver.di forderte zwischen 6,5% und 6,8% mehr Lohn. In Nordrhein-Westfalen wurde jedoch lediglich eine Erhöhung um 2% zum 1.9.2009, eine Stufenerhöhung um 1,5% zum 1.9.2010 sowie Einmalzahlungen vereinbart, was bisher von den meisten Bundesländern übernommen wurde (WSI 2009). [9]

Insgesamt reicht die Organisationsmacht, gemessen am Organisationsgrad von ver.di-Handel, im Einzelhandel nicht aus, um die strukturellen Machtdefizite zu kompensieren. Erschwerend kommt hinzu, dass die Kapitalseite die Sozialpartnerschaft aufgekündigt hat, was sich am Tarifvertrag illustrieren lässt. Es gibt einen Bedeutungsverlust des Tarifvertrags, da immer weniger Betriebe und Beschäftigte davon erfasst sind; Reichweite und Bindungsfähigkeit schwinden in zunehmendem Maße. Hieran lässt sich eine sinkende institutionelle Macht der Gewerkschaft ablesen. Wegen der formal noch bestehenden fordistischen institutionellen Stabilität des Tarifvertragssystems und der Betriebsverfassung etc. gibt es aber kein unmittelbares „race to the bottom“, sondern nur eine langsame Verschlechterung der institutionellen Macht der Gewerkschaften.

Perspektiven gewerkschaftlichen Handelns

Die Arbeitermacht im Einzelhandel verschlechtert sich auf allen Ebenen. Angesichts der Weltwirtschaftskrise, sinkendem Konsum und Umsätzen wird sich dies wahrscheinlich noch verstärken. Firmenzusammenbrüche, bzw. vermehrte Konzentration durch Übernahmen im Einzelhandel sind zu befürchten. In dieser Branche mit einer geringen strukturellen Macht, einer geringen Organisationsmacht und sinkender institutionellen Macht gibt es verschiedene Ansätze seitens ver.di-Handel, diesen Defiziten zu begegnen, indem zum einen neue Bündnispartner gewonnen, zum anderen neue Kampfformen erprobt werden.

Neue Bündnispartner sind soziale Bewegungen, wie etwa Organisationen, die sich kritisch mit dem Welthandel auseinandersetzen (etwa Clean Clothes Campaign oder attac), linke Gruppierungen, in der Frage der Ladenöffnungszeiten die Kirchen sowie die Verbraucher bezüglich des kritischen, verantwortungsvollen Konsums. Die Zusammenarbeit mit sozialen Bewegungen ist ein Element von Organizing, welches bei ver.di Handel recht früh implementiert wurde. Die neuen Kampfformen sind: Streiks im Weihnachtsgeschäft, Streiks, die nur wenige Stunden dauern, um den Einsatz von LeiharbeiterInnen zu behindern, Flash Mobs[10], die über Internet und SMS koordiniert auftreten und versuchen, den Geschäftsbetrieb in einer Filiale zu behindern, oder die Aktion Dichtmachen, bei der versucht wurde, Kunden vom Besuch einer Filiale abzuhalten, um so den wirtschaftlichen Schaden spürbar zu machen. Ein weiteres wichtiges Element neben Organizing ist Campaigning (Bremme u.a. 2007).

Über diese bereits schon bestehenden Ansätze zur Verbesserung der Arbeitermacht im Einzelhandel hinaus sollen im Folgenden weitere mögliche Schritte skizziert werden. Der Machtressourcenansatz bot ein hilfreiches Instrumentarium, um Defizite deutlich zu machen und kann nun genutzt werden um aufzuzeigen, auf welcher Ebene Veränderungen notwendig sind.

