Soziale und politische Aspekte der Krise

Die Krise im Alltagsbewusstsein

Zwischen Verdrängung, Verzögerung und Vergesslichkeit

Dezember 2009

Noch nie wurde das Alltagsbewusstsein so regelmäßig und von so vielen Instituten ausgeforscht wie heute und noch nie wussten wir so wenig, was die Menschen tatsächlich bewegt. Das gilt vor allem für ihre Haltung zur Wirtschafts- und Finanzkrise, die zwar wahrgenommen wird, aber kaum Einstellungsänderungen zu verursachen scheint. So hat die Bundestagswahl zwar die Parteienlandschaft umgebrochen, nicht aber die Machtverhältnisse. Das bürgerliche Lager ging nicht nur gestärkt aus den Wahlen hervor, es verlagerte sich auch nach rechts und stärkte die Macht der Marktradikalen. Die Ergebnisse der Meinungsumfragen erklären das nicht, weil sie es einerseits nicht erfragen und andererseits zwar genau messen, aber nicht wissen, was sie messen. Was sie als öffentliche Meinung ausgeben, ist dank der immer dichteren Medienkommunikation nicht mehr als das Echo der veröffentlichten Meinung. Trotzdem lohnt es, die Ergebnisse zu verfolgen, weil sie interessante Widersprüche bergen, die mehr über den Zustand des gesellschaftlichen Bewusstseins und seine Verblendungen aussagen als die Ergebnisse selbst. Womit man dann auch der Frage näher kommt, weshalb die Krise den gesellschaftlichen Status quo so wenig zu erschüttern vermag und ausgerechnet jene Kräfte stärkt, die sie verursacht haben.

Widersprüchliche Zahlen und gegensätzliche Tatsachen

Wer eine kritische Einstellung zur sozialen Situation dieser Gesellschaft hat und obendrein an die Demoskopie glaubt, könnte meinen, die Mehrheit der Bundesbürger auf seiner Seite zu haben. Fast alle Meinungsumfragen signalisieren eine zunehmende soziale Verunsicherung, auch eine stärkere Wahrnehmung sozialer Spaltung und Skepsis gegenüber der herrschenden Politik, mit den erkannten Problemen fertig zu werden. Fast regelmäßig und unabhängig von den befragenden Instituten glauben rund drei Viertel der Befragten nicht, „dass es in Deutschland im Großen und Ganzen gerecht zugeht.“[1] Im Osten liegt dieser Anteil sogar bei 83 Prozent. Was die Zahlen verbergen, ist die weit gefächerte Gerechtigkeitsvorstellung, denn selbst soziale Gerechtigkeit ist mittlerweile ein unscharfer Begriff, weil er von der Klage der Besserverdienenden über zu hohe Steuersätze bis zur Kritik am niedrigen Regelsatz von Hartz IV reicht. Doch kurioserweise wurden ausgerechnet im April dieses Krisenjahres Daten erhoben, die scheinbar für ein Mehr an sozialer Gerechtigkeit sprechen. Bei einer Befragung des ipos-Institut für den Bankenverband meinten im Frühjahr nur noch 56 Prozent, dass es in der BRD sozial ungerecht zugeht. 2008 meinten das immerhin noch 71 Prozent und im Jahr davor 70 Prozent.[2]

Ein annähernd aussagefähiger Wert scheint dagegen die Wahrnehmung sozialer Spaltung zu sein. Immerhin meinen 61 Prozent der Befragten, „es gibt keine Mitte mehr, nur noch ein Oben und Unten“ und „14 Prozent sehen sich in jeder Hinsicht als Verlierer der gesellschaftlichen Entwicklung und gesellschaftlich ins Abseits abgeschoben.“[3] Aber auch hier ist Skepsis angebracht, weil es sich um standardisierte Antwortvorgaben handelt, die dem Gesellschaftsbild und Sprachverständnis der Fragebogenkonstrukteure entsprechen mögen, nicht aber dem der Befragten. So ist das Verschwinden der Mitte zum Beispiel eine gängige Formel von Modesoziologen und Sonntagskolumnisten, die bei Umfragen vor allem deshalb Zustimmung findet, weil es sich um eine gängige Metapher handelt. Die Befragten sagen ja auch nicht ihre Meinung, sondern sie haben die Wahl zwischen verschiedenen Antwortvorgaben, unter denen sie sich die passende oder die am wenigsten falsche aussuchen dürfen. Die Folge ist, dass wir durch Meinungsumfragen nur darüber informiert werden, wie sich das befragte Publikum in das Meinungsraster der Demoskopen einordnet.

