In vielerlei Hinsicht wirken die vergangenen vier Jahre der Präsidentschaft Joe Bidens wie das Intermezzo eines längerfristigen Trends. Wurde Biden noch von linken Kritikern nach seinem Vorwahlsieg gegen den Bernie Sanders ob seines jahrzehntelangen Zentrismus als »Yesterday Man«, als »Mann von gestern« zerrissen, so überraschte seine Regierungszeit mit einer Reihe industrie- und sozialpolitischer Initiativen. Trotz der Unterstützung des progressiven Parteiflügels scheiterten diese jedoch entweder an internem oder externem Widerstand. Gesetze über Infrastruktur- und Klimainvestitionen blockierten die beiden rechten vormaligen Senatoren Sinema und Manchin. Versuche, wohlfahrtsstaatliche Leistungen aus- und Ausbildungsschulden abzubauen, wurden durch das Verfassungsgericht und die republikanische Mehrheit im Repräsentantenhaus erschwert.
Mit dem Ausgang der diesjährigen Wahlen, bei denen die Demokraten nicht nur das Präsidentenamt, sondern auch mindestens den Senat verlieren, wird aber zusehends klar, dass Kamala Harris die wirkliche »Frau von gestern« ist. Und das, obwohl ihre Kandidatur und Kampagne vermeintlich auf Aufbruch und eine neue Zeit ausgerichtet waren. Wie passt dies zusammen?
Bei näherem Hinsehen ergibt sich ein relativ kohärentes Bild, in welchem Harris‘ Wählerkoalition viel mehr jener Hillary Clintons als der Joe Bidens entspricht. Zwar konnten die Demokraten leichte Zugewinne bei der weißen Bevölkerungsgruppe verzeichnen, allerdings büßten sie umso deutlicher bei afroamerikanischen und Latinowählern ein. Ebenso entschieden sich zwar ähnlich viele Wähler mit Studienabschluss für Harris wie für Clinton oder Biden, allerdings verlor sie bei denjenigen ohne Studium deutlich an Boden gegenüber Trump, der bei dieser Gruppe bereits in der Vergangenheit vorne lag. Ähnliche Trends lassen sich bei städtischen (Harris) gegenüber ländlichen (Trump) sowie wohlhabenden (Harris) verglichen mit ärmeren Haushalten (Trump) feststellen. Anstatt das elektorale Bündnis wieder gezielt um die (weiße) Arbeiterklasse zu erweitern, sprachen Harris und ihre Kampagne, deren Leitmotive eine »Economy of Opportunity«, die Bewahrung demokratischer Institutionen und das Recht auf Abtreibung waren, vor allem gut situierte Wähler der Vororte an. Dies sieht man vor allem auch daran, dass zwar fast alle Volksentscheide auf bundesstaatlicher Ebene im Sinne einer Verankerung des Abtreibungsrechts ausgingen, und damit die Grundsatzentscheidung des Obersten Gerichts teilweise ausbalancierten, dieselben Bundesstaaten aber anders als bei den Zwischenwahlen vor zwei Jahren deutliche Stimmengewinne an die Republikaner lieferten.
Insgesamt erinnert alles viel stärker an den »progressiven Neoliberalismus« der Clinton-Obama-Ära mit seinem Dreiklang aus Chancengleichheit, Diversität und Menschenrechtsimperialismus als an eine erneuerte New Deal-Koalition. Damit konnte das Momentum der erstarkenden organisierten Arbeiterklasse, sichtbar in der Zunahme großer Streiks in wichtigen Branchen wie der Automobilindustrie, dem Transportsektor, der Luftfahrt oder im Bildungswesen, nur unzureichend aufgegriffen werden. Besonders vor dem Hintergrund eines sich wieder schließenden Zeitfensters für den Ausbau sozialer und ökologischer Infrastruktur und zusehends wachsender Hürden für linke Wahlerfolge – auch infolge strategischer Fehler und aufkommenden Sektierertums wie bei den Democratic Socialists of America.
Für all dies Kamala Harris verantwortlich zu machen, griffe jedoch zu kurz. Sie war zwar sicherlich eine relativ schwache und inhaltlich blasse Kandidatin, stand dabei aber konsequent für ihre eigene Migrations- und Bildungsbiographie und den damit verbundenen zentralen Teil der US-amerikanischen Erzählung. Zweifelsohne steht sie aber noch mehr für ein Parteiestablishment, welches auch nach Hillary Clintons Niederlage 2016 und Bidens Coup gegen Sanders in den Vorwahlen 2020 im Großen und Ganzen nicht von seiner Linie ablässt, sondern konsequent die entsprechenden Klasseninteressen von Teilen des neuen Finanz- und Technologiekapitals vertritt und versucht, diese mit den hochqualifizierten Dienstleistungsmilieus der Vor- und Innenstädte zu vereinen und mit einer Melange aus Multilateralismus, abgeschwächtem Freihandel und Meritokratie zu amalgamieren. Für eine fortschrittliche Kehrtwende fehlt neben der ideologischen Grundierung einer bröckelnden Basis disparater, sich beständig politisch weiter ausdifferenzierender ethnischer Gruppen auch schlicht und einfach das Personal.
Im Zuge des sich langsam vollziehenden Generationenwechsels weg von Granden wie Joe Biden, Hillary Clinton, Nancy Pelosi oder Jim Clyburn stehen zwar neue Kader bereit. Den authentischen »economic populism« eines Sanders und dessen massentaugliche Ausformung sucht man jedoch trotz Alexandria Ocasio-Cortez und anderer junger linker Abgeordneter (»The Squad«) vergebens. Dabei wäre dies ein wichtiger und gangbarer Weg, wie die Senatskampagnen des Unabhängigen Dan Osborn in Nebraska (2024) oder von John Fetterman in Pennsylvania (2022) andeuten.
Ohne dies scheint die mittelfristige politische Zukunft der USA eher in der von Donald Trump umdefinierten republikanischen Partei (Zölle, Zäune, Zaster) und seines designierten Vize J.D. Vance zu liegen. Und während Aktienindizes steigen und Kryptohändler und Fondsmanager jubilieren ob der Aussicht auf Elon Musk als Chefreformer des öffentlichen Dienstes, schauen Linke pessimistisch den routinemäßigen Neubesetzungen, z. B. der Umweltbehörde EPA oder des National Labor Relations Board entgegen. Aber vielleicht holen sie sich ja neue Motivation bei der kampfstarken Automobilgewerkschaft UAW und ihrem Vorsitzenden Shawn Fain, sodass dieser dann nicht bloß wie sein historischer Vorgänger in den 1950er und 1960er Jahren, Walter Reuther, der »gefährlichste Mann in Detroit«, sondern Hoffnungsträger der ganzen USA wird.