Mehrere konkrete Änderungen, die durch staatlichen Zwang zu erreichen wären, würden das Agieren der Gewerkschaft im Einzelhandel bedeutend erleichtern. Der Möglichkeitsraum zu deren Durchsetzung ist jedoch durch die im Herbst 2009 erfolgte Konstitution einer konservativ-liberalen Bundesregierung stark eingeschränkt. Um die institutionelle Macht und damit vermittelt die Organisationsmacht auf eine bessere Basis zu stellen, wäre zum einen eine Reform des Betriebsverfassungsgesetzes sinnvoll. Um Betriebsräte auch bei Unwilligkeit der Arbeitgeber und bei einer zersplitterten Filialstruktur bilden zu können, bedarf es einer Veränderung des Betriebsverfassungsgesetzes, damit die Mitbestimmung auch bei Großkonzernen im Einzelhandel greift. Zum anderen könnte eine Reform der Erklärung der Allgemeinverbindlichkeit von Tarifverträgen die Blockade seitens der Unternehmerverbände aushebeln und würde Standards für die ganze Branche festlegen (Bispinck/Schulten 2009). Allerdings ist dies nur dann sinnvoll, wenn eine funktionierende Tarifpartnerschaft besteht. Dies ist im Einzelhandel nicht der Fall. Daher ist dies mit der Einführung eines flächendeckenden, existenzsichernden Mindestlohnes zu kombinieren (zur Übersicht über die verschiedenen Modelle siehe Bispinck/Schulten 2008).

Ein weiterer Faktor zur Verbesserung der gewerkschaftlichen Handlungsfähigkeit wäre die Gleichstellung der LeiharbeiterInnen und das generelle Verbot des Einsatzes von LeiharbeiterInnen während eines Streiks.[11] Zudem wäre eine Repolitisierung von Streiks, das Streiken auch für politische Ziele und Inhalte, für den Einzelhandel, gerade vor dem Hintergrund der Liberalisierung der Ladenöffnungszeiten, aber auch der Rente mit 67 oder der zu befürchtenden Abwälzung der Folgen der Weltwirtschaftskrise auf die Beschäftigten, eine sinnvolle Erweiterung. Zur Verbreiterung der Organisationsmacht sind Bündnisse mit anderen gesellschaftlichen Gruppen unerlässlich. Gerade angesichts der Weltwirtschaftskrise wären diese in konkreten Kämpfen um die Verbesserung der Arbeits- und Lebensverhältnisse umso wichtiger.[12]

Um die Defizite der strukturellen Macht ansatzweise auszugleichen, wäre eine Politik der Entprekarisierung notwendig, da durch Arbeitslosigkeit und Prekarisierung qualitative Arbeitsansprüche kaum noch durchsetzbar sind (Dörre u.a. 2004). Dafür müsste die Definitionshoheit über Begriffe der emanzipatorischen Arbeitspolitik wieder gewonnen werden. Dabei ginge es nicht um die Rückkehr zum Normalarbeitsverhältnis, das im Einzelhandel noch nie prägend war, sondern um die Entwicklung eines neuen Leitbildes: „Eine Politik der Entprekarisierung benötigt die Vision einer Arbeitswelt, die es möglichst Vielen erlaubt, lebensphasenspezifisch zwischen Erwerbsarbeit, Weiterbildung, gemeinnütziger Tätigkeit und Familienzeiten zu wählen.“ (Dörre 2005, 257)