Unter diesen Bedingungen mögen Umfragen statistisch signifikant sein, aber sie bringen weniger die Alltagsmeinung ans Tageslicht als die alltäglich veröffentlichte Meinung. Das zeigt sich auch bei Meinungsumfragen zur aktuellen Finanz- und Wirtschaftskrise. Das regelmäßig vom ZDF bei der Forschungsgruppe Wahlen in Auftrag gegebene Politbarometer zeigt seit Beginn der Krise, dass die allgemeine Wirtschaftslage deutlich schlechter bewertet wird als die eigene. So beurteilten im November des vergangenen Jahres 39 Prozent der Befragten die allgemeine wirtschaftliche Lage als schlecht, stuften ihre eigene wirtschaftlicher Situation aber nur zu elf Prozent als schlecht ein.[4] Anfang Oktober diesen Jahres hatte sich das Verhältnis mit 35 zu neun Prozent nicht wesentlich verändert; was sich jedoch geradezu radikal veränderte, war die Meinung zur Wirtschaftsentwicklung: Sie hellte sich erstaunlich auf. Seit dem August diesen Jahres liegt der Anteil der Optimisten erstmals über dem der Pessimisten. Am Ende des vergangenen Jahres meinten noch 60 Prozent, dass es mit der Wirtschaft abwärts geht, während weniger als zehn Prozent an eine Aufwärtsentwicklung glaubten. Im Oktober glaubten nur noch rund 25 Prozent an einen Abwärtstrend, aber knapp 30 Prozent an eine Besserung. Dieser Wachstumsoptimismus steht freilich im scharfen Gegensatz zur gleichzeitig negativen Beurteilung der wichtigsten gesellschaftlichen Probleme. So wurde die Arbeitslosigkeit im Januar von 45 Prozent der Befragten als wichtigstes Thema genannt und im Oktober sogar von 57 Prozent. Und das trotz optimistischer Einschätzung der wirtschaftlichen Entwicklung.[5] Ein weiterer Widerspruch zwischen gesellschaftlicher Beurteilung und persönlicher Wahrnehmung zeigt sich ausgerechnet im Hinblick auf die Banken. Obwohl sie und ihr Personal im Krisendiskurs Negativschlagzeilen wie noch nie in diesem Lande einsammelten, schnitten sie in der persönlichen Beurteilung ausgesprochen gut ab. Obwohl 54 Prozent der Befragten angaben, dass ihr Vertrauen zu den Banken stark gelitten habe, wollten das nur acht Prozent über ihre eigene Bank sagen und 53 Prozent gaben an, ihr Vertrauen zur eigenen Bank habe überhaupt nicht gelitten.[6]

Überlagerung oder Verdrängung der Wirklichkeit?

Die Widersprüche lassen sich aufhellen, bestätigen aber die eingangs geäußerte Skepsis gegenüber der Demoskopie. So gehört der Widerspruch zwischen persönlichem Sinn und gesellschaftlicher Wirklichkeitsdeutung zwar zur Normalität bürgerlicher Gesellschaften, aber die Dominanz der Medien verstärkt die Überlagerung der persönlichen Erfahrung durch mediale Wirklichkeitsdeutungen zusätzlich. Wirklich ist nicht mehr, was man selbst erlebt, sondern was im Fernsehen geschieht. Und dies um so mehr, je schwächer die Menschen in soziale Milieus und kulturelle Gegenöffentlichkeiten eingebunden sind. Die Krise war im Leben der meisten Menschen noch gar nicht angekommen, als sie bereits das Fernsehen beherrschte, weshalb sie ihre persönliche Lage deutlich besser, als die allgemeine beurteilten. Ob das freilich so bleiben wird, ist zu bezweifeln.

