In Z 139 hat Peter Wahl das Agieren des neoliberalen Staatspräsidenten Frankreichs, Emmanuel Macron, nach der für seine Bewegung katastrophalen Europawahl geschildert und analysiert. Macron hatte – scheinbar überstürzt – das Parlament aufgelöst, was zu den zentralen Rechten des Staatspräsidenten der V. Republik gehört. Auch die folgenden zwei Wahlgänge der Parlamentswahlen verliefen für die Bewegung Macrons sehr schlecht. Das erhoffte Aufbruchssignal für die »republikanische Mitte« blieb aus. Indes ergab sich auf der Linken durch die Bildung des »Nouveau Front Populaire« (NFP) eine unerwartete Entwicklung: Der NFP erreichte im zweiten Wahlgang aufgrund einer großen elektoralen Disziplin die relative Mehrheit der Sitze. Und auch im Folgenden blieb der NFP auf Kurs: Mit Jean-Luc Mélenchon zog sich eine Reizfigur für die wiedererstarkten Sozialdemokraten innerhalb des NFP ein Stück weit zurück, mit der erfahrenen Verwaltungsfachfrau und Korruptions- und Steuerbetrugsbekämpferin Lucie Castets wurde eine hochrespektable Kandidatin für das Amt der Ministerpräsidentin einer linken Minderheitsregierung gefunden.
Macron jedoch nahm die Olympischen Spiele zum Anlass einer wochenlangen Hängepartie. Dann ernannte er unter Missachtung des Wahlergebnisses der Parlamentswahlen den rechtslastigen ehemaligen EU-Funktionär Michel Barnier zum Regierungschef. Vorausgegangen waren, und das ist der eigentliche Skandal, mehrere Sondierungsgespräche u. a. zwischen Macron und Marine LePen vom rechtsradikalen Rassemblement National (RN), der Nachfolgepartei des Front National (FN). Vor kurzer Zeit wäre das noch undenkbar gewesen.
Marine LePen, die die Präsidentschaftswahlen 2027 im Auge hat, ist nun in der Lage, mit der permanenten Drohung eines Misstrauensvotums die Minderheitsregierung von Barnier vor sich herzutreiben. LePen hat ihre Partei in den vergangenen Jahren in der Diktion deutlich verbürgerlicht. Durch Aktionen wie die Distanzierung von AfD-Überlegungen zum Thema »Remigration« hat sie in bürgerlichen Kreisen Punkte gesammelt.
Die Regierung Barnier hat eine große Baustelle: Frankreichs Neuverschuldung ist in den vergangenen Jahren geradezu explodiert – für 2024 werden 6,1 Prozent erwartet, was eine überdeutliche Verletzung der 3 Prozent-Hürde der Maastricht-Kriterien bedeutet. Macron hatte die großen Unternehmen und die Reichen des Landes durch Steuergeschenke begünstigt, ohne dass dies positive Auswirkungen auf die Konjunktur gehabt hätte. Die notwenigen Einsparungen, es ist in den Planungen von 60 Milliarden Euro die Rede, sollen nun durch Ausgabenkürzungen und Steuererhöhungen eingetrieben werden. Die Renten sind betroffen, das Gesundheitssystem, das so oder so nicht zu den besten in der EU gehört, wird Einschnitte hinzunehmen müssen, die Zahl der Beamten soll um 2.200 gekürzt werden, 4.000 Stellen im Bildungswesen stehen zur Disposition. Die Armut im Lande wird weiter steigen. Frankreich steht in den internationalen Statistiken bereits heute schlecht da, die Armutserwartung hat ungeahnte Höhen erreicht, was dem rechtsradikalen RN neue Wählerschichten zutreiben wird. Einzig der Militärhaushalt, er hat mit 3,3 Prozent die größte Steigerungsrate für den Haushalt des Jahres 2025, bleibt unangetastet.
Der Präsident hat in den vergangenen Wochen eine Art politischen Entlastungsangriff gestartet. Nachdem er sich noch in der Ukraine-Krise – völlig entgegen der Logik der Außen- politik der V. Republik – als extremer Scharfmacher gegen Russland profiliert hatte, verkündete Macron Anfang Oktober die Einstellung der Waffenlieferungen an die Regierung Netanyahu in Israel. Es sei vorrangig, zu einer politischen Lösung des Konfliktes zu kommen. Waffen zur Verteidigung, so der beschwichtigende Nachsatz, sollten weiter geliefert werden. Was von ihm in seiner verbleibenden Amtszeit noch zu erwarten ist, bleibt – eingedenk der neuen Ko-Präsidentin LePen – abzuwarten.
Ein Wort noch zum NFP: Von diesem Bündnis allein sind derzeit keine großen politischen Umwälzungen zu erwarten – zu heterogen ist es aufgestellt: Der leicht wiedererstarkte Parti Socialiste ist strikt russophob orientiert, das Bündnis konnte sich nicht auf den Abbruch der Waffenlieferungen an die Ukraine einigen, überhaupt blieb das frühere Profil einer Friedenspartei unerfüllt. Die Forderungen der Neuen Volksfront betreffen zentral die Rücknahme einiger sozialer Grausamkeiten der Macronschen Politik seit 2017 sowie Steuererhöhungen für die Superreichen. Das sozialpolitische Profil des NFP ist als antizyklisch-keynesianistisch zu klassifizieren.
Einzig die unberechenbare Protestkultur Frankreichs kann ein wenig Hoffnung machen. Ähnlich der Gelbwestenbewegung aus dem Jahr 2018/19 kann jederzeit eine soziale Bewegung entstehen, die sich bspw. gegen ausbleibende Inflationsausgleiche bei den Renten, gegen Klinikschließungen auf dem Land, gegen die Ausdünnung der Versorgung und Infrastruktur jenseits der großen Agglomerationen (oder in deren Vorstädten) richten kann. Zu erinnern ist daran, dass wir es in unserem Nachbarland mit politischen Richtungsgewerkschaften zu tun haben, die nur schwer mit dem hiesigen sozialdemokratisch dominierten DGB zu vergleichen sind. Die gelben Westen sind in vielen Autos meiner Nachbarn, selbst in Kinderwagen sichtbar, noch griffbereit…