Nach den österreichischen Parlamentswahlen im Herbst 2024 zeichnete sich eine komplizierte und umkämpfte Regierungsbildung ab. Erstmals war die rechtsextreme Freiheitliche Partei Österreichs (FPÖ) mit 28,8% der Stimmen als stärkste Partei aus den Nationalratswahlen hervorgegangen. Es folgten die Österreichische Volkspartei (ÖVP), die schwer an Stimmen verloren hatte, mit 26,3% und die Sozialdemokratische Partei Österreichs (SPÖ) mit einem stabilen Ergebnis von 21,1% sowie mit deutlichem Abstand die neoliberalen Neos mit 9,1% und die Grünen mit 8,2%. Für eine Regierungsbildung sollte die Entscheidung der ÖVP ausschlaggebend sein. Die ÖVP war ihrerseits gespalten. Ihr Wirtschaftsflügel liebäugelte mit einer blau-schwarzen Koalition mit der FPÖ. Stärker sozialpartnerschaftlich orientierte Kräfte um den Bundeskanzler Karl Nehammer bevorzugten hingegen eine Dreierkoalition mit SPÖ und Neos. In einer solchen Koalition hätte die ÖVP den Bundeskanzler stellen können, sie hätte auch der außenpolitischen Westorientierung der ÖVP entsprochen. Entsprechende Verhandlungen für eine Dreierkoalition zogen sich über Wochen und scheiterten zu Beginn des Jahres. Der Wirtschaftsflügel der ÖVP beharrte auf einer harten Sparpolitik ohne jede Konzession an die SPÖ und führte damit den Abbruch dieser Verhandlungen herbei. Die Industriellenvereinigung, die das Großkapital vertritt und maßgebliche Teile des Wirtschaftsbundes, haben sich damit als Königsmacher für eine hart-rechte Koalition erwiesen. Es droht ein entdemokratisierender Staatsumbau. Der frühere ÖVP-Spitzenpolitiker und EU-Kommissar Franz Fischler sieht Österreich in einer „demokratieriskierenden Situation“. Ein Ende der achtzigjährigen Nachkriegsordnung mit ihren sozialpartnerschaftlichen Strukturen zeichnet sich ab. Auf der politischen Rechten werden die Karten neugemischt. Der ÖVP droht dauerhaft eine Rolle als zweite Geige.
ÖVP und FPÖ kommen aus unterschiedlichen Strömungen der österreichischen Rechten: die ÖVP aus dem politischen Katholizismus, die FPÖ aus den Deutschnationalismus. Beide Strömungen haben in der Krise der Zwischenkriegszeit eine faschistische Wende genommen. Österreich ist das einzige europäische Land, das zwei Formen faschistischer Herrschaft kannte: erst den Austrofaschismus von 1934-1938, dann nach der Annexion durch das Deutsche Reich den Nazi-Faschismus von 1938-1945. Die NSDAP hatte in Österreich allerdings auch eine Massenbasis. In parteipolitisch neuen Formen, aber oft mit alten Kadern haben sich die beiden Strömungen nach dem Zweiten Weltkrieg wieder konstituiert. Über viele Jahre bildete die ÖVP mit ihrem Hauptgegner der Zwischenkriegszeit, der SPÖ, eine Koalition. Eine wesentliche Form der Kompromissbildung lief über die Sozialpartnerschaft. Sie ist von Wirtschafts- und Landwirtschaftskammer einerseits, Arbeiterkammer und Gewerkschaften andererseits getragen und hat viele Änderungen durchlaufen. Die Wirtschaftskammer hat traditionell eine Vertretungs- und Schutzfunktion für Klein- und Mittelbetriebe eingenommen, das Großkapital hat mit der Industriellenvereinigung eine Vertretung außerhalb der Sozialpartnerschaft. Wirtschafts- und Landwirtschaftskammer sind eine Bastion der ÖVP, in Arbeiterkammer und Gewerkschaften ist die SPÖ stark vertreten. Die FPÖ ist traditionell schwach in den sozialpartnerschaftlichen Institutionen verankert und hat historisch immer wieder scharf Arbeiterkammer und Gewerkschaften angegriffen. Großindustrielle haben wiederholt Sympathien für die FPÖ und die beiden schwarz-blaue Koalitionen (2000-2006 und 2017-2019) gezeigt.
Ideologisch hat die FPÖ seit den späten 1980er Jahren zunehmend die ÖVP über das „Ausländer“thema vor sich hergetrieben. Die FPÖ forciert die ethnisierte Konkurrenz. In den späten 1980er und in den 1990er Jahren waren für die FPÖ nicht die Strukturkrise der Schwerindustrie und Sparpolitik, sondern die ausländischen Arbeitskräfte verantwortlich für die Arbeitslosigkeit. In den letzten Jahren hat sie sich auf die ethnisierte Konkurrenz um Sozialleistungen verlegt. Sie suggeriert hier als Kernproblem die „Einwanderung in den Sozialstaat“. Sparpolitik hat die FPÖ als Sachzwang verinnerlicht. Kürzungen sollen die „Anderen“ und die sozial Schwächsten treffen. Die ÖVP ist auf diese Losungen eingeschwungen. Im Wahlkampf war sie kaum von der FPÖ unterscheidbar – und geriet damit ins Hintertreffen. Ihre Kritik konzentrierte sie sich auf die Person des FPÖ-Vorsitzenden Herbert Kickl mit seiner aggressiven Rhetorik. In der kurzzeitigen ÖVP/FPÖ-Koalition unter der Führung von Sebastian Kurz (ÖVP) hatte die ÖVP mit Kickl als Innenminister sehr schlechte Erfahrungen gemacht. Kickl hatte damals das Ministerium massiv umgebaut und ÖVP-Netzwerke angegriffen. Ein realer Unterschied zwischen beiden Parteien war primär in der Außenpolitik zu erkennen. Die FPÖ betont die Neutralität Österreichs und kritisiert die Ukraine-Politik der EU scharf. Die ÖVP ist eher westorientiert. Den christdemokratischen Partnerparteien der ÖVP ist die FPÖ deutlich zu russlandfreundlich. Nach dem Wahlsieg Trumps in den USA dürften außenpolitische Erwägungen für die ÖVP weniger eine Rolle gespielt haben.