Man könnte meinen, das Alltagsbewusstsein sei im Hinblick auf die Krise widersprüchlich, weil ihm die Ursachen und Zusammenhänge der ökonomischen Prozesse verborgen bleiben, was sicherlich richtig ist, doch damit geht es dem Durchschnittsbürger nicht anders als den Geschäftsleuten. Denn obwohl die ökonomischen Grunddaten, wie etwa Auftragseingänge, Binnennachfrage oder Kapazitätsauslastung noch immer weit hinter dem Vorjahr zurückbleiben, schnellen die Käufe und Kurse an der Börse inzwischen wieder nach oben, als hätten die betreffenden Aktiengesellschaften bereits Lieferschwierigkeiten. Dass die Tatsachen des tiefen Absturzes durch Hoffnungen verdrängt werden, könnte auf eine optimistische Grundstimmung der wirtschaftlichen Akteure wie überhaupt der Gesellschaft zurückgeführt werden – doch weit gefehlt. Die eigentliche Ursache ist nicht gesellschaftlicher Optimismus, sondern ökonomischer Subjektivismus. Der marktradikale Diskurs hat das Wirtschaftsgeschehen seiner Bodenhaftung beraubt und den Eindruck entstehen lassen, als wäre für den Absatz nicht mehr die Kauffähigkeit, sondern die Kauflaune verantwortlich und für die Gewinne nur noch die Gewinnerwartung. Folglich werden seit Monaten Stimmungsbarometer wie der Ifo-Geschäftsklimaindex wichtiger genommen als die reale Wirtschaftsstatistik, und der Verbrauchsklimaindex steigt, obwohl der reale Einzelhandelsumsatz stagniert. Überhaupt ist die Stimmung seit langem besser als die reale Lage. Nach einer Erhebung des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) im zweiten Quartal 2009 ist über die Hälfte der Betriebe des verarbeitenden Gewerbes von der Krise betroffen: am stärksten die Betriebe der Metallindustrie mit 70 Prozent, von ihnen sehen sich 20 Prozent sogar existenziell bedroht; den zweiten Rang nehmen mit 61 Prozent Betriebe der Chemieindustrie ein, davon zehn Prozent mit existenziellen Schwierigkeiten.[7]

Die Verdrängung der Lage durch Stimmungsberichte dürfte auch dazu beigetragen haben, dass die wirtschaftlichen Aussichten bereits zu einem Zeitpunkt in rosa gemalt wurden, als die Statistik immer noch rote Zahlen schrieb. Natürlich passten die guten Nachrichten in den Wahlkampf und nichts lässt sich so leicht manipulieren wie ein Stimmungsbarometer. Doch das Kasino öffnete weltweit neu und unabhängig von allen Wahlen, weil noch immer viel zu viel Geld auf Schnäppchenjagd geht und die Aktienkurse selbst dann nach oben treibt, wenn sie nur noch von Hoffnung getragen werden.

