Vier Ideen prägen die ökonomische Strategie des Kapitals in Deutschland. Die massive Umverteilung von Einkommen und Vermögen, die Deregulierung des sozialen und politischen Regelwerks, die umfassende Förderung der Produktivkraftentwicklung, vor allem von so genannten Schlüsseltechnologien, und die internationale Expansion. Zu diesem Schluss kommen der Bremer Wirtschaftswissenschaftler Jörg Huffschmid und der Leiter des Instituts für marxistische Studien und Forschungen (IMSF) in Frankfurt am Main, Heinz Jung.[1]
Beide Autoren sind inzwischen verstorben. Doch ihr Text von 1988 – Ronald Reagan ist noch US-Präsident und die DDR-Ikone Katarina Witt gewinnt die Goldmedaille im Eiskunstlaufen in Calgary – atmet noch immer die Frische der klaren Analyse. Es mag der eine oder andere Charakterzug des nun wieder gesamtdeutschen Kapitals noch fehlen; Banken und Finanzmärkte tauchen an jener Stelle (Seite 48-52) nicht auf, und doch kritisieren Huffschmid und sein kongenialer Partner die geringe Tragfähigkeit einer solchen Kapitalstrategie. Diese Strategie mag zwar „individuell erfolgreich“ sein, „gesamtwirtschaftlich“ funktioniert sie nicht. Dieser Tage illustriert die so genannte Euro-Krise in größerem Rahmen diese Jahrzehnte alten Bedenken.
Politik
Der vielleicht politischste Text des Ökonomen Huffschmid wurde von der – nomen est omen – Heinz-Jung-Stiftung kürzlich aus Anlass der Tagung „Kapitalismuskritik heute – zum Forschungsprogramm von Jörg Huffschmid“[2] wieder aufgelegt: Die vor mehr als zwei Jahrzehnten veröffentlichte „Reformalternative“ von 1988. Ein „Un-Wort“, wird Huffschmid später scherzen.
Analyse und Alternativvorschläge kann man realhistorisch als ein Zeitdokument lesen („Sozialistische Länder“) oder unmittelbar auf heute beziehen („Staatsmonopolistischer Kapitalismus“). Im Kern geht es um Antworten auf die Frage, wie in einer für linke Alternativen – wieso eigentlich? – ungünstigen politischen, gesellschaftlichen und sozialen Phase akute Menschheitsgefahren gebannt und ein Wandel eingeleitet werden können. 1988 schreckten der atomare Ost-West-Konflikt und heraufziehende ökologische Bedrohungen, heute erscheint die atomare Gefahr niedriger, jedoch die Gefahr weiterer sowie größerer militärischer Auseinandersetzungen höher zu sein, und das ökologische Szenario, schauen wir über den deutschen, wohl auch europäischen Tellerrand hinaus, hat sich verschlechtert.
Dem Reprint ist ein späterer Aufsatz Huffschmids aus dem Jahre 1995 beigegeben, in denen er die Linien der Reformalternative unter den radikal veränderten Bedingungen der postsozialistischen Zeit nach 1989/1990 bestätigt. Das „marxistische Plädoyer“ für Reformen will retten, was zu retten ist, ohne die Option auf eine nicht-kapitalistische Zukunft aufzugeben. Auf die unmittelbare Gegenwart bezogen heißt es nüchtern: „Es geht mit einer auf Abrüstung, Friedensfähigkeit, Verantwortung für die globalen Probleme, soziale Modernisierung und Demokratisierung orientierten Reformalternative nicht um den Bruch mit dem Kapitalismus, sondern um die Durchsetzung eines friedensorientierten und reformoffenen Entwicklungswegs im staatsmonopolitischen Kapitalismus.“ Die Befreiung von Ausbeutung, Unterdrückung und Fremdbestimmung und die Durchsetzung realer Gleichheit der Lebenschancen für alle Menschen, dieser Anspruch „der Moderne“ blieben unerfüllt. Unter diesem Blickwinkel ist die Moderne „bei weitem noch nicht zu Ende“. Die Schritte dahin, so Huffschmid und Jung, vollziehen sich hier und heute im Kampf um die Reformalternative.
Zu viel Geld
Szenenwechsel. Im späten Herbst des Jahres 2010 übernahm ein Finanzinvestor für ein paar hundert Millionen Euro einen namhaften Kindersitzhersteller. Mit dieser Übernahme konnte der Fonds nach langer Zeit wenigstens die Hälfte seines Volumens von 4,3 Milliarden Euro investieren. Für zwei Milliarden Euro sucht Nordic Capital weiterhin händeringend nach einem lohnenden Anlageziel. Dieses Allerweltsbeispiel belegt: Es ist nicht zu wenig, sondern zu viel Geld auf der Welt.
