Ich habe bereits 1980 erlebt, was ein Staatsstreich ist. Seitdem hatte ich nicht erwartet, dass so etwas noch einmal passieren könnte. Als Präsident Yoon Suk-yeol am 3. Dezember 2024 das Kriegsrecht verhängte, dachte ich an einen Scherz. Da er mehr oder weniger Alkoholiker ist, meinten manche Koreaner, er habe sicher im Rausch gehandelt.
Die Armee der Putschisten bestand größtenteils aus Spezialeinheiten wie der Spionageabwehr, der Spezialoperationstruppe sowie der Truppe zur Verteidigung der Hauptstadt. Ihnen ist gemeinsam, dass sie nicht der Kommandogewalt des ROK/US-Combined Forces Command (CFC)1 unterstehen. In diesem Zusammenhang muss man wissen, dass der Kommandeur der US-Armee in Südkorea der Befehlshaber der südkoreanischen Truppen ist – sowohl in Zeiten des Krieges wie z. T. auch in Friedenszeiten, beispielweise beim Krisenmanagement. Da- her ist es faktisch unmöglich, Truppen ohne vorherige Genehmigung des US-Kommandeurs in Südkorea zu mobili- sieren. All dies basiert auf dem ROK/ US-Mutual Defense Treaty.
Vor diesem Hintergrund waren die Amerikaner offenbar sehr wütend auf die Putschisten; es scheint, dass sie von Yoons Coup überhaupt nichts gewusst hätten. Sogar Bidens Sicherheitsberater Jake Sullivan erfuhr von der Lage in Südkorea erst durch Fernsehberichte. War das ein politisches Spielchen? Yoons politisches Schicksal wurde faktisch entschieden, als das Parlament in der Nacht des 3. Dezember mehrheitlich beschloss, das Kriegsrecht aufzuheben. Das war eine klare Niederlage. Sie wurde erneut besiegelt, als der US-Vizeaußenminister am 4. Dezember erklärte, dass Yoons Maßnahme »illegitim« und »badly misjudged« (schlecht kalkuliert) sei. Das bedeutete, dass er politisch nicht mehr tragbar war.
Der Putsch von Yoon & Co. scheiterte ohne Wenn und Aber. Das südkoreanische Parlament beschloss daraufhin Yoons Amtsenthebung. Yoon wurde festgenommen. Das südkoreanische Verfassungsgericht soll endgültig entscheiden, ob er sein Amt weiter behalten kann. Seine Festnahme hat jedoch schlagartig eine neue innenpolitische Dynamik zwischen den sozialpolitischen Kräften freigesetzt. Auf der einen Seite haben sich die Oppositionspartei Demokratische Partei und die sozialen Bewegungen großflächig zusammengeschlossen, um den Präsidenten endgültig abzusetzen. Auf der anderen Seite mobilisierte die herrschende Partei (People’s Power Party) die konservativen und rechtsradikalen Massen, darunter sogar lumpenproletarische Elemente, die hemmungslos zur Gewalt bereit sind.
Yoons Regime lässt sich grundsätzlich als wirtschaftlich neoliberal und zugleich politisch neokonservativ charakterisieren. Besonders außenpolitisch hat es sich gerne als »Vasallenstaat« der amerikanischen Neocons profiliert. Die sogenannte »Werte-Diplomatie« der Biden-Regierung war ein zentraler Bestandteil seiner Identität. Die geopolitischen und geostrategischen Projekte der globalen Neocons bildeten gleichzeitig den Dreh- und Angelpunkt von Yoons Außenpolitik. Dazu gehörten unter anderem: Erstens eine äußerst konfrontative Linie gegenüber Nordkorea, zweitens eine anti-chinesische und anti-russische Außenpolitik, drittens eine pro-japanische, sogenannte »zukunftsorientierte« Kooperationslinie, die innenpolitisch sehr negativ wirkte, und viertens alles in allem ein NATO-ähnliches Modell in Ostasien, d. h. eine USA-Japan-ROK Militärallianz. Diese wird von Biden selbst als »beste Errungenschaft« seiner Amtszeit bezeichnet und stellt die Krönung all dieser geopolitischen Projekte dar.
Die Demokratische Partei und andere kleinere Oppositionsparteien legten eine Begründung für den Antrag auf Amtsenthebung vor, in der auch die außenpolitischen Fehlschläge des Präsidenten thematisiert wurden. Bezeichnend ist, dass daraufhin ein massiver Angriff seitens der Amerikaner und der südkoreanischen Konservativen erfolgte mit der Erklärung, Yoons Außenpolitik sei unantastbar. Das war ein typischer Eingriff in die inneren Angelegenheiten Südkoreas. Letztlich wurde das ursprüngliche Begründungsschreiben abgeändert.
