Die israelische Armee habe »Beirut in Flammen« gesetzt. So frohlockte der israelische Außenminister Israel Katz am 21. Oktober auf der Plattform X. Man habe mehr als 15 Gebäude angegriffen, angeblich allesamt Teil der »Finanzstruktur« der Hisbollah. Die Anwohner seien zuvor zur Evakuierung »aufgerufen« worden. Schließlich behauptet die Regierung Netanjahu auch nach über 42.000 vor allem zivilen Toten im Gazastreifen, nach unzähligen in Flüchtlingszelten verbrannten Menschen und einer Aushungerungskampagne, die ihresgleichen sucht, sich ans humanitäre Völkerrecht zu halten. Sekundiert vom deutschen Bundeskanzler Olaf Scholz, der daran »keinen Zweifel hat« und dessen Regierung allein seit August Waffen im Wert von 94 Millionen Euro an Israel bewilligt hat. Und von Außenministerin Annalena Baerbock, die allen Ernstes behauptet, »zivile Orte« verlören ihren Schutzstatus, wenn sich Terroristen dort verschanzten.
Noch während der von Katz bejubelten Angriffe behauptete Armeesprecher Daniel Hagari, unter dem Sahel-Krankenhaus in Beirut seien in einem Bunker Bargeld und Gold der Hisbollah gelagert. Der Leiter des Krankenhauses erklärte seine Bereitschaft, der libanesischen Armee oder »anderen Beobachtern« das Gegenteil zu beweisen, ließ aber zugleich das Krankenhaus vorsorglich evakuieren. Denn Tel Aviv hatte in den vorangegangenen Wochen unzählige Wohnhäuser bombardiert, in oder unter denen angeblich Hisbollah-Waffen versteckt waren. Selbst sechs libanesische Soldaten hat sie inzwischen getötet, angeblich wurde ihr Fahrzeug mit einem der »Partei Gottes« verwechselt. UN-Blauhelmsoldaten wurden beschossen – wahrscheinlich auch mit weißem Phosphor – und verletzt.
Nur einen Tag nach der Evakuierung des Sahel-Krankenhauses griff die israelische Luftwaffe nahe der Universitätsklinik Rafik Hariri, der größten öffentlichen Klinik im Libanon, an. Sie tötete mindestens 18 Menschen, 60 weitere wurden verletzt. Auch am Krankenhaus selbst kam es zu schweren Sachschäden. Nach zahlreichen israelischen Angriffen in den vergangenen Wochen ist die Hariri-Klinik das einzige Krankenhaus in den südlichen Vororten Beiruts, das noch voll in Betrieb ist. Gaza und der dort seit einem Jahr tobende mörderische Feldzug lassen grüßen.
Mindestens 2.600 Menschen hat die israelische Armee im Libanon bereits getötet, rund 12.200 wurden verletzt. 1,2 Millionen sind auf der Flucht, in den öffentlichen Notunterkünften ist längst kein Platz mehr, über 400.000 vertriebene Kinder sind von Krankheiten wie Krätze und Cholera bedroht. Vom Westen bekommen sie wohlfeile Worte und Geld für humanitäre Hilfe, während seine Waffen und politische Rückendeckung für die zerstörerische Politik der Regierung Netanjahu, die mit Bombardierungen in fünf Ländern einen Flächenbrand provoziert, ihnen ihr Leben oder zumindest die Existenz nehmen. Schon vor dem Krieg lebten vier von fünf Libanesen in Armut, der Zedernstaat leidet seit 2019 unter der schwersten Finanz- und Wirtschaftskrise seiner Geschichte. Israel wiederholt die gezielte Zerstörung von Infrastruktur aus dem 33tägigen Krieg von 2006. Das zugrundeliegende Credo hatte der damalige Justizminister Chaim Ramon auf den Punkt gebracht: Im Südlibanon gebe es ausschließlich »Terroristen, die in irgendeiner Weise mit der Hisbollah verbunden sind.«
Allein, in den Augen der libanesischen Mehrheitsbevölkerung ist die Hisbollah eine Befreiungsbewegung. Gegründet zu Beginn der 1980er Jahre war sie es, die den Abzug der israelischen Truppen aus dem Libanon – mit Ausnahme weiterhin besetzter Gebiete wie der Schebaa-Farmen – im Mai 2000 erwirkte. 2006 zwangen ihre Kämpfer Israel erneut, sich zurückzuziehen, ohne seine militärischen Ziele erreicht zu haben. Es war in erster Linie die Hisbollah, die damals die zerstörten Gebiete wieder aufbaute und als »Verteidiger des Libanon« großen Zuspruch unter Angehörigen unterschiedlicher Glaubensgemeinschaften erhielt.
Die »Partei Gottes« hat in den letzten Wochen schwere Verluste erlitten. Israel hat fast ihre gesamte militärische Führungsriege ausgeschaltet und ihren über Konfessions- und Ländergrenzen hochangesehenen Generalsekretär Hasan Nasrallah getötet, nachdem er einer Waffenruhe zugestimmt hatte. Aber besiegt ist sie noch lange nicht. Der stärkste nichtstaatliche bewaffnete Akteur der Welt, dessen Raketen jeden Ort in Israel erreichen können, führt den Beschuss seines Erzfeinds fort, ja, hat ihn sogar deutlich intensiviert. Den Iron Dome, Israels legendäres Abwehrsystem, hat sie im vergangenen Jahr systematisch durchlöchert und kann ihn immer leichter überwinden. Entscheidend aber ist, dass Israels Armee, will man die Hisbollah besiegen, in einen umfassenden Bodenkrieg eintreten muss. Und dort fallen die Kräfteverhältnisse viel weniger zu Gunsten Tel Avivs aus als im Luftkrieg. Seit Wochen versucht das israelische Militär mit vier Militärdivisionen, Ortschaften im Südlibanon einzunehmen. Aber die Hisbollah hält ihr Stand. 70 Offiziere und Soldaten will sie Stand 23.10. bereits getötet und 600 verwundet, 28 Merkava-Panzer und weitere Militärfahrzeuge zerstört haben. Für Israel droht sich das Desaster von 2006 zu wiederholen.
Im Bodenkampf hat Israels Militär bereits im Gazastreifen versagt und keines seiner militärischen Ziele erreicht. Wenige Wochen vor seinem Tod warnte Nasrallah, die israelische Armee werde im Libanon »in die Hölle« gehen. Auch der israelische Generalmajor der Reserve, Yitzhak Brik, mahnt: die Hisbollah sei »hundertmal mächtiger« als die Hamas. Einen Bodenkrieg gegen sie könne Israels Armee, die zu reinen Luftstreitkräften geworden sei und sich zu sehr auf ihrem Mythos der Unbesiegbarkeit ausgeruht habe, nicht gewinnen. Schon gar nicht aber sei man in der Lage, einem Fünffrontenkrieg, der – an der Grenze zum Libanon, zum Gazastreifen, zum Westjordanland, zu Jordanien und zu Syrien – drohe, standzuhalten. Die Regierung riskiere mit ihrer Eskalationspolitik die »Existenz« Israels. Wer es mit der selbst proklamierten Staatsräson ernst meint, sollte auch diese Warnung ernstnehmen und seine Unterstützung der völlig unkalkulierbaren Eskalation Tel Avivs einstellen.