Man könnte zur Begründung dieser Phänomene auch von einer Verdrängung der Krise sprechen, also von einer psychischen Abwehrreaktion. Doch es handelt sich eben nicht um eine psychologische, sondern um eine gesellschaftliche Erscheinung. Das oben beschriebene Auseinanderfallen der Beurteilung eines gesellschaftlichen Zustandes mit der persönlichen Erfahrung sowie der in Mitten der Stagnation aufkommende Kaufrausch an der Börse haben zum Beispiel nichts mit Schizophrenie zu tun, sondern sind Ausdruck einer Fraktalisierung der Realwirtschaft, die sich in der Fraktalisierung des Bewusstseins fortsetzt. Tatsächlich sind im Zuge der Globalisierung und der neoliberalen Modernisierung neue kapitalistische Produktionsverhältnisse und Betriebsweisen entstanden, die den Anschein erwecken, als wenn sich Gesellschaft und Ökonomie in autonome, sich selbst organisierende und selbst optimierende Systeme auflösen, die nur noch ihren eigenen Gesetzen folgen und sich jeder Verallgemeinerung entziehen. Wozu übrigens passt, dass die Betriebswirtschaftslehre die Volkswirtschaft verdrängt und die Bindestrichsoziologien zunehmen. Wenn aber die Sicht aufs Ganze in der Wissenschaft und danach auch im öffentlichen Diskurs verblasst, verschwindet das ganzheitliche Denken auch aus dem Alltagsleben. Die gesellschaftliche Wirklichkeit erscheint als Kampf aller gegen alle, in den nur noch der Markt – das eigentliche Gemeinwesen – regulierend eingreift. Widersprüche im individuellen Denken oder auch im öffentlichen Diskurs werden nicht mehr als unvereinbare Gegensätze wahrgenommen, sondern als Ausdruck gegensätzlicher Wirklichkeiten. Damit ist freilich nur erklärt, warum das Alltagsbewusstsein mit diesen Widersprüchen leben kann, weshalb es sie als normal registriert, nicht aber wie sie entstehen.

Die zwei Geschwindigkeiten der Krise

Eine entscheidende Ursache für die unterschiedliche Beurteilung der allgemeinen gegenüber der persönlichen Lage dürfte darin liegen, dass die Krise unterschiedliche Geschwindigkeiten aufweist. Nach der Pleite von Lehmann-Brothers überraschte die Finanzkrise nicht nur mit dramatischen Zusammenbrüchen führender Finanzinstitute, sie entwickelte auch eine dramatische, sich selbst beschleunigende Geschwindigkeit und traf zunächst ohnehin notleidende Produktionsunternehmen, vor allem in der Automobilindustrie. Das schnelle Handeln der Staaten beim Aufspannen milliardenschwerer Rettungsschirme verlangsamte jedoch die Pleiten, und die radikale Marktbereinigung führte von der Mitte dieses Jahres an bei den überlebenden Instituten sogar zu steigenden Renditen. Dies und die Verabschiedung der gewaltigen Konjunkturpakete erweckten den Eindruck, als hätte die Politik die Lage in den Griff bekommen.

So überrascht es auch nicht, dass im Februar 67 Prozent der befragten Bundesbürger dem Konjunkturpaket der Bundesregierung zustimmten, wobei zwischen den Anhängern der verschiedenen Parteien kaum Unterschiede erkennbar wurden. Selbst die Anhänger der FDP sprachen sich für das Konjunkturprogramm aus.[8] Überhaupt stieg das Ansehen der Politik deutlich. Waren 2004 nur 23 Prozent der Befragten der Meinung, die Politik könne die wirtschaftlichen Probleme des Landes lösen, waren es 2009 plötzlich doppelt so viel, nämlich 46 Prozent.[9] Für die Masse der Bundesbürger war dies jedoch eine Krise, von der sie nicht unmittelbar betroffen waren, sondern eine wirtschaftliche Sphäre, weitab von ihrer Alltagserfahrung. Massenentlassungen blieben aus, die Sparkonten wurden von der Bundesregierung garantiert, die Abwrackprämie erschien als wirksamer Rettungsschritt und die großflächig erleichterte Kurzarbeit ließ die Arbeitslosigkeit nur sehr mäßig steigen. Hinzu kam, dass die Depression für stabile oder gar sinkende Verbraucherpreise sorgte, was den Absturz des Massenkonsums bremste und die Binnennachfrage stabilisierte.

