Das Gegenteil von Stabilität und Sicherheit - Keine Stationierung von Mittelstreckenraketen!

Vorabveröffentlichung: Kommentar aus Z 139 (Septemberheft)

09.08.2024
von Özlem Alev Demirel

Am 10. Juli 2024 platzte die sicherheitspolitische Bombe. Eine deutschamerikanische Erklärung verkündete die Stationierung von US-Mittelstreckenwaffen in Deutschland. Schnell wurde von der Rückkehr des Kalten Krieges gesprochen. Doch diese historische Analogie wirkt fast verharmlosend. Denn das heutige kapitalistische Russland ist nicht die Sowjetunion und die heutigen systemimmanenten Spannungen um die Neuaufteilung der Welt sind schärfer und die Waffensysteme komplexer denn je.

Im EU-Wahlkampf ließen sich der Kanzler und die SPD mit dem Slogan ›Frieden sichern‹ plakatieren. Welch eine Lüge: Sowohl der Beschluss, dass die Ukraine auch gegebenenfalls Ziele direkt in Russland angreifen können soll, als auch die jetzt verkündete Stationierung der Mittelstreckenraketen führen nicht zu mehr Sicherheit, Stabilität und letztlich Frieden. Im Gegenteil, sie sind Teil einer Rüstungsspirale und Ausdruck der verhärteten und robust ausgetragenen Konkurrenz von Großmächten, die im schlimmsten Fall in einem großen Krieg enden werden.

Die Stationierung von US-Mittelstreckenraketen ist extrem destabilisierend und sie machen die Länder, in denen sie stationiert sind, zu vorrangigen Angriffszielen. Mit gutem Grund ging die Bevölkerung in den 1980er Jahren mit Massenprotesten gegen die damalige Stationierung von Pershing-II-Atomraketen auf die Straße. Auch heute wären solche Proteste wieder notwendig.

Natürlich hatte die jetzige Stationierungsentscheidung einen langen Vorlauf. Zentral ist aber die 2019 erfolgte Aufkündigung des INF-Vertrags (Intermediate Range Nuclear Forces, INF) durch die Trump-Administration. Der Vertrag aus dem Jahr 1987 verbot Besitz, Bau, Test oder Stationierung landgestützter Kurz- und Mittelstreckensysteme mit einer Reichweite zwischen 500 km und 5.500 km.

Mit der Begründung, dass Russland einen Marschflugkörper (9M729 NATO-Codename SSC-8) mit 2.500 km Reichweite entwickelt und stationiert habe, stiegen die USA im Februar 2019 aus dem Vertrag aus. Die Anschuldigungen der USA sind zumindest umstritten. Russland argumentierte, das infrage stehende System habe eine Reichweite von 480 km und sei deshalb vertragskonform – gleichzeitig bot es Inspektionen an, um die strittigen Fragen auszuräumen, was aber von den USA ebenso ausgeschlagen wurde wie ein später immer wieder angebotenes Moratorium für die Stationierung von Kurz- und Mittelstreckensystemen. Stattdessen begannen die USA umgehend mit der Produktion von Waffensystemen, die unter dem INF-Vertrag noch verboten waren.

Ein nächster wichtiger Schritt der USA war im September 2021 (also noch vor dem Ukrainekrieg) die Aktivierung der europäischen Multi-Domain Task Force (MDTF) mit Sitz in Wiesbaden. Dabei handelt es sich um teilstreitkräfteübergreifende Einheiten, denen genau solche Mittelstreckensysteme zugeordnet sind, die nun auch in Deutschland stationiert werden sollen.

Für viele völlig überraschend kam es dann am 10. Juli 2024 zur besagten deutsch-amerikanischen Erklärung, in der es heißt: »Die Vereinigten Staaten von Amerika werden, beginnend 2026, als Teil der Planung zu deren künftiger dauerhafter Stationierung, zeitweilig weitreichende Waffensysteme ihrer Multi-Domain Task Force in Deutschland stationieren. Diese konventionellen Einheiten werden bei voller Entwicklung SM-6, Tomahawks und derzeit in Entwicklung befindliche hypersonische Waffen umfassen. Diese werden über deutlich größere Reichweite als die derzeitigen landgestützten Systeme in Europa verfügen.«

Per Presseerklärung sollen hier Fakten geschaffen werden, ohne dass es zuvor zu einer parlamentarischen Debatte oder einer anderen ersichtlichen Einbindung des Parlaments gekommen wäre. Allerdings ist auch noch eine Menge unklar: So etwa, wer welche Kosten übernimmt und wie viele Waffensysteme wo stationiert werden sollen. Eindeutig ist aber, dass mit diesen Systemen, insbesondere Tomahawks und Hyperschallwaffen, die eine Reichweite zwischen 2.500 km und 3.000 km haben, Ziele tief im russischen Raum – insbesondere in Moskau – angegriffen werden können. Und einig sind sich nahezu alle Beobachter:innen – egal, ob sie den Schritt positiv oder negativ bewerten – darüber, dass sich damit die strategische Balance grundlegend verändert.

Russlands Reaktion könnte in der flächendeckenden Aufstellung von Waffensystemen entlang der inzwischen 2.500 km langen Grenze zur NATO bestehen. Auch die Reduzierung von Vorwarnzeiten oder der verstärkte Rückgriff auf KI-Systeme könnte erwogen werden – all das erhöht die Gefahr von Fehlwahrnehmungen, die zu »versehentlichen« Eskalationsspiralen führen können.

Die geplanten Systeme sind gegenüber denen der Nachrüstung in den 1980ern trotz nicht-nuklearer Sprengköpfe noch destabilisierender: Sie verfügen über eine hohe Treffergenauigkeit und sind extrem manövrierfähig. Dies macht sie in Kombination mit ihrer hohen Geschwindigkeit – insbesondere die Hyperschallwaffe (Dark Eagle) soll bis zu Mach 17 (~21.000 km/h) erreichen – zu »idealen« Waffen für einen Enthauptungsschlag auf die Moskauer Führungszentralen. Russland wird in seinen Planungen von einem solchen Szenario ausgehen, wodurch Deutschland zu einem zentralen Ziel wird.

Es gehe darum, die Sicherheit der Bevölkerung durch eine »bessere« Abschreckung Russlands zu verbessern, so das Narrativ der Bundesregierung. Tatsächlich nehmen die Eskalationsrisiken durch die geplanten Stationierungen massiv zu. Statt der Stationierung neuer Mittelstreckenraketen und der permanenten Aufrüstung braucht es endlich eine neue Entspannungspolitik, angefangen mit Verhandlungen über ein Ende des Ukraine-Krieges über den Aufbau einer europäischen Sicherheitsarchitektur unter Einbeziehung Russlands bis hin zur Wiederbelebung der Rüstungskontrolle.

Die Maßnahmen der Bundesregierung gehen in die genau entgegengesetzte Richtung. Auch ein Großteil der Bevölkerung teilt diese Einschätzung: Eine Forsa-Umfrage von Mitte Juli 2024 ergab, dass 47 Prozent der Ansicht sind, die Stationierungen würden das Risiko für einen Konflikt mit Russland vergrößern, nur 17 Prozent sehen das anders. Die Aufgabe ist es nun, dieses Potenzial auch auf die Straße zu mobilisieren, damit der Nachrüstung 2.0 eine Protestwelle 2.0 entgegenschlägt.