Wer diese Merkwürdigkeit verstehen möchte, sollte zu dem zweiten neuen Buch von Jörg Huffschmid greifen.[3] Ein Jahr nach seinem Tode ist sein Werk aktuell wie seit Jahrzehnten. Der linke Kapitalmarktexperte, der in Bremen und New York lehrte, argumentierte lange vor der großen Krise 2007-2010, dass die sich bildende Spekulationsblase platzen musste. Und dass immer neue Spekulationsblasen den „finanzmarktgetriebenen Kapitalismus“ – Huffschmids Zentralbegriff – auch zukünftig in immer neue Krisen stürzen würden.
Nach der Krise war für Huffschmid also vor der Krise. Dass er damit Recht behalten dürfte und warum die notdürftigen, vielfach interessengeleitet gebrochenen Regulierungen der Regierungen wenig bis nichts gegen die kommende Krise ausrichten, zeigt neben dem oben angerissenen Reprint „Reformalternative“ und der von Rudolf Hickel und Axel Troost einfühlsam editierten Aufsatzsammlung „Kapitalismuskritik heute“ auch das neue Buch des Financial-Times-Kolumnisten und linken Kapitalkritikers Lucas Zeise.[4]
Geld regiert die Welt. Davon gehen im Unterschied zu linken Orthodoxen Huffschmid wie Zeise aus. Bei letzterem darf gestaunt werden, dass die herrschende Lehre in der Berliner Politik, im Sachverständigenrat und an den deutschen Hochschulen gar keinen handfesten Begriff vom Geld hat.
Zur Erinnerung, Geld hat einen Gebrauchswert. So kann Geld gegen Waren wie Äpfel, Birnen und Autos getauscht werden („Zahlungsmittelfunktion“). Oder man kann sein Geld auf die hohe Kante legen und bei einer Bank sparen („Wertaufbewahrungsfunktion“). Und Geld nutzen wir als Wertmaßstab: So und so viel Euro kostet das Brot, so und so viel Euro bekomme ich für meine Arbeit gezahlt. So hat Geld einen inneren, quasi echten Wert. Das war offensichtlich, solange das Edelmetall Gold als Währung diente. Weniger handfest erscheinen dagegen die heutigen Banknoten aus Papier und die Münzen aus preiswerten Industriemetallen. Trotzdem entspricht die Menge Geld, die jemand besitzt, dem Anteil am Sozialprodukt, den er erwerben kann, wenn er das Geld ausgibt. Dieses Sozialprodukt steht für die menschliche Arbeit, die in einem Jahr geleistet wird. Insofern bestimmt die Arbeit den „echten“ Wert allen Geldes, die tatsächliche Kaufkraft. Doch würde jeder nun sein Geld ausgeben, würden wir sehr schnell merken, dass es gar nicht genügend Waren für das viele Geld gibt.
Genau so erscheint holzschnittartig die Realität der modernen Globalisierung. Gab es bis in die 1970er Jahre weltweit mehr Waren als nominal Geld, gibt es heute – je nach Studie – drei oder vier Mal so viel Geld wie Waren. Der angehäufte monetäre Reichtum der Begüterten und Finanzfonds ist also letztlich fiktiv. Und das macht Reichtum zu einer faustischen Falle: Denn (fast) jeder, der etwas Geld übrig hat, versucht, für sein Erspartes möglichst hohe Zinsen und Renditen zu ergattern. Entsprechend handeln institutionelle Anleger wie Riester-Fonds und Lebensversicherungen, Hedge-Fonds und Reiche. Mehr oder weniger wird überall spekuliert auf Teufel komm raus. Bis sich dann, wie jetzt in Irland, der Belzebub zeigt.
Vor der Krise
An diesem Geldüberhang hat auch die große Krise nichts geändert. Dass der nächste Krach bestimmt kommt, legt nicht allein Zeises von Huffschmid inspirierte Geld-Analyse über den „vertrackten Kern des Kapitalismus“ nahe, sondern auch Huffschmids eigene Klassiker-Texte.
Seit den 1980er Jahre untersuchte der Träger des Global Award of Change die tendenzielle Loslösung der Geldgeschäfte von der realen Produktion (wenngleich er eine Rückkoppelung von den Finanzmärkten zur Realwirtschaft sah). Und zwar untersuchte Huffschmid sie als eine Folge der wachsenden Kluft zwischen Arm und Reich. Da es für den faustischen Reichtum weder genügend Luxusartikel noch reale Anlagemöglichkeiten in Fabriken, Büros und Containerschiffen gibt, fließt das überflüssige Geld als Kapital auf die Finanzmärkte und sucht dort nach möglichst hohen Renditen. Diese gibt es aber nur für hohes Risiko – und das tritt irgendwann einmal wieder ein.
Bonis zu begrenzen, Eigenkapitalvorschriften umzuschreiben und eine (minimale) Bankenabgabe werden den Topf nicht deckeln können, der weiter vor sich hinbrodelt und an vielen Stellen der Welt überzukochen droht. Huffschmid hoffte, mit konsequenten politischen Schritten solche finanzkapitalistischen Spekulationen bändigen zu können.