Den Rahmen für die Koalitionsverhandlungen gab eine hysterische Diskussion über das Budgetdefizit ab. Hier wurden die Defizitprognosen in den letzten Monaten signifikant erhöht. Allerdings sind die Prognosen – laut Fiskalrat 3,9% für 2024 und 4,1% für 2025 – eigentlich nicht wirklich dramatisch. Die Staatsschulden sind seit der Covid-Krise nicht zuletzt aufgrund der großzügigen Subventionen für die ÖVP-Klientel gestiegen. Dramatischer als die Schuldenlage sind die wirtschaftlichen Strukturprobleme Österreichs. Die Krise der deutschen Autoindustrie hinterlässt deutliche Spuren in der österreichischen Zulieferindustrie. Allerdings ist das Spezialisierungsprofil der österreichischen Industrie zum Teil günstiger als das deutsche. So spielen Ausrüstungen für den Bahnsektor in Österreich eine wichtigere Rolle. Die FPÖ hat sich frontal selbst gegen eine vorsichtige De-Karbonisierungsstrategie gestellt. Die ÖVP ist bei ökologischen Maßnahmen in der bisherigen ÖVP-Grünen-Koalition immer mehr auf die Bremse getreten. In einem internen Papier der Wirtschafskammer für die Koalitionsverhandlungen forderte ein Autorenteam laut Presseberichten (Der Standard, 30.11.2024) eine Beschränkung von Klimaschutzmaßnahmen auf ein Minimum. Besonders vehement sprach sich das Papier gegen ein Ende von klimaschädlichen Förderungen aus. Industrielle Strukturveränderungen und öffentliche Investitionen für einen ökologischen Umbau sind nicht Teil der Strategien der Unternehmerverbände. Stattdessen Austerität auf allen Kanälen. Diese Strategie der Kapitalseite hat auf die Koalitionsverhandlungen durchgeschlagen.
ÖVP und FPÖ sind in den letzten 25 Jahren immer dann zusammengekommen, wenn sich in der ÖVP der Flügel durchsetzte, welcher der Industriellenvereinigung nahesteht. Diese Konstellation hat auch in den Koalitionsverhandlungen nach den letzten Wahlen schrittweise die Überhand gewonnen. Der Wirtschaftsflügel der ÖVP und die Neos waren in sozial- und wirtschaftspolitischen Fragen zu keinen Kompromissen gegenüber der SPÖ bereit. Sie forderten harte Einschnitte bei Pensionen, im Gesundheitssystem, reale Einkommenseinbußen für die öffentlichen Bediensteten und blockierten Steuererhöhungen. Die SPÖ war zwar kompromissbereit, zog aber klare Grenzen. Daraufhin verließen zunächst die Neos die Koalitionsverhandlungen, dann brach auch die ÖVP die Gespräche ab. Nehammer trat als Parteivorsitzender zurück.
Jetzt stehen Koalitionsverhandlungen von FPÖ und ÖVP an. Die sich abzeichnende Koalition ist eine Koalition der Austerität. Eine blau-schwarze Regierung dürfte darauf zielen, gesellschaftliche und institutionelle Widerstände gegen eine unsoziale Sparpolitik zu brechen. Das bedeutet absehbar Angriffe auf die institutionelle Verankerung von Gewerkschaften und Arbeiterkammer sowie auf die Selbstverwaltung in der Sozialversicherung. Auch starker Druck auf die Eigenständigkeit der Justiz, den öffentlichen Rundfunk und Fernsehen, Beschneidungen bei Wissenschaft und Bildung sind zu erwarten. Konflikte zwischen FPÖ und ÖVP sind in außenpolitischen Fragen absehbar. Der Verlust der Kanzlerschaft dürfte die ÖVP dauerhaft schwächen. Programmatisch ist sie schon jetzt ausgezehrt. Sie begäbe sich mit einer blau-schwarzen Koalition in eine Position der Subalternität. Ihre Hauptressource sind klientelistische Netze auf allen Ebenen des Staates. Diese dürften durch die Konkurrenz der FPÖ ebenfalls unter Druck geraten.
Die SPÖ unter dem deutlich traditionell-sozialdemokratisch profilierten Parteivorsitzenden Andreas Babler hat sich durch ihre klare Haltung in sozialpolitischen Fragen in den Koalitionsverhandlungen Glaubwürdigkeit als Oppositionskraft erhalten. In dieser Haltung hatte Babler offensichtlich auch die Unterstützung der Gewerkschaften. Sollte eine Kickl-Regierung tatsächlich zustande kommen, würden die österreichischen Gewerkschaften vor großen Herausforderungen stehen. Angriffe auf die institutionelle Macht der Gewerkschaften würden ein anderes Handlungsrepertoire und neue gewerkschaftliche Strategien erfordern. Mobilisierungen von Flüchtlingsinitiativen, Menschenrechtsgruppen, Anti-Rechts-Gruppen zeichnen sich bereits jetzt ab.