Trotzdem scheint diese Phase, in der die Krise vor allem in den Medien und auf alltagsfernen Finanzmärkten tobte, nicht spurlos am Massenbewusstsein vorbeigegangen zu sein. Das zeigt sich zum Beispiel im wachsenden Vertrauen in die Politik und der Aufwertung staatlicher Regulierung. So waren 2006 noch 59 Prozent der Befragten der Meinung, dass „zu viele Dinge durch den Staat geregelt“ werden und nur 33 Prozent verneinten dies. In diesem Jahr drehte sich das Verhältnis um: Nur noch 42 Prozent meinten, dass der Staat zu viel reguliert, während 50 Prozent mit den Staatseingriffen zufrieden waren.[10] Vermutlich ist die Aufwertung von Politik und Staat vor allem dem Eindruck zu verdanken, dass sich beide im aktuellen Finanzchaos als Lender of last resort[11] bewährten und den Totalausfall des Finanzsektors verhindern konnten. Ob sich damit die Akzeptanz der Wirtschaftsordnung erhöht hat, kann allerdings bezweifelt werden, denn die Zustimmung zur „sozialen Marktwirtschaft“ ging im gleichen Zeitraum deutlich zurück. 41 Prozent der Befragten waren der Meinung, dass sich die soziale Marktwirtschaft nicht bewährt habe, während es vor neun Jahre nur 18 Prozent waren.[12] Überraschend ist, dass der Bankenverband bei der Bewertung dieses Ergebnisses trotzdem feststellte: „Nach Jahren abnehmender Akzeptanz hat sich damit die Zustimmung zur Wirtschaftsordnung immerhin stabilisiert, wenngleich auf einem nicht befriedigenden Niveau.“[13] Angesichts eines so drastischen Vertrauensverlustes für die „Soziale Marktwirtschaft“ ist diese Feststellung zunächst verwunderlich, erklärt sich aber damit, dass sich die Autoren in ihrem Urteil nicht auf die langjährige Zahlenreihe bezogen, sondern ausschließlich auf das letzte Halbjahr. Gleichzeitig ist das zitierte Ergebnis äußerst vieldeutig, weil lediglich gefragt wird, ob sich die soziale Marktwirtschaft bewährt habe, nicht aber, ob sie grundlegend akzeptiert oder grundsätzlich abgelehnt wird. Immerhin deutet die Zahlenreihe aber auf einen interessanten Meinungswandel hin, der im Hinblick auf die zweite Geschwindigkeit der Krise virulent werden könnte. Nämlich dann, wenn sich nach dem Auslaufen der Kurzarbeit der Arbeitsplatzabbau beschleunigt und die Krise in den öffentlichen Haushalten ankommt. Im öffentlichen Krisendiskurs wird jedoch ausgeblendet, dass die Krise beim Erreichen der Talsohle nicht beendet ist, sondern mindestens drei Jahre vergehen werden, wahrscheinlich sogar deutlich mehr, ehe die Wirtschaftsleistung von 2008 wieder erreicht ist.[14] Erst in dieser langen Phase mit ihrer langsamen Geschwindigkeit wird die Krise im Alltag der abhängig Beschäftigten ankommen, die Bezieher von Sozialeinkommen mit Leistungskürzungen treffen und die öffentliche Daseinsvorsorge der Kommunen schrumpfen lassen.