Präsident Yoon begründete seinen »Autogolpe«, seinen Staatsstreich von oben, damit, dass es angeblich einen «Wahlbetrug« bei den Parlamentswahlen im Mai 2024 gegeben habe. Damals hatten die Oppositionsparteien einen phänomenalen Sieg errungen. Mit dieser Desinformation wurde auch auf die Behauptung einer »chinesischen« Wahl-Intervention angespielt. Yoon erklärte, das Kriegsrecht sei dringend notwendig gewesen, um die »Wahrheit« herauszufinden. Als Parallele zum Fall Südkoreas ist anzumerken, dass der »stillschweigende« Staatstreich des Verfassungsgerichts in Rumänien auch unter dem Deckmantel einer sogenannten Wahl-Intervention durchgeführt wurde, in dem Fall einer »russischen«. Das heißt, Yoons Coup ist m.E. keineswegs ein isolierter Betriebsunfall der Demokratie, sondern ein Glied in einer Kette des Krisenmanagements der Neocons angesichts des geopolitischen Niedergangs der westlichen Hegemonie.
Das nächste Hauptargument ist äußerst banal: Auch die nordkoreanische Bedrohung sei Ursache für den Putschversuch gewesen. Es ist mittlerweile gut bekannt, dass Yoon & Co. versuchten, Nordkorea zu einem militärischen Konflikt zu provozieren. Sie schickten die Drohne einer südkoreanischen Spezialeinheit direkt nach Pjöngjang, der Hauptstadt Nordkoreas. Als anti-nordkoreanische Menschenrechtsorganisationen Ballons mit Flugblättern nach Nordkorea fliegen ließen und Nordkorea mit denselben Mitteln reagierte, bombardierte die südkoreanische Artillerie den nordkoreanischen Ort, wo die Ballons aufgestiegen waren. Um das Kriegsrecht zu rechtfertigen, war Yoons Team bereit, einen lokalen Krieg auf der koreanischen Halbinsel zu riskieren.
Bezüglich der nordkoreanischen Reaktion auf die Provokationen von Yoon & Co. erscheint es notwendig anzumerken, dass Nordkorea unerwarteterweise eine eher strategische Duldung gezeigt hat. Im Oktober letzten Jahres proklamierte Kim Jong-un in einer Ansprache, Nordkorea habe keinerlei Interesse an der »Wiedervereinigung« oder der gewaltsamen »Befreiung« Südkoreas, einer »Kolonie des US-amerikanischen Imperialismus«. Aber ein Krieg würde in Korea den Zusammenbruch des strategischen Gleichgewichts der Kräfte bedeuten. Das ist meiner Meinung nach eine Folge der Multipolarisierung. Die wirtschaftlichen Hilfen von Südkorea und den USA sind nun nicht mehr unabdingbar, um einen neuen Aufschwung der nordkoreanischen Wirtschaft zu ermöglichen. Ebenso wenig die bisher dominierende Formel des Junktims zwischen der Denuklearisierung und Wirtschaftshilfe, die lange Zeit die Nordkoreapolitik Südkoreas und der USA prägte. Dies symbolisiert einen Umbruch in der »Ära Kim Jong-un«. Kims Nordkorea hat den Wechsel in die »multipolare Welt« mit aller Entschiedenheit vollzogen. Man könnte sagen, dass der neue Vertrag zwischen der Demokratischen Volksrepublik Korea und Russland im Jahr 2024 den Weg dafür geebnet hat.
Seit der Wahlniederlage im vergangenen Jahr war Yoon gar nicht in der Lage, seine neoliberalen »Reformen« durchzusetzen. Dies führte zu einer Art »Unregierbarkeit«, aus der Yoon keinen Ausweg finden konnte. Als einzigen Ausweg sah er offenbar einen Coup.
Yoon wird unabhängig vom Prozess vor dem Verfassungsgericht auch wegen »Hochverrats« angeklagt. Sollte es ihm gelingen seine Macht zu sichern, würden mit aller Wahrscheinlichkeit sowohl eine Präsidialdiktatur in der Republik Korea als auch ein regionaler Krieg folgen. Wie eingangs erwähnt, hat sein Coup neue soziale Dynamiken in Südkorea freigesetzt. Es gibt nun zwei Optionen: eine umfassende Reform nach vorn oder eine massive Reaktion! Bis jetzt haben die progressiven Kräfte im Kampf gegen den »liberalen« Faschismus die Oberhand behalten – allerdings nur vorläufig.