Das heißt nicht, dass Huffschmid uns nicht offene Fragen zurückließ. Der sich ausdehnende moderne Industriekapitalismus schafft zwar in Asien, Südamerika und am Rande Afrikas eine neue Arbeiterklasse, aber in den klassischen Industriestaaten befindet sich die Arbeiterklasse im engen Sinne in Auflösung. Damit verschwindet aber auch das erhoffte Subjekt des historischen Wandels. Zudem scheinen mir alle drei genannten Autoren den Reformwillen des Kapitals, zumindest einiger „aufgeklärter“ Kapitalgruppen, zu unterschätzen, Erde und Gesellschaft lebenswert zu erhalten.
Vernünftigerweise, da stimme ich Huffschmid zu, gibt es keine realistische linke Alternative zu dieser Reformation, wie sie in der „Reformalternative“ angedacht wird. Dass der neue alte Huffschmid den Programmstreitern der Linkspartei ins Stammbuch geschrieben gehört, versteht sich von selbst. Der Rezensent empfiehlt jedoch auch Oskar Lafontaine („Lafontaines Absage an die Änderung der Verteilungsverhältnisse zwischen Kapital und Arbeit“) und dem SPD-Vorsitzenden Sigmar Gabriel („Demokratisierung erschöpft sich nicht in der Durchsetzung der Rechtsgleichheit“), der sich auf die Suche nach einer zündenden Modernisierungsidee für seine Volkspartei begeben hat, die Lektüre Huffschmids. Ebenso wie den Grünen Claudia Roth und Jürgen Trittin, die sich nach der stärksten aller Parteien verzehren („Unmittelbare und örtliche Betroffenheit verbindet sich mit den Fragestellungen zur Lösung der globalen Probleme, zur Kontrolle und sozialökologischen Gestaltung der wissenschaftlich-technischen Revolution u.a. Die Ökologiebewegung im breiteren Sinne ist somit eine wichtige Kraft der Reformalternative.“). Eine wichtige Kraft der Reformalternative ist eben mehr als die parteipolitische Vereinnahmung von Bürgerprotesten wie „Stuttgart 21“ per medialem Event.
Doch genug des tagespolitischen Palavers. Wer diese durch und durch schwergewichtigen Neuerscheinungen im Politischen Sachbuch liest, den können Zweifel beschleichen, ob der real existierende Finanzkapitalismus zu zähmen ist. Doch dem harten Kern des politischen Konzepts dürfte der Bestand gesichert sein: Linke Politik, andernorts und in Parteien, hat sich auf die theoretische Ausarbeitung und politische Durchsetzung von Veränderungen zu konzentrieren, so Huffschmid, die sich an den Kriterien sozialer Gerechtigkeit und ökologischer Verträglichkeit, an Frieden und Demokratie orientieren. Dabei beharrte Huffschmid auf dem Gegensatz von Kapital und Arbeit als Grundwiderspruch und als Leitgedanken jeder Analyse.
Fulminante und dem Autor durchaus vertraute Fehleinschätzungen früherer Zeiten benennt Huffschmid nahezu schamlos in seinen jüngeren Texten: Die Hoffnung auf die „Haupttendenz“, einer Koexistenz zweier Gesellschaftssysteme (1988) oder auf das bewusste und organisierte Proletariat, das „die Verschlechterung der eigenen Lage als notwendige Tendenz des Spätkapitalismus erkennt“ und deshalb den Kampf aufnimmt (1970). Orthodoxie – der zeitweilige Vorstand der DKP benutzte diesen Begriff – schätzte Huffschmid nicht.
Die Schwächen der Marxisten, neue Probleme zu erkennen und die neuen Bewegungen zu Frauen und Umwelt „zu begreifen“, beklagte er. Möglicherweise, so Jörg Huffschmid, müssen von Linken, marxistischen Linken noch kleinere Brötchen gebacken werden, als selbst im Konzept der Reformalternative vermutet worden war. „Eine theoretisch begründete Alternative hierzu gibt es nach meiner Ansicht aber nach wie vor nicht.“ Mein Doktorvater Huffschmid, wie er leibt und lebt.
[1] Jörg Huffschmid und Heinz Jung, Reformalternative. Ein marxistisches Plädoyer (1988), Reprint, 174 S., IMSF e.V., Frankfurt am Main 2010, 10,00 Euro.
[2] Berlin 19./20. Februar 2010; vgl. den Konferenzbericht in Z 82, Juni 2010, S. 25ff sowie die Huffschmid gewidmeten Beiträge in Z 81 und Z 82.
[3] Jörg Huffschmid, Kapitalismuskritik heute, hrsg. von Rudolf Hickel und Axel Troost, 214 S., VSA: Verlag, Hamburg 2010, 16,80 Euro.
[4] Lucas Zeise, Geld – der vertrackte Kern des Kapitalismus, 192 S., PapyRossa Verlag, Köln 2010, 12,90 Euro.