Gängige Irrtümer zum Thema Sein und Bewusstsein

Marx wohl berühmtestes Zitat, dass nämlich das gesellschaftliche Sein das Bewusstsein bestimmt, scheint sich im bisherigen Krisenverlauf nicht bestätigt zu haben. Die Ängste der Rechten, dass die Gier und der Leichtsinn des Finanzsektors die Akzeptanz der Wirtschaftsordnung gefährden könnten, waren ebenso unbegründet, wie die Hoffnung der Linken, dass genau dies die Folge sein könnte. Bis heute scheinen sich alle geirrt zu haben. Vermutlich auch wegen eines gängigen Irrtums über das Verhältnis von gesellschaftlichem Sein und Bewusstsein. Das individuelle wie das gesellschaftliche Denken werden nämlich nicht durch die objektive Wirklichkeit bestimmt, sondern durch das subjektive Handeln. Der Irrtum besteht darin, dass „die Wirklichkeit, Sinnlichkeit nur unter der Form des Objekts oder der Anschauung gefasst wird“, wie bereits Marx in der Abgrenzung zum alten Materialismus betonte, „nicht aber als sinnlich menschliche Tätigkeit, Praxis, nicht subjektiv.“[15] Um sich Klarheit über das Alltagsbewusstsein in der Krise zu verschaffen, muss also vom subjektiven Handeln der Menschen ausgegangen werden, von ihrer Praxis und nicht von ihren objektiven Umständen, auch nicht von der bloßen Anschauung der bestehenden Verhältnisse, sondern von ihrer geistigen Durchdringung. Beschränkt sich das subjektive Handeln schon unter normalen Umständen auf die Verringerung von Risiken oder sogar auf Anpassungsstrategien, verharrt die gedankliche Auseinandersetzung auch in der Krise auf einer nur empirischen Anschauung. Die Tatsachen werden als gegebene und nicht als veränderbare Umstände wahrgenommen und dieses Sein bestimmt kein kritisches, sondern ein affirmatives Bewusstsein.

Schon die sozialen Zumutungen der neoliberalen Modernisierung haben kein kritisches Bewusstsein entwickeln können, weil die Masse der Beschäftigten, aber auch ihre gewerkschaftlichen Vertreter, die Modernisierungslogik zu ihrer eigenen machten. Denn das Besondere an dieser Modernisierung war, dass sie die Betroffenen zu Beteiligten des Umbaus machte, ihnen das Ko-Management als Überlebensstrategie aufzwang und die Solidarität durch den Wettbewerb der Standorte ersetzte.[16] Diese Denkweise mag mittlerweile als gescheitert erscheinen, aber sie ist zu einer gesellschaftlich dominanten geworden und bestimmt auch das Krisenbewusstsein. Not allein weckt weder Widerstand noch kritisches Bewusstsein, sie produziert Notlösungen und verschärft die Konkurrenz zwischen den Notleidenden, was durch die vom Neoliberalismus betriebene Individualisierung der gesellschaftlichen Beziehungen noch verstärkt werden dürfte. Erschwerend kommt hinzu, dass wesentliche Teile der Gewerkschaften, darunter auch die IG Metall, erst unter der rot-grünen Bundesregierung und dann während der großen Koalition ihre Konfliktbereitschaft gegenüber der herrschenden Politik einbüßten. Noch im Juni diesen Jahres bekundeten IG Metall und IG BCE ihre Bereitschaft zum „konstruktiven Dialog […], der Handlungsspielräume öffnet und neue Entwicklungen fördert“.[17] Diesen „konstruktiven Dialog“ will IG Metall-Chef Berthold Huber offenbar auch nach der Etablierung der schwarz-gelben Bundesregierung fortsetzen. So konnte man nach einem Interview mit der Stuttgarter Zeitung lesen: „Darüber hinaus hält Huber von Protesten gegen die Koalitionspolitik wenig. ‚Im Moment haben wir ein paar andere Probleme zu bewältigen, als Großdemonstrationen in Berlin oder anderswo zu organisieren’, sagte er zu dem von DGB-Chef Michael Sommer befürchteten ‚Eissturm’“.[18] Maßgeblich ist hier nicht das Bewusstsein von Berthold Huber, sondern dass es genau jenem gesellschaftlichen Sein entspricht, das die Entwicklung eines kritischen Krisenbewusstseins verhindert.