Angesichts der Weltwirtschaftskrise gibt es vermehrt Stimmen, die den Gewerkschaften die Forderung nach Demokratie in der Wirtschaft nahe legen. Der Begriff hat verschiedene Ebenen: direkte Partizipation der Beschäftigten an der Gestaltung ihrer Arbeits- und Lebensbedingungen, die Kontrolle der Marktmacht und die Demokratisierung der Unternehmen sowie der Gesamtökonomie (Demirovic 2007, 254f). Es ist ein alternativer Gesellschaftsentwurf, der das Potenzial in sich trägt, über das Bestehende und über den Wunsch zur Rückkehr zur „sozialen Marktwirtschaft“ hinauszuweisen. Es wäre sinnvoll, wenn Gewerkschaften Elemente davon in die öffentliche Debatte einbrächten, um alternative Krisenlösungen deutlich zu machen. Denn die Krise der Gewerkschaften besteht nicht nur im Verlust von Durchsetzungsfähigkeit, sondern auch im Verlust von alternativen Gesellschaftsentwürfen: „Teil des Problems ist der Verlust von glaubwürdigen Mobilisierungsparolen, der Vision von einer besseren Zukunft, von gesellschaftlichen Utopien. Die Herstellung von Solidarität ist zwar teilweise eine Frage organisatorischer Fähigkeiten, aber ähnlich grundlegend ist diese auch Teil des Kampfes um Ideen. Die Krise des klassischen Gewerkschaftsgedankens drückt sich nicht nur in offensichtlichen Formen von abnehmender organisatorischer Stärke und Effizienz aus, sondern ebenso in der Erschöpfung der traditionellen sozialen Diskurse und der Unfähigkeit, auf neue ideologische Herausforderungen angemessen zu antworten.“ (Hyman 2001, 173)

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[1] Unter dem Begriff Arbeitermacht werden alle Lohnabhängigen beider Geschlechter subsumiert (Brinkmann u.a. 2008, 24).

[2] Beim Abgleich einer LKW Ladung wurde, nach Eigenangaben der Metro, durch die RFID-Technik der Zeitaufwand von 15 auf drei Minuten gesenkt. Damit werden vier von fünf LagerarbeiterInnen nicht mehr benötigt ( ebd.).

[3] Für eine Übersicht der letzten Liberalisierung vgl. Kühn (2008).

[4] Zum Begriff prekär siehe Dörre u.a. (2004) und Mayer Ahuja (2003).

[5] Die Niedriglohngrenze gilt dann als erreicht, wenn 2/3 des Medians des Bruttomonatsverdienstes unterschritten werden, bzw. der Stundenlohn unter den 2/3 des Medians liegt. Im Jahr 2004 erhalten 27,7% der männlichen und 47,1% der weiblichen Beschäftigten im Einzelhandel einen Niedriglohn (Voss-Dahm 2007, 254).

[6] In dieser Berechnung sind SchülerInnen, Studierende und RentnerInnen aufgrund deren Bedeutung für die Beschäftigung im Einzelhandel mit eingeschlossen, während sie ansonsten i.d.R. ausgeschlossen werden (Voss-Dahm 2007, 254, Fn 2).

[7] Diese Austauschbarkeit schlägt sich im Einsatz von Leiharbeitern während Streiks im Einzelhandel nieder (Glaubitz 2008).

[8] Für die Behinderung von Betriebsräten am Beispiel des Unternehmens Schlecker siehe Bormann (2007).

[9] Von ver.di Baden-Württemberg wurde kritisiert, dass der Tarifvertrag aus Nordrhein- Westfalen als Pilotabschluss bezeichnet wurde, da zumindest in Baden-Württemberg aufgrund der gut aufgestellten streikbereiten Belegschaften mehr erreichbar gewesen wäre. Zudem wurde bemängelt, dass sich der Abschluss weit unterhalb der Forderungen bewegt (Tarifkommission Stuttgart 2009).

[10] Das Bundesarbeitsgericht hat am 22.09.09 bestätigt, dass Flashmobs grundsätzlich als Mittel im Arbeitskampf zulässig sind. Allerdings haben Flashmob-Aktionen verhältnismäßig zu sein (BAG 2009).

[11] Diese sind zwar nicht verpflichtet, als Streikbrecher zu arbeiten, allerdings tun dies viele aufgrund der Angst vor Arbeitsplatzverlust.

[12] Zu nennen ist die Beteiligung von Gewerkschaften an dem Bündnis „Wir zahlen nicht für eure Krise“, das inzwischen aus mehreren lokalen Bündnissen besteht.