Die Gewerkschaften befinden sich freilich „in einer strategischen Zwickmühle. Auf der einen Seite sehen sie sich mit eindeutigen Erwartungshaltungen der Mitgliedschaft konfrontiert, also mit der Sicherung von Standorten und der Verteidigung von Arbeitsplätzen, Einkommen und Arbeitsstandards. […] Auf der anderen Seite wird eine strukturkonservative gewerkschaftliche Interessenpolitik den Anforderungen der historischen Konstellation nicht gerecht. Sie dürfte schnell an Grenzen stoßen. Weder lassen sich so die gegenwärtigen ökonomischen Strukturen, noch die Arbeitsplätze auf Dauer sichern. Vor allem aber würde eine solche Politik gegenüber dem notwendigen Umbau des industriekapitalistischen Produktionsmodells schlichtweg versagen.“[19] Eine gänzlich andere Strategie kann und muss dagegen die Dienstleistungsgewerkschaft ver.di verfolgen, weil sich ihr „Strukturkonservatismus“ mit dem Kampf um den Erhalt und Ausbau der öffentlichen Daseinsvorsorge verbindet und bei der Verteidigung von Arbeitsplätzen zugleich den Sozialstaat verteidigt.[20] Und da sie nicht nur Kernbelegschaften vertritt, sondern vor allem auch Prekarisierte, wie Niedriglöhner und LeiharbeiterInnen, ist sie zur wichtigsten Interessenvertretung gerade derjenigen geworden, die am härtesten sowohl vom neoliberalen Umbau des Beschäftigungssystems als auch von den Folgen der Krise getroffen werden. Vermutlich werden deshalb die entscheidenden Auseinandersetzungen der kommenden Jahre im Dienstleistungssektor stattfinden. Was zudem die Chance eröffnet, die Arbeitskämpfe im Dienstleistungssektor mit der Auseinandersetzung um eine steuerliche Absicherung der Kommunen und die Sicherung der öffentlichen Daseinsvorsorge zu verbinden. Während Berthold Huber glaubt, „ein paar andere Probleme zu bewältigen, als Großdemonstrationen in Berlin oder anderswo zu organisieren“, wird ver.di genau dies tun müssen. Wobei darauf zu hoffen ist, dass die Auseinandersetzungen im Dienstleistungssektor nicht nur große Teile der Öffentlichkeit erreichen, sondern auch eine Sogwirkung auf die Industriegewerkschaften ausüben.

[1] Deutsche finden die Bundesrepublik ungerecht, Welt-Online, 18. Juli 2009.

[2] Bundesverband deutscher Banken, Mai 2009.

[3] „Gesellschaft im Reformprozess“, Erhebung der TNS Infratest Sozialforschung, Friedrich-Ebert-Stiftung 2006.

[4] Forschungsgruppe Wahlen, Politbarometer Januar I 2009.

[5] Politbarometer Oktober I 2009.

[6] Bundesverband deutscher Banken, a.a.O, S. 7.

[7] Vgl. den IAB-Kurzbericht, 18/2009.

[8] Bundesverband deutscher Banken, a.a.O, S. 2.

[9] Ebenda, S. 3.

[10] Ebenda, S. 6.

[11] Im Bankenjargon der „Kreditgeber der letzten Zuflucht“.

[12] Bundesverband deutscher Banken, a.a.O., S. 8.

[13] Ebenda.

[14] Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, Pressemitteilung vom 8. Oktober 2009.

[15] Karl Marx, Thesen über Feuerbach, These 1, MEW 3, S. 5.

[16] Vgl. dazu Harald Werner, Amnesie sozialer Deutungsmuster – Wie der Neoliberalismus das Alltagsbewusstsein dekonstruiert hat, in: Z 56, Dezember 2003.

[17] Industriepolitische Konferenz von IG Metall und BCE am 26. Juni 2009 in Oberhausen, zitiert in: Blätter für deutsche und internationale Politik 10/2009, Wolfgang Uellenberg van Dawen, Wie weiter nach der Wahl?

[18] IG-Metall-Chef Huber im Interview, Stuttgarter Zeit vom 26.10.2009.

[19] Hans-Jürgen Urban, Die Mosaik-Linke, Blätter für deutsche und internationale Politik, 5/2009, S.72-73.

[20] Vgl. Wolfgang Uellenberg van Dawen, a.o.